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Eintönig klappert der Webstuhl in der Gefängniszelle Nr. 147. Vier lange, langsam dahinschleichende Jahre schon! Und noch zweimal so lange Zeit wird er sausen und klappern, bis sich für Walter Kettner die wuchtigen, eisenbeschlagenen Pforten zur Freiheit wieder öffnen! Zwölf Jahre unabsehbarer, ermüdender Arbeit! Fast ein kleines Menschenleben lang! Und kein Entrinnen, nicht ein einziges Mal bis dahin freies, tiefes Aufatmen hoch oben in der frischen Bergnatur der Heimat! Nur ein paar Herzschläge einmal lang! Einst schrankenlose Freiheit, heute eingegittert, wie ein wildes Tier, heute und noch lange hinaus!
Eine tiefe Falte legte sich zwischen die Augen des Burschen, und aufs neue setzt er den Webstuhl in Bewegung. Zwölf Jahre aus einem Leben streichen! Als er die Tat damals getan, da hat er nicht an Folgen noch Freiheitsstrafe gedacht. Ihm war's, als zöge etwas ihm bisher Fremdes, Unbekanntes zu der grausen Tat, ein eiserner Wille, eine unheimliche Kraft, der er sich nicht gewachsen fühlte. Rot wie ein lohender Feuerstrom schoß es plötzlich vor seinen Augen hin, die Hände zuckten, wie von einer Gewalt außer ihm geführt, daß er den Stein heben mußte, um seinen bisherigen Spielkameraden im Busch tot zu schlagen. Warum hatte der ihm denn das Geld gezeigt, das er auf einem Nachbardorf für den Vater eingezogen hatte? Ein paar blinkende Taler! So viel auf einem Flecke hatte er ja noch nie gesehen. Daheim ging's so armselig her, so erbärmlich. Fleisch nie, außer wenn man sich mal auf die Zunge biß. Immer der gleiche Jammer, die alte Not. Und nun das strahlende Gesicht des Jungen, dieses Dicketun, das Spielen mit der Macht, die er in den Händen trug. Da war's geschehen. Sinnlos war's über ihn gekommen.
»Du, Heinz!«
»Na, was hast denn?«
»Ech ha'n Dompfaffnest funne!«
»I gar?! Wu denn?«
»Kumm har, ech will dir's gezieh! Abber's Mul holten, härscht de!«
Da war der dumme Heinz mit in den Haselbusch gekrochen – und dort – da war's geschehen. Nur ein Schlag. Er hat sich nicht mehr geregt. Eigentlich tot hatte er ihn ja nicht schlagen wollen. Nur still machen. Nun war's auch so gut. Tote legen kein Zeugnis ab.
Er hat den Toten noch einmal mit scheuen Blicken angeschaut, und dann ist er aus dem Dickicht geschlichen. Wohin, das weiß er kaum noch. Stundenlang ist er darauf umhergerirrt, bis ihm einfiel, daß daheim Sorge und Not am Herde saßen. Da ist er heimgestürmt und hat das Geld – sieben Taler – der Mutter in den Schoß geworfen, ohne ein Wort zu sagen. Etwas Schreckhaftes schnürte ihm die Kehle zu.
»Walter! Herr jemine! Wu hast's här? Lauter Taler! Großer Gott, am Ende gefunne? Woas?«
Er aber hat nur den Kopf geschüttelt und ist wieder davongestürmt, als jagte jemand hinter ihm her.
Am Abend ist's lebendig auf der Dorfstraße geworden. Suchende Stimmen schwirren durcheinander. Wie ein Lauffeuer schwoll die Nachricht von Haus zu Haus, daß Blödners Heinz verloren gegangen sei. Soviel stehe fest, daß er das Geld im nächsten Dorfe in Empfang genommen habe. Auch sei er noch auf dem Heimweg im Walde gesehen worden. Das war auch die abendliche Unterhaltung bei Kettners, ehe das letzte Licht verlöschte. Walter hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Er wollte von all dem nichts hören.
