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Die Tinte in dem Federhalter des jungen Oberförsters Bendler war längst eingetrocknet, als dieser sich endlich aus seinem Sinnen emporriß, den Halter auf das Schreibzeug warf, den Deckel des letzteren schloß und darauf die Schreibmappe zuklappte. Bei diesem Geräusch hob der braune Jagdhund, der unweit des Tisches auf der Diele lag, den Kopf, blinzelte mit den klugen Augen zu seinem Herrn empor und pochte lebhaft mit dem Schwanze, als wollte er freudig sagen: Gott sei Dank! Endlich ist er mit dem verdammten Schreibwerk fertig! Und nun geht's hinaus in den Bergwald! So erhob er sich, gähnte herzhaft, schüttelte sich und blickte auffordernd zum Gebieter hinüber.
Über diesen aber schien ein neues Sinnen gekommen zu sein. Und dann plötzlich schloß er schnell ein Schubfach auf, riß die Hülle von einem eingerahmten Bildchen und bohrte dann gleichsam seine Augen in das Antlitz eines blühenden, jungen Weibes, das so schalkhaft und lebensfroh ihn anschaute. Da zuckte es über das Gesicht des Mannes. Er drückte heiß seinen Mund auf das Bild und barg es darauf wieder im Pultfache. Und nun stand er auf. Büchse und Krimstecher umgehängt, den Rock fest zugeknöpft, Hut auf, ein Lockruf dem Hunde, der freudig aufkläffte – dann standen beide draußen.
Die Oberförsterei lag kaum einen Büchsenschuß oberhalb des Dorfes auf einer sanften Hügelwelle. Schaute man talab, so blickte man über die Dorfhütten hinweg hinaus ins offene Land, durch dessen Felderstreifen sich die Eisenbahn hinschlängelte, mit einem Seitenarm auch das untere Dorf berührend. Hinter der Oberförsterei setzte bald ansteigender Bergwald nach Westen hin an, und dann drängten sich Berge an Berge, immer höher zum Gebirgskamm sich hebend. Die Sonne stand tief über der Höhenkette in der Ferne. Dort drüben erglänzte noch alles im weißen Hermelinschmucke des Winters, während in den Vorbergen die Sonne tagsüber bereits still und heimlich an die Arbeit gegangen war, zu lösen, zu befreien. In violettem Dufte schimmerten die Blatthülsen der Buchen; die Wiesen zeigten wieder ihr grünes Kleid, und in den Haselsträuchern begann bereits das erste sanfte Läuten. Nur die Bachläufe hielten noch ihre Eisdecke fest. Aber lauter denn sonst scholl doch schon verdecktes Rauschen ans Ohr. Wie großes, heiliges Ahnen ging es durch die Natur.
Um diese Stunde pflegte der Oberförster regelmäßig seinen Abendgang in den Bergwald zu unternehmen. So hatte er es gehalten, als er vor ungefähr zwei Jahren hier als frisch ernannter Oberförster einzog und auch dann weiter, nachdem ein junges Weib lachend und neugierig auslugenden Blickes hier in dem einsamen Heim an seiner Seite Einzug hielt. Über der Haustür hatte ein Kranz mit der Inschrift »Willkommen!« geprangt; zwei stattliche Tannenbäume zu Seiten, das ganze Haus von unten bis oben duftend nach waldfrischem Tannengrün. Und da hinein hatte er sie stolz und selig zugleich geführt, und sie hatte in seinem Arm, an seiner Brust gelegen wie ein gefangenes liebes Vögelein und hatte drinnen in der Stube ihn aus halbgeschlossenen Augen glücklich angeblickt und leise, heimlich-scheu ihm zugezwitschert: »Ist das schön hier! Hier bleiben wir immer, Rudolf!«
Ehe der Oberförster droben in den Hochwald eintrat, wandte er sich noch einmal um und schaute auf sein Haus zurück, das einst so viel Glück und Sonne umfangen hatte und aus dessen Winkeln und Ecken ihm nun schien überall Trauer und Sehnsucht anzustarren.
