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Frau Professor Wendelstein saß im tiefen Erker ihres behaglich ausgestatteten Salons. Eine schlanke, vornehme Erscheinung mit reichem, blondem Haar, das sich wie ein im Morgenlichte goldschimmernder Behang um den ausdrucksvollen Kopf legte. Sie stand an jener Altersgrenze, an welcher das späte Mädchen heimlich zu beben beginnt, das Weib sich aber erst zu reichster Blüte entfaltet. Ihre Rechte hielt ein schmales Büchlein, in dem sie leicht blätterte, dann und wann eine Seite überflog, um darauf die klugen grauen Augen hinaus über den Garten zu richten, durch dessen Wipfel der laue Sommerwind heimlich rauschte.
Da ward sie aus ihren Träumen aufgestört. Das Dienstmädchen trat ein, auf kleiner Silberschale eine weiß blinkende Karte überreichend. Frau Professor überflog die Karte. Ein ganz leichter Schrei der Überraschung entfloh ihr unwillkürlich. Dabei schoß eine zarte Blutwelle ihr über das Gesicht. Dann erhob sie sich, warf das Buch auf den Tisch und sagte:
»Ich lasse bitten! Führen Sie den Herrn hier herein. Ich bin gleich wieder da!«
Das Dienstmädchen entfernte sich, während die junge Frau einen Augenblick wie verwirrt stand, dann aber in ein Seitenkabinett huschte.
Gleich darauf trat ein Herr ein. Eine untersetzte Männergestalt mit stark profiliertem Gesicht, bartlos, mit Augen, in denen Klugheit, leichte Ironie wie sinnender Ernst gleichsam durcheinander spielten. Seine Bewegungen, die ganze Haltung hatten etwas leis Abgedämpftes, ein gewisses weltmännisch sich Gehenlassen. Er war einfach und doch elegant gekleidet. Er blieb nahe dem Erker stehen und ließ die Blicke hinaus in die leuchtende Sommerpracht gehen. Dabei fiel sein Auge auf das aufgeklappt hingeworfene Buch. Er neigte sich ein wenig, und dann ging ein eigenes Lächeln über seine Züge, die gewohnt schienen, innere Regungen geschickt zu verbergen. Bald darauf raschelte der Vorhang an der Tür des Seitenkabinetts. Er wandte sich um, eine tiefe Verbeugung, ein Aufleuchten seiner Augen. Und schon war die Hausfrau dicht vor ihm. Beide Hände streckte sie ihm in wenig verhaltener freudiger Erregung entgegen.
»Herr Doktor!? Herr Doktor! Welch eine Freude! Wie lange haben Sie sich nicht bei mir sehen lassen!«
»Sechs Jahre!« erwiderte er. Es sollte gleichgültig lächelnd klingen. Doch seine Stimme verriet mehr, als er wohl eingestehen wollte. Er beugte sich galant nieder und küßte die eine der ihm dargebotenen Hände: »Und Sie? Wie geht es Ihnen?« Er sah sie ruhig fragend an.
»Mir?« Ihre langen Wimpern senkten sich vor seinem Blicke. »Sie werden wohl gehört haben, daß ich vor anderthalb Jahren meinen Mann verlor. Ein hitziges Fieber ... es ging alles so rasch ... kam so plötzlich ...«
»Ich weiß es, verehrte Frau!«
Sie machte mit der Hand eine leichte Bewegung über die Augen hin, als wolle sie damit einen beengenden Schleier beiseite schieben. Dann wandte sie sich im herzlichsten Tone wieder an ihren Besucher:
»Wo aber kommen Sie denn her?«
»Aus Rio de Janeiro!« entgegnete er ruhig.
»Und das sagen Sie so gleichgültig, als handle es sich um eine Spazierfahrt hinüber nach unserer kleinen Hauptstadt?«
»Das Leben weitet sich mit den Jahren, verehrte Frau! Als ich mich einst hier als Kind spielend tollte, da meinte ich, die Welt habe hinter den blauen Bergen dort drüben ein Ende. Nun habe ich sie kennen gelernt. Diese Welt ist so klein! Und die Heimat war mir jede Stunde nahe!«
»Kommen Sie! Seien Sie gemütlich! Setzen Sie sich hier neben mich! So, in den Erker! Mein Lieblingsplatz! Erzählen Sie mir alles. Es interessiert mich jedes!« Sie ließ sich am Fenster nieder, während er nahe dem kleinen Tische Platz nahm.