Im Laufe des nächsten Nachmittags fand man im Busch die Leiche des Erschlagenen. Ein seltsames Gesetz will es, daß Mörder, wie magnetisch angezogen, wieder nach der Stätte ihrer Bluttat zurückkehren. In der Nähe hatte man beim Auffinden auch Walter bemerkt. Ein tiefes Erblassen zog über sein Gesicht, als die Träger mit dem Erschlagenen an ihm vorbeischritten. Und als einer von diesen ihn ansah, da stieß er plötzlich die Worte aus: »Woas willst? Mänst, ech war's gewasen? Nä!«
Dieses Wort und ein Rockknopf, den der Tote noch in der erstarrten Hand hielt, führten den kommenden Morgen zur Verhaftung. In die Enge getrieben, gestand Walter angesichts des vor ihm ruhenden Jugendgenossen alles ein.
Er wurde nach der Landeshauptstadt abgeführt und nach einigen Wochen Untersuchungshaft vor Gericht gestellt. Er entsann sich noch deutlich des einen Wortes, das sein Verteidiger wiederholt gebrauchte. Es wäre ein »pathologischer« Fall, so hatte er die Geschworenen belehrt. Der Mörder hätte willenlos unter dem dämonischen Einfluß fremder Mächte gestanden. Bei seinen dreizehn Jahren mußte das Gesetz Halt vor der Todesstrafe machen. So ward er zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Noch hat er seit jener furchtbaren Stunde zuweilen den Schrei gehört, den seine Mutter ausstieß, ehe sie ohnmächtig zusammenbrach. Dann noch ein letzter Abschied von den Seinigen – und eine neue Welt nahm ihn auf.
Mit der Bahn langte er am nächsten Tag in einer anderen Stadt an; ein Wagen führte ihn zum Gefängnis. Welch ein Schauder, da er vor sich die roten Riesenbauten des Gefängnisses endlich aufsteigen sah. Schwerfällig öffneten sich hohe, eisengepanzerte Tore; über Höfe und endlos lange Korridore ging es hin. Wachen und Wärter überall. Rasseln und Klirren von Schlüsseln und Ketten. Dann steile Eisentreppen empor, die um einen tief gähnenden Schacht sich aufwärts winden. Zelle an Zelle.
Und nun glaubt er angelangt zu sein. Doch er ist erst im Baderaum. Hier muß er sich entkleiden und unter Aufsicht zweier Wärter sich reinigen. Dann heißt's die grauen Strafkleider anlegen. So führt man ihn weiter. Noch ein paar Stockwerke höher. Und nun betritt er seine Zelle, Nr. 147. Er wird die Zahl niemals wieder vergessen. Hinter ihm schließt sich die Tür. Riegel schieben sich vor. Durch ein hochgelegenes, vergittertes Fenster trifft ein schräger Sonnenstrahl das Lager, das an der einen Wand befestigt ist. Allein! Allein! Zwölf lange, seine Jugend auffressende Jahre mit sich und seinem Verzweifeln allein. Wenn er wieder einst frei sein wird, dann ist er ein Mann. Die Jugend ist tot. Sie ist ihm heute schon gestorben. Er bricht auf dem Lager in die Knie und schluchzt laut auf. Dann aber überkommt ihn eine Wut. Er rüttelt an der Tür. Er versucht gegen das Fenster zu schlagen, er tobt und schreit, bis endlich der Wärter mit dem Direktor erscheint, einem ernst aber freundlich dreinschauenden älteren Manne. Doch auch dessen Vorstellungen fruchten nichts. Das freie Blut des Wäldlers begehrt auf.
Das waren bittere Wochen. Da hat er die Strafzelle kennen gelernt. Im Dunkeln hat er da gehaust, im schmalsten Raume. Holz war sein Ruhelager, ein Schrägbrett sein Kopfkissen. – Jeder Sturm läßt nach. Und auch Walter Kenner fügte sich. Man hat ihm die Wahl in der Arbeit überlassen, und so zog er den Webstuhl vor. In der Heimat surrten ja so viele Webstühle. Und immer besser ging ihm die Arbeit von der Hand. Was er über das geforderte Tagespensum schafft, das bekommt er bezahlt. Vier Jahre schon spart er Taler auf Taler. Der Direktor hat ihm einmal bereits eine Summe gesagt, die war schon größer denn jene, um die er den Spielgenossen tot schlug.