Wer trug die Schuld, daß alles dahingehen mußte, zwei Menschen sich trennen sollten, die sich fürs Leben eingeschworen hatten in Treue und Liebe? Er sah empor zu den leis schwankenden Wipfeln. Der Abendwind ging durch sie hin, und was sie ihm rauschten, war nur ein Murmeln, eine bebende Rede von Schuld und Sühne, Anklage und Verzeihen. Aber das Rauschen schien ihm heute so wundersam zu wachsen. Erst floß es nicht nur über ihn durch die Kronen dahin, auch aus den Gründen und Bergfalten begann es ganz heimlich zu tönen, wie von fernen, sacht sich lösenden Silberstimmen, wie ein Erwachen, wie ein Aufbrechen nach langer, banger Trauerzeit. Er meinte das feine Lachen und Kichern seines Weibes zu vernehmen. Und dann war es ihm wieder, als schlüge verhaltenes Weinen an sein Ohr. Unruhe, Angst, ein sich sehnender Jubel, alles mischte sich zusammen und ließ seine Brust unruhig wogen.
»Die Quellen brechen!« murmelte der einsame Mann. »Aber auch drinnen im Herzen schreit etwas nach Erlösung aus Not und Pein!«
Er war auf eine freie Kuppe vorgetreten und blickte nun hinüber in den verglimmenden Abend. Ein weicher, lösender Wind rührte ihn an. Wie aus Millionen Poren rang sich wieder das süße Geheimnis nahenden Frühlings aus dem Schoße der Mutter Erde. Und es schüttelte den Mann droben.
Wer trug die Schuld? Seine Gedanken begannen zu wandern.
Vor drei Jahren zur Winterszeit war's gewesen, in Eisenach, auf einem Balle der ersten Gesellschaft. Ihn hatte die Sehnsucht einmal wieder nach der alten Lutherstadt getrieben, in der er einst als ein Lernender so manch lustiges Jahr verlebt hatte. Und dort in dem glänzenden, lichtüberfluteten Saale war sie ihm zum ersten Male entgegengetreten, die stillen, klugen Augen weit und leuchtend auf ihn gerichtet, voll Grazie, Duft und schalkhafter Lebensfreude. Da hatte er gemeint, alles Licht, alle Wärme und Schönheit, die der Festsaal bisher ihm spiegelte, habe sich nun in diesen kindlich-fragenden, wundersamen Augen gefangen, daß er nur immer noch diese anschauen mußte. Als habe sich plötzlich vor ihm eine seltsame Blume erschlossen, taufrisch, voll Sonne, glückgebend und glückheischend. Und er müsse nun diese Blume pflücken und in sein Haus tragen, damit es fortan hell und lichtfroh werde.
Er sah nur noch sie und hörte nur noch ihre Stimme diesen Abend, und der schmucke, blonde Forstassessor hatte auch ihr Herz im Sturm gefangen. Sie war aus Berlin zu Besuch hier und dachte in einigen Tagen wieder abzureisen.
»Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen?« hatte sie ihn angelacht. »Er sitzt nebenan und vertrinkt seinen Kummer in Rotspon. Die armen Ballväter!« Da war denn für den Nachmittag ein »Katerbummel« nach der Wartburg verabredet worden. Mondschein breitete sich verwirrend über den tief verschneiten Waldbergen. Er hatte ihr, der Glätte wegen, beim Abstieg von der Feste den Arm geboten. Beide bildeten das letzte Paar des kleinen Zuges. Noch ehe man Eisenach in der Tiefe erreicht hatte, da ruhten Hände und Augen warm ineinander, da fanden sich die Lippen zum Geständnis und zum ersten Kusse. Noch an demselben Abend beichtete Gabriele ihr Herzensgeheimnis dem Vater, und am nächsten Vormittage hielt Rudolf Bendler feierlichst um ihre Hand an. Als eine Braut kehrte Gabriele bald darauf nach Berlin zurück. Schon der nächste Frühling sah sie dann als junge Frau Oberförsterin Einzug droben im Forsthause am Walde halten.