»Wissen Sie auch, daß es über sieben Jahre her ist, daß Sie mir nicht gegenübersaßen?«
»Ich weiß es!«
»Es hieß damals, daß Sie nach Berlin gegangen seien. Ist dem so? Daß Sie den Staatsdienst hier im Lande quittierten?«
»Ein halbes Jahr vor Ihrer Verheiratung! Es stimmt.«
»Soll ich Ihnen ferner sagen, daß mir damals Ihre Entfernung fast wie eine Flucht erschien? Nicht einmal ein Lebewohl! Wie ein Fremder gingen Sie.«
»Es kam alles so rasch ... entschied sich so plötzlich ... ich habe ja dann auch schriftlich nachgeholt, was ich persönlich versäumt hatte. Auch meinte ich, daß Sie in jener Zeit kaum würden meinen Fortgang bemerken.«
»Herr Doktor!«
»Sie waren verlobt ... standen mitten in den Vorbereitungen für Ihre Hochzeit ...«
»Und Sie waren mein bester Jugendfreund gewesen! Darum eben bin ich nie recht darüber hinweggekommen.« Sie bog sich zum Fenster, und dann deutete sie plötzlich hinaus: »Sehen Sie dort drüben den hohen Baum? Das war der größte Apfelbaum im Garten meiner Eltern, Wissen Sie noch, wie Sie mir immer heimlich die ersten Äpfel herunterholten? Und als ich größer wurde, da bin ich Ihnen nachgeklettert.«
»Und dann saßen wir im grünen Laubdache wie in einer anderen Welt!«
»Spannen Träume, die wir wie Seifenblasen in die blaue Luft flattern ließen ...«
»Träume, die sich nie erfüllen sollten!«
»Aber das Geschick hat Sie doch endlich in die weite, herrliche Welt geführt! Wer kann da mitreden!«
»Das Geschick gibt und nimmt!« entgegnete er ernst. »Meere habe ich durchkreuzt ... Wunder geschaut ... das größte Wunder aber blieb mir versagt!«
»Wie vielen ist es denn vergönnt, es zu schauen?« sprach sie leise.
»Sie durften Ihr Herz verschenken?«
»Ich folgte dem Willen meiner Eltern. Sie haben ja Einblick in den Verlauf unserer Verhältnisse nehmen dürfen. Als der große geschäftliche Schlag meinen Vater traf, da siegte die Liebe in mir. Die Kindesliebe, Herr Doktor! Ich reichte dem die Hand, der um mich so stürmisch warb. Ein anderer war ja nicht gekommen! So habe ich den Lebensabend der Eltern ein wenig vergoldet. Vergoldet sogar im realen Sinne!«
»Und die Liebe? Das große Wunder?« Seine Stimme klang wie aus der Ferne. Wie ein heimliches Weh zitterte es durch sie.
»Das große Wunder? Ich habe einen Mann in die Erde gelegt, dem ich jede Stunde höchste Achtung zollen durfte!«
Eine kleine Pause war eingetreten. Sie hielt ihren Blick still hinaus in den blühenden Sommertag gerichtet, während er wie gelassen mit dem Buche spielte, das sie vor seinem Eintritt in der Hand gehalten hatte. Endlich brach sie das Schweigen.
»Warum Erinnerungen so oft uns verstummen machen! Wir sollten uns doch freuen, daß uns diese Stunde wieder einmal zusammenführte. Wie eng muß Ihnen jetzt alles hier erscheinen!« lachte sie ihn herzlich an. Er nickte.
»Kleinstadtluft! Aber auch Heimatluft! Sie weht doch am weichsten.«
»Werden Sie länger hier bleiben?« fragte sie, um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben.
»Ich habe drei Monate Urlaub, um mich erst einmal von dem Klima drüben zu erholen. Ich komme über Berlin. Was man dort über mich beschließt, steht noch dahin. Wir beim Konsulatdienste müssen uns gefallen lassen, wie die Schachfiguren hin und her geschoben zu werden.«
»Zieht es Sie wieder in die Ferne? Es ist eine Gewissensfrage allerdings.«
»Die zu beantworten leicht und schwer fällt.«
»Ich kann mich nicht hineindenken. Die Ferne behält, mein' ich, immer etwas Lockendes, Verführerisches! Sie bleibt eine Sirene!«
»Und wenn man fast alle Wurzeln daheim nach und nach gelöst hat, die einem noch die Heimat teuer machten ... ich stehe ja allein in der Welt!«
»Und die Jugendfreundin?« Ein warmer, gütiger Strahl ging von ihrem Antlitz zu ihm hinüber. Ein eigener Glanz, vor dem er unwillkürlich die Augen schloß. Dann aber sah er groß und offen auf. Er reichte ihr die Hand und sagte.