Er genießt noch Schulunterricht; um seiner schönen Stimme willen ist er dem Chor der Kirche beigegeben worden. Aber drinnen im Herzen, da ist es bei ihm wie ausgebrannt. Da weint nichts mehr; da sitzt etwas wie dumpfe Wut, die nicht mehr reden darf, die gelernt hat sich zu verbergen, zu verstellen.
Freiheit und Jugend! Wer sie trennt, begeht auch einen Mord. So philosophiert er in seinen einsamen Tagen. Und am tollsten packt es ihn, wenn er in den Freistunden mit den andern drunten spazieren gehen muß. Fünf Meter auseinander, damit keiner mit dem andern spricht. Keiner darf flüstern, was in ihm Tag und Nacht schreit. Und über die hohen Mauern, die den baum- und strauchlosen Garten umschließen, da dringt das Geräusch der Außenwelt herein. Wagenrollen, Hundegebell, Kinderlachen. Als er dies zum ersten Male wieder vernahm, da hat es ihn geschüttelt. Da hat er das nächste Mal nicht wieder mit hinaus wollen. Und mußte doch. Um der Gesundheit willen. Und einmal klang ganz deutlich das Lied eines Leierkastens an sein Ohr. Der Wind trug es wohl herüber. Dasselbe Lied, das einst seine größere Schwester bei der Arbeit sang. Die Schwester, die war nun wohl auch verheiratet. Wer dachte noch an ihn?
Surrrrrr! Der Webstuhl arbeitet. Wieder wandert die Sonne drüben an einer roten, hohen Wand vorbei. Draußen auf dem düsteren Korridor geht der Wärter auf und nieder. In der Tür seiner Zelle ist eine runde Schiebeklappe mit einem feinen Loch. »Spion« haben die Sträflinge das Loch getauft. Da kann man von außen ihn beobachten, ohne daß er es merkt. Nur wenn draußen einer den Schieber bewegt, dann sieht der Gefangene ein Auge auf sich gerichtet. Grausig. So blickte ihn damals der Tote an.
Eines Tages wirbelt Schnee vor dem Zellenfester auf und nieder. Schnee! So ist der Sommer hin?! Nun wird's in seinen Bergen auch weiß ausschauen. Handschlitten sausen die Gassen nieder; man rüstet sich zum Weihnachtsfeste. Surrrrrr!
Unwillkürlich preßt er die Hand aufs Herz. Ich will meine Jugend wieder! So schreit etwas drinnen auf. Gestern war der Herr Direktor mit ein paar Besuchern in seiner Zelle. Da hat er ihn vor allen gelobt, daß er jetzt so vernünftig geworden sei, einer der fleißigsten in der Anstalt. Wenn er dreiviertel seiner Strafzeit abgesessen habe, so wolle er ein Gnadengesuch für ihn einreichen. Der Herr Direktor meint es doch wohl gut mit ihm. Wenn nur die Jugend in ihm schlafen gehen wollte.
Weihnachten steht vor der Tür. Der Wärter hat es ihm gesagt, da er ihm heute ein neues Buch aus der Bibliothek in die Zelle brachte. Heute ist ja Sonntag. Da darf er lesen, darf für Stunden vergessen, in eine andere Welt flüchten.
Nach dem Mittagessen wirft er sich auf sein Lager. Er klappt das Buch auf. »Geschichten aus dem Thüringer Walde«. Und mit einem Male dehnen sich die engen Wände: Wald rauscht über ihm, Quellen gehen in lauschiger Tiefe. Er hört die Vögel singen, Jodler hallen von den Wänden der Waldberge – er ist daheim, daheim!
