Wenn die Sonne sinkt
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Das rote Tuch.

(Eine Kindergeschichte.)

Selbst das geringfügigste Ding hat schließlich seine Geschichte. Auch wenn es nur ein kleines rotes Tuch ist. Auch wenn es nur im Leben eines Kindes eine Rolle spielte, nur eine Kindergeschichte ist. Es ist Sommerzeit und um die Mittagstunde. Soeben setzt die erste Fabrikdampfpfeife zum Verkünden der einstündigen Arbeitspause ein; gleich darauf fallen schrill aufheulend die Pfeifen der übrigen Fabriken des kleinen Bergstädtchens ein. Vom Kirchturm, Rathaus, Stadttor und Schloß schlagen die Uhren durcheinander und dann beginnt das Mittagsgeläut der Glocken.

Da trippelt ein kleiner blonder Mann – vier Jahre mag er wohl ungefähr zählen – durch den Vorgarten zum Wohnhause des Amtsrichters Wehnert, der Bube, das einzige Kind des Nachbars Dr. Falke. Seine Eltern sind beide heute einmal zur nahen Hauptstadt gefahren und haben bei der befreundeten Nachbarsfamilie ihren Jungen bis zum Abend als Gast angemeldet.

Frau Amtsrichter empfängt den kleinen Burschen bereits an der Haustür.

»Na, Hans, da bist du ja! Das ist aber schön von dir!«

»Tante, heut' darf ich aber lange bei dir bleiben! Vater und Mutter haben's erlaubt.«

»So, so! Na, wir werden uns schon vertragen! Gelt?«

Der Junge nickt ganz ernsthaft, als wollte er damit sagen: »Wenn du nicht zuerst zu zanken anfängst!«

»Was hast du denn da eingewickelt, Hans?«

»Das da?« Der Junge öffnet das kleine Paket. »Das ist mein Löffel, Messer und Gabel! Tante, du dachtest wohl, ich esse alles noch mit dem Löffel? Nein, schon lange nicht mehr!« Er deutet auf die in das Silber eingegrabenen verschlungenen zwei Buchstaben. »Siehst du, hier steht auch mein Name: Hans Falke. Hier, was so 'rum geht, was so länger ist, heißt Falke. Kannst du's auch lesen?« »Ei gewiß, Junge! Das haben wir selbst dir ja zur Taufe geschenkt!«

»Ihr?« Der Kleine guckt erst die junge Frau groß an, dann blickt er auf sein Silberzeug. In seinem Gesichte steht deutlich geschrieben, daß er es von heute ab noch lieber haben wird.

»Na, dann laß dir's nur recht gut heut' bei uns schmecken, Hans!«

»Was mir schmeckt, ess' ich, was mir nicht schmeckt, spuck' ich wieder aus!«

»Aber Hans!«

»Na ja! Ich kann doch nicht anders?! Siehst du, Tante, neulich war ich bei Karl Meißner eingeladen ... da mußte ich am Abend Salat essen ... der hat mir zwar nicht geschmeckt, aber ich hab' ihn mir doch 'reingezwingt ... und dann bin ich die Nacht krank geworden ... ganz krank. Und da hat Mutterchen gesagt, wenn mir was nicht schmeckt, soll ich's lieber stehen lassen. Siehst du, Tante: wenn ich's aber schon im Munde habe, da ... da muß ich's dann doch wieder ausspucken! Nicht?«

Die Frau Amtsrichter hat ihren kleinen Gast an der Hand in die Wohnstube geführt, wo bereits der gedeckte Tisch wartet.

»So, Hans! Hier ist dein Platz. Onkel kommt auch gleich. Ich will bloß nochmal in der Küche nachsehen.« Sie wendete sich zur Tür.

»Du, Tante!« ruft der Junge ihr nach und sein Gesicht leuchtet hell wie in einer inneren Offenbarung, »weißt du, Tante, Schokoladensuppe ess' ich immer! Immer, Tante!«

»So, so! Na, ein andermal!« – – – – –

Schokoladensuppe hat's zu diesem Mittagsmahl nicht gegeben, trotzdem hat Hans Falke tapfer seinen Mann gestellt, und als man sich endlich vom Tische erhob, zeigte sein rundes, liebes Gesicht einen Ausdruck vollendetster Befriedigung.

Den Nachmittag jagte er im Garten umher, und als er endlich ein wenig müde ward, da kam er in die Laube gesprungen, in welcher Frau Amtsrichter mit einer Handarbeit beschäftigt saß.

»Tante, nun erzähl mir was! Ach, bitte, bitte! Ich sitz' auch ganz still!«

»Vom Schneewittchen? Aschenputtel?«

»Nein, nein! 'mal so 'was von großen Rittern ... die auf schönen Pferden sitzen ... ach, du weißt ja schon, was ich meine, Tante!«

Und die junge Frau beginnt zu erzählen, und wenn sie 'mal den Blick hebt, dann sieht sie in zwei mächtig große, sie gespannt und starr anblickende Jungenaugen. Vom lustigen Turnier und Burgzauber geht die Rede. Da reiten die Ritter herein mit geschlossenem Helm und rennen und stechen aufeinander los. Oben aber auf dem Balkon sitzen die schönen Frauen und loben jeden Ritter, der den Gegner in den Sand warf. Purpurne Decken hängen da gar köstlich herab ...

»Tante, was ist purpurn?«

»Purpur? Hans, das sind feurig rotglänzende Decken und Tücher.«

»Hm, hm! Na, weiter!«

Gegen Abend kommen die Eltern und holen ihren Erbprinzen von den Nachbarsleuten wieder ab. Die ganze Nacht träumt Hans von Rittern und schönen Frauen.