»Haben Sie herzlichen Dank! Man wird so vergeßlich!« Es sollte humoristisch klingen. Doch der Ausdruck seines Gesichts strafte ihn selbst Lügen. Dann aber hatte er sich wiedergefunden. Im leichten Plaudertone fuhr er fort: »Ich sehe hier mit Vergnügen einen Bekannten wieder!« Er deutete auf das Buch.
»Sie kennen das Liederbuch?«
»Das Werkchen wie den Verfasser!« lächelte er.
»Ach, das ist ja interessant! Er hat Geist, dieser Herr Hans Fehlschlag. Aber noch höher steht mir seine Gemütswärme. Es sind Lieder darin, die mich immer wieder tief erregen.«
»Als sein Freund darf ich wohl in seinem Namen für diese ehrliche Anerkennung Dank sagen?«
»Da müssen Sie mir noch mehr erzählen! Bitte, bitte!«
»Ich lernte ihn bei der Überfahrt vor sechs Jahren kennen. Wir schlossen auf dem Schiffe rasch uns aneinander. Trotz seiner Schrullen war er doch ein brauchbarer Kamerad. Er hatte Unglück in der Liebe gehabt. Das gibt Kitt!«
»Wenn man selbst Schiffbruch darin erlitt! Nicht?«
»Eigentlich wahr! Doch es machte sich auch ohne dieses Zugeständnis.«
»Ein echter Diplomat!«
»Übrigens ist dies gar nicht sein wahrer Name, möchte ich noch einfügen. Die Liebe hatte ihn wohl betrogen, da sah er düster drein. Sein ganzes Leben erschien ihm wie ein Fehlschlug. So nahm er diesen Namen an. Ganz poetisch, was?«
»Erzählen Sie nur weiter! Mehr von ihm! Durch seine Lieder ist er mir ja längst kein Fremder mehr!«
»Gott, eine furchtbar einfache Geschichte! Wie so viele verlaufen! Nur daß nicht jeder gleich seine Schmerzen in Liedern aushaucht! Er erzählte sie mir in einer wundersamen Sternennacht hoch auf dem Atlantischen Ozean. Dieser Umstand mag mich wohl damals bestrickt haben, daß ich mitempfand, als ob mir selbst dies alles über den Weg gelaufen wäre.«
»Weiter, weiter!«
»Sieh, sieh! Was solch ein Dichter doch Gewalt über Frauenseelen gewinnt!«
»Sie sind grausam! Fahren Sie fort!«
»Sie werden bitter enttäuscht sein, verehrte Frau! Sicherlich!«
»Auf diese Weise kommen wir aber nicht weiter. Man merkt, daß Sie der Diplomatie Ihre schwarze Seele verschrieben. Worte, Worte, und damit weiß man den anderen künstlich hinzuhalten.«
»Ich will Sie nicht unmutig sehen. Hören Sie denn. Und weil Sie mich der vielen Worte anklagen, so will ich es kurz machen.«
»So gefallen Sie mir!«
»Dieser Hans Fehlschlag teilt in mancher Beziehung mein Los. Jedenfalls ging er auch über das Wasser, weil es ihm in der Heimat zu eng ward. Mit einem Nachbarkinde war er zusammen in einer Kleinstadt aufgewachsen. Einem Mädchen! Er gab etwas von seiner Jungenhaftigkeit hin, sie opferte ein Stückchen Mädchentum. So gingen ihre jungen Seelen Hand in Hand. Er holte ihr die Äpfel von den Bäumen und nicht nur in dem elterlichen Garten!«
»Ganz wie bei uns!«
»So ist es! Ganz wie bei uns! Er half ihr bei den Schularbeiten, besonders im Rechnen, das ihre starke Seite nicht war.«
»So machten wir es ja auch! Ist das seltsam!«
»Nicht? Es mag wohl oft im Leben vorkommen!« »Und dann wurden sie größer ...«
»So ist es! Unterschiedslinien des Geschlechts begannen sich zwischen beiden bemerkbar zu machen. Sie ward eine Dame, da er noch immer als ein sogenannter dummer Junge einherging. Das geräuschvolle Leben des elterlichen Hauses nahm sie mehr und mehr gefangen. Er kam von der Schule und bezog eine Universität. Er hatte sich mit heißem Herzen ein Ziel gesetzt, er trug ein Ideal im Herzen. Und dieses zeigte die lieben Züge seiner Jugendgenossin. Kehrte er in den Ferien heim, so sahen sie sich wohl ab und zu. Doch zu einer engeren Aussprache kam es nicht mehr. Er war ja der Sohn minderbegüterter Eltern, und sie schritt in diesen Jahren wie eine Königin in Pracht und Schönheit einher. Hoffte er wohl? Er tat es. Er vermeinte, daß er sie sich doch noch erringen könne. Jeder neue Schritt vorwärts ließ ihn sein hohes Ziel auch näher erscheinen. Das war sehr simpel gedacht! Nicht wahr, verehrte Frau?«