Mit fiebernden Augen und wild klopfendem Herzen liest er Blatt für Blatt. Eine Weichheit zieht in sein Herz, wie er sie lange nicht gespürt hat. Und wie die Sehnsucht in ihm wächst nach dem Berglande seiner Jugend, so zieht auch ein Hauch von Versöhnung ein. Die Schicht, die mit jedem Jahre höher, dichter um sein Gemüt emporwuchs, beginnt sich zu lösen. Und ein Erkennen kommt über ihn. Ein Erkennen jener unumstößlichen Wahrheit, daß die Menschen das Gesetz zum gegenseitigen Schutze machten, und daß der, der das allgemeine Recht biegen will, sich ihm dann auch zu unterwerfen habe. Daß er zur Sühne das still auf sich nehmen muß, was er selbst verschuldet hat. Zum ersten Male fühlt er ein heimliches, fast scheues Sehnen, wieder gut zu machen, was er einst gefrevelt.
Surrrrrr! Gut machen! Das heißt still halten, nicht mehr Hand und Herz aufbäumen gegen die von Menschen für Menschen eingesetzte Ordnung. In Demut hinnehmen selbstverschuldetes Leid; nicht die es entgelten lassen wollen, die als Hüter und Vollstrecker des Gesetzes eingesetzt sind.
Das Surren des Webstuhles bricht plötzlich ab. Weither durch die Lüfte wird ein schwellender, voller Ton getragen. Kirchenglocken mahnen, rufen. Draußen die freie Welt rüstet sich zur Christmette. Auch daheim stampft man nun bald durch den Schnee empor zu dem kleinen Kirchlein am Bergeshange. Dort hat er stets seinen festen Platz an der Orgel gehabt – da mußte er singen – hell hinaus klang seine Stimme. O, nur noch einmal dort oben stehen, reinen Herzens, entsühnt!
Surrrrrr! Ein paar Gänge hin und her – nein, die Arbeit will zur Stunde nicht vorwärts. Immer wieder drängt sich ihm etwas zwischen die Augen. Er lehnt sich gegen die Wand und lauscht so den sacht verhallenden Klängen. So findet ihn der Direktor, als er unvermutet in die Zelle tritt. Er mag wohl fühlen, was in der Seele des Burschen sich aufringt. Freundlich blickt er ihn an, dann überreicht er ihm einen Brief.
»Hier, Kettner, ein Weihnachtsgruß von zu Hause!«
»Von – daheim?«
»Von der Mutter, Kettner. Die hofft noch immer, daß du als ein Mensch wieder heimkommst, der fortan tüchtig und brav sein wird. Und tüchtig bist du ja, denn du hast was gelernt und darfst dich sehen lassen!«
Der Bursche hat aus dem offenen Umschlag den Brief gezogen. Er überfliegt das Schreiben, denn es ist nicht lang. Er zittert am ganzen Leib.
»Es liegt noch was drin,« sagte der Direktor milde.
Kettner greift hinein und zieht einen kleinen grünen Tannenzweig heraus. Der Odem seiner Heimat weht ihm entgegen. Die Arme sinken ihm herab. Zweifelnd, prüfend schaut er den alten Herrn an. Dann auf einmal bricht es aus ihm heraus: »Herr Direktor, ich –« Er kommt nicht weiter.
»Na, was ist denn?«
»Ich will es werden! Ich will's! ... Nur die Jahre, die Jahre!«
Da reicht der alte Herr dem Burschen die Hand.
»Endlich!« sagt er leise. »Nun wird's auch besser gehen! Schreib deiner Mutter, daß ihr Sohn sich wieder gefunden hat. Und schreib ihr auch, daß ich dahin wirken werde, dich vor der Zeit wieder in die Heimat zurück zu lassen!« – –
Durch die Kirche des Gefängnisses weht heute ein Hauch von jener Botschaft, die auch die härtesten Sünder still macht. Vor dem Altar leuchten von zwei hohen Tannenbäumen funkelnde Lichter, seligen Glanz breitend, halb vergessene Erinnerungen an Tage reiner Jugend wieder weckend. Die Orgel braust. Da und dort ein bitteres, heißes Schluchzen, ein leises Stammeln.
Von der Empore aber hallt jetzt der weihevolle Gesang des Chores. Vornan steht Walter Kettner. Weit, weit scheinen seine Augen in die Ferne zu leuchten. Über alle fort klingt seine volle, schone Stimme, allen, die es hören wollen, jenes Heil verkündend, das sich heute auch dem ärmsten Sünder als Gnadengeschenk vom Himmel senkt.