»Wie im Sturm kam alles!« sprach der einsame Mann auf dem Berge und blickte traurig über die wogenden Wälder fort. »Und im Sturm ging denn auch alles wieder dahin ... Frieden und Glück!«
Mit Entzücken und lebhafter Neugier hatte die junge Frau alles in ihrem neuen Wirkungskreise aufgenommen. Das Aufrauschen des frischen Morgens, das Kommen und Gehen in Haus und Hof, das Treiben in den Ställen, am Brunnen, der prächtige Wald, in den sie gar oft ihren Mann begleitete auf nicht zu langen Wanderungen, der reine Sternenhimmel, wenn vom Walde her der Ruf des Käuzchens scholl oder aus der Dorfschenke halbverweht Tanzmusik heraufklang: alles war so neu, so ganz 'was anderes, so eigenartig, daß sie gar oft ihrem Mann um den Hals fiel und ihm zärtlich zuraunte: »Hätt' ich's mir denn besser wünschen können? Wo liegt Berlin? Ich glaub', Rudolf, das hab' ich bereits ganz und gar vergessen!«
Flitterwochen! Rauschtrunk liebeheißer Seelen!
Leise, ganz leise begann sich in ihr ein Umschwung vorzubereiten. Zwar suchte sie jeden Ansturm noch abzuschütteln, schließlich aber erlag sie doch den lockenden Bildern. Aus der Einsamkeit sehnte sich ihre Seele immer stärker nach Wechsel der Eindrücke, nach flutendem Leben, bunt sich drängenden Bildern. Wie eine leuchtende Fata Morgana tat sich Berlin wieder auf vor ihr; mit tausend Stimmen schien es zu rufen, mit tausend Armen nach ihr zu greifen. Und nun immer hier fern aller rauschenden Lust, andauernder Geselligkeit die Jahre kommen und gehen zu sehen?! War denn ein Nebelschleier über den frischen Bergwald gefallen? Ihre Seele begann zu suchen; mächtiger wuchs die Sehnsucht. Wie selten sah sie doch eigentlich ihren Mann! Oft dann kam er todmüde, verärgert nach Hause. Pfarrers im Dorfe waren ja gute Menschen, aber so einfach wie die Frauen von den Kollegen ihres Mannes. An einen innigeren Anschluß war für sie nicht zu denken.
Was blieb ihr denn da noch übrig? Hühnerzucht, nach dem Rechten in den Ställen sehen, der Gemüsegarten, die Milchkammer, Backen, Schweinschlachten und andere schöne Dinge. Und daß sie es dann ihrem Mann nicht recht machte, das hatte sie längst empfunden. Erst hatte er sie damit geneckt, dann begann er sanft zu rügen, ernste Vorstellungen über den Rückgang der Wirtschaft folgten, und endlich hatte er noch eine zweite Magd angenommen, sie zu entlasten, wie er schonend sich ausgedrückt hatte.
Da war sie still und stiller geworden. Ihr Lachen und Trillern versiegte, das lichte Rot ihrer Wangen verblaßte langsam. Wenn er aus dem Walde oder aus der Kreisstadt heimkehrte, fand er sie verweint, wortkarg, abgewandt. Ein heimlicher Riß bereitete sich vor.
Einmal war Holzauktion im Walde. Vergeblich hatte Gabriele auf ihn zum Mittagbrot gewartet. Zum Kaffee hatte sich ein Forstreferendar aus der Stadt eingefunden. Da dröhnten plötzlich die komischen Töne einer wandernden böhmischen Musikkapelle durch die Stille. Erst lachte man sich nur an. Dann aber brach bei beiden die Jugendlust durch. Draußen auf dem Hausflur drehte man sich lachend im Walzer. So traf der Oberförster den Gast und seine Frau.