»Was fragen Sie mich dies?«
»Weil ... nun, weil Sie so starkes Interesse für meinen Freund vorhin bezeugten.«
»Weiter, weiter!«
»Und weiter? Nun ja, jede Geschichte muß ja auch logischerweise einen Schluß haben! Hans Fehlschlag, wir wollen an diesem Namen festhalten, stand mitten im Assessorexamen, da traf ihn die Nachricht, daß das Elternhaus des Mädchens einen schweren geschäftlichen Verlust erlitten hatte, daß das Schlimmste zu erwarten sei. Es hat ihm damals das Herz zusammengekrampft, daß er nicht helfen konnte, rat- und tatenlos beiseite stehen mußte. Jetzt aber das Mädchen zur Mitwisserin seines Herzensgeheimnisses zu machen, das erschien ihm so ungeheuerlich, daß er noch tiefer in sich verschloß, was sein ganzes Wesen füllte. So schwieg er und bestand sein Examen. Er ward sogar ausgezeichnet. Der Minister deutete ihm gelegentlich eines Balles an, daß seine Zukunft im Lande gesichert wäre. Und er ließ dieses Land ... seine Heimat!«
»O mein Gott!«
»An jenem Tage, da er erfuhr, daß sie sich einem anderen mit Hand und ... Herz versprochen hatte, da stand sein Entschluß fest. Er hat ihr nie den wahren Grund gestanden. Es hätte doch keinen Zweck mehr gehabt. Sie sollte in Frieden ihr Glück genießen!«
»Ihr Glück!« Wie ein Hauch glitten ihr die Worte von den Lippen.
»Er war feige genug, nicht persönlich Abschied von ihr zu nehmen. Er tat es schriftlich. Vielleicht hätte er sich auch verraten. Und das durfte doch nicht sein!«
»Es war zu spät!«
»Er ging nach Berlin. Dort trat er beim Konsulat ein. Harte Arbeit folgte. Dann sandte man ihn über das Meer. Die Ferne sollte ihm Vergessen bringen. Und als auch diese nicht Wort hielt, als inmitten aller Pracht des Südens, im Rausche glänzender Feste und schöner Frauen das Bild der Heimat, das Bild seiner ersten Liebe nicht weichen wollte, da ward er zum Dichter. Er dachte wie Goethe. Im Liede wollte er sich frei von dem machen, was seine Seele noch immer quälte und beengte. So entstand dieses Buch. Was seine Lippen ihr nie gestanden, hier im Liede fand er den Mut, ihr alles zu sagen. Unter fremdem Namen ließ er seine Lieder nach Europa ziehen. Und sie haben auch bei ihr Eingang gefunden. Lieb sind sie ihr geworden, weil eine Seele zu ihr spricht, die wie ein Echo aus der Jugendzeit an ihr Herz rührt.« »Aus der Jugendzeit!«
»Als er eines Tages las, daß sie den Mann verloren, daß sie wieder frei sei, da litt es ihn nicht mehr lange unter fremder Sonne. Als seine Zeit abgelaufen war, machte er sich auf und kehrte zurück, noch immer im dummen Herzen schmerzliches Sehnen, bebende Hoffnung.«
Ein leises Schluchzen drang durch die Stille. Keiner sprach ein Wort. Dann fuhr er leiser fort:
»Und nun bin ich wieder hier! Drüben reckt noch der alte Apfelbaum seine Wipfel in die blaue Luft wie damals, da wir in seinen Zweigen saßen und uns Märchen erzählten und Träume spannen. Über uns beide ist das Schicksal grausam hingerauscht. Es nahm und gab. Aber es hat doch nicht die Erinnerungen an eine reine Jugendzeit in uns ertöten können. Diese hat uns niemand rauben können.«
»Niemand, Ernst!«
»Und bei dieser Jugendzeit, da ... da laß mich anklopfen. Wir sind beide einsam geworden. Wir werden nicht mehr in den Apfelbaum steigen. Aber unter seinem Schatten können wir wieder jener Tage gemeinsam gedenken, die noch ohne Kampf und Fehle waren. Über die Meere hat's mich heimgetrieben. Soll ich wieder umkehren? Sag du's mir, Lucie! Soll ich?«
»Bleiben sollst du und der Heimat Treue wahren!«
»Der Heimat und dir!«
Und er zog das zitternde Weib an seine Brust.