Als sie sich dann abends allein beide gegenüberstanden, da kam's zur Aussprache. Er tadelte sie scharf, daß sie so manches in der Wirtschaft vernachlässige, daß sie eine andere geworden sei. Sie aber begehrte in blindem Unmute auf:
»Sag's doch ehrlich heraus: du bist eifersüchtig gewesen?!«
Ein eigentümliches Lächeln war seine ganze Antwort. Das erbitterte sie noch mehr.
»Daß ich wie eine fremde Pflanze hier ohne Licht und Luft dahingehe, das freilich siehst du nicht. Da wär's wohl am besten gewesen ...« Sie vollendete nicht. »Nun: Was? Daß du vielleicht lieber nicht hierher gekommen wärst? Ich bin kein Egoist. Ich halte dich nicht!« Das Wort war heraus. Die ganze Nacht hatte sie gehofft, daß er am nächsten Morgen es zurücknehmen würde. Doch mit stummem Gruß ging er in den Wald. Als er heimkehrte – war sie verschwunden. Ein kurzer Brief sagte ihm, daß sie zu ihren Eltern nach Berlin gereist sei. Das lag nun über vier Monate zurück.
Trug er wirklich nicht ein gut Teil Schuld. Hatte er nicht das blutjunge, verwöhnte Weib zu sehr der Einsamkeit überlassen? Anforderungen an sie gestellt, die zuerst doch langsam gelernt werden mußten? Er seufzte tief auf. Wie eine Binde löste es sich ihm plötzlich von den Augen. Eine Amsel schlug weich und melodisch an. In der Abendstille hörte er lauter, tiefer der aufbrechenden Quellen jauchzenden Sang. Da kam es über ihn. Er stürzte nach Hause und mit bebendem Herzen warb er aufs neue um den Sonnenschein seines still und dunkel gewordenen Heims. – – – – –
Zwei Tage tödlichen Wartens. Kein Brief, kein Telegramm. Und heute war beider Hochzeitstag. Wieder senkt sich die Sonne hinter fernen Höhen. Ihn hält's nicht mehr im Hause. Als müsse das Dach über ihn zusammenbrechen. Er schlägt den gewohnten Abendgang ein. Sein Hund mit ihm. Wieder steht er droben über der niederfallenden Bergmatte, verdüstert, tief traurig. Da stößt der Hund einen Freudenlaut aus und eilt in mächtigen Sätzen abwärts. Dem Oberförster ist's, als beginnen Wald und Berge zu schwanken.
Dort unten ... im lichten Gewande ... da steht sein Weib und lacht ihn an und winkt. Ein Schrei aus tiefster Mannesbrust! Dann stürmt er nieder. »Fang mich!« ruft sie lachend und eilt ihm voran. Und während die Abendvögel im Walde lärmen, heller auch die Bäche rauschen, da erjagt er noch einmal das Glück seines Lebens. Und endlich hält er es im Arm. Atemlos, überselig schauen sich beide an, als könnten sie es noch immer nicht fassen, was ihnen aufs neue geschenkt ward. Dann schreiten sie eng aneinander geschmiegt, Arm in Arm, heim.
»Meine Sachen,« flüstert sie, »sind noch auf dem Bahnhofe. Ich bin hierher geflohen ... ich wußte ja, du mußtest kommen ... mich wieder für dich einfangen!«
»Gabriele! O, du ... du!«
»Und wie lange hast du mich warten lassen, ehe ich wiederkommen durfte! Am liebsten wär' ich damals gleich am anderen Tage umgekehrt!«
Da stehen sie vor dem Forsthause. Er reißt die Tür auf. Dann hebt er sein Weib hoch und trägt es auf den Armen hinein.
»Nun lasse ich dich nimmer wieder!« stammelt er. »Anders soll's werden, Gabriele.«
»Und ich gehe mit dir bis ans Lebensende!«
»Weißt du, was heute ist?«
»Unser Hochzeitstag!« antwortet sie leuchtenden Auges und birgt dann bebend und errötend ihr blondes Haupt an seiner starken Brust.