Am anderen Vormittage schlich Hans prüfend und abwartend um die Dienstmagd in der Küche herum. Die stand mit aufgerafftem Kleide vor dem Waschfasse, so daß der rote Unterrock im breiten Streifen sichtbar ward. »Du! ... Minna! ... Ziehst du den roten Rock heute nicht aus?«

»Nein! Warum denn? Gefällt er dir nicht?« »Sehr! ... Hm! Also nicht! Das ist schade!« Hans schritt aus der Küche, blieb ein Weilchen im Treppenflur nachdenklich stehen und dann stieg er zu einer Bodenkammer empor, in welcher seine Mutter einige Kisten und Kasten mit Flicklappen und sonsterlei Stoffresten aufbewahrte.

Es mochte wohl eine halbe Stunde verflossen sein, da stürmte er die Treppe herab, riß die Stubentür auf, und ein kleines rotes Tuch in der Hand schwingend, trat er leuchtenden Auges vor seine am Nähtisch sitzende Mutter.

»Mutterchen, schenk mir das rote Tuch! Bitte, bitte!« »Meinetwegen! Aber wozu willst du's denn?« »Ach, das brauche ich sehr, sehr nötig!« Und damit rannte er wieder zum Zimmer hinaus.

Geheimnisvolles bereitete sich im Hause vor. Als Frau Dr. Falke nachmittags wieder an ihrem gewohnten Fensterplatz in der Wohnstube saß, tauchte Hans auf. Er stellte einige Stühle im weiten Kreise auf und auf jeden Stuhl setzte er einen Kegel. Dann schob er noch einen Stuhl dicht vor den Sitz der Mutter und behängte die Rücklehne mit dem Tuch.

»So!« sagte er und hielt befriedigt Umschau. »Nun kann's losgehen!«

»Was wird denn das, Junge?« »Das alles sind böse Ritter, die ich jetzt niederstechen muß, Mutterchen! Du aber bist das schöne Ritterfräulein. Siehst du ... wenn sie alle im Sande liegen, da mußt du dich so über die Purpurdecke bücken und mich belohnen! Verstehst du?« Er verschwand noch einmal. Dann aber öffnete sich wieder die Tür. Auf dem Kopfe einen selbst geklebten Papierhut, zwischen den Beinen den Küchenbesen, und in der Rechten einen Meterstab schwingend, so ritt er stolz in die Schranken. Zuerst nach dem Nähtisch zu. Da nickte er ganz ernsthaft seiner Mutter zu.

»So, nun mußt du auch grüßen! Das gehört dazu!«

Nachdem Frau Doktor ihm den Willen getan, gab er dem Küchenbesen die Sporen und stürmte erst ein paarmal durch die Arena. Dann aber auf den ersten Gegner. Ein Stoß mit dem Meterstab. Krach, Pautz! Da lag der erste Feind im Sande, das heißt, der Kegel rollte über die Diele. Ein anderer unter das Sofa, wieder andere unter Schrank, Kommode, Tisch. Denn Schlag auf Schlag warf der tapfere kleine Mann die Gegner aus dem Sattel.

Das war eine Lust! Wie sein Jauchzen wuchs, wie seine Wangen glühten, die schönen, klugen Augen strahlten! Kampfesfreude in jedem Nerv, jeder Muskel! Als dann der letzte Ritter ächzend vom Rosse glitt, da schwenkte Hans seinen Küchenbesen und ritt stolz und erhobenen Hauptes unter den mit einer Purpurdecke überhängten Balkon, aus schöner Frauenhand den Preis des Siegers zu empfangen.

Und die Mutter beugte sich zu ihrem Jungen nieder und küßte ihn.

»Herr Ritter,« sprach sie dann mit feierlich gehobener Stimme, »Ihr seid tapfer gewesen wie kein anderer! Nehmet denn hin den wohlverdienten Lohn!«

Dabei drückte sie dem Sieger ein Stück Schokolade in die Hand. Und dieser bedankte sich mit Mund und Kopfneigen, schwenkte sein reichgeschirrtes Roß und sprengte hinaus, draußen im Garten die Ehrengabe so rasch als möglich zu vertilgen. – – –

Hans konnte sich kaum entsinnen, jemals einen so schönen Tag verlebt zu haben. Turnierspielen blieb für die nächsten Wochen seine Wonne, dann trat wieder, dem Abwechselungsbedürfnis des Kindes entsprechend, etwas anderes an dessen Stelle.

Aber eins war ihm doch dabei ans Herz gewachsen, weil verknüpft mit stolzen und auch – süßen Erinnerungen: das rote Tuch. Sein rotes Tuch ging ihm fortan über alles. Es war fast, als hätte es Leben und Seele für ihn gewonnen. Es hatte seinen bestimmten Platz auf der Kommode neben seinem Bette. Wenn er abends ausgezogen war, dann nahm er es in den Arm und hüpfte darauf ins Bett. Zusammengerollt hielt er es fest umschlungen, auch während des kurzen Nachtgebetes. Und dann flüsterte er noch heimlich mit ihm, streichelte und liebkoste es, bis die Augenwimpern sich fest schlossen. Ein paar Jahr blieb es sein Schlafgenosse, sein rotes Tuch.

Als einmal die Eltern zur Ruhe gehen wollten, da meinte der Vater, daß der Junge nun doch wohl zu alt schon sei, immer noch mit dem Tuch zu Bett einzuschlafen. Die Mutter trat leise an das Lager des fest schlafenden Jungen und zog behutsam das Tuch aus seinem Arm.

Da überkam eine merkwürdige Unruhe den Knaben. Er wand sich hin und her, tastete mit den Händen über die Bettdecke hin und wie ein leises Anklagen kam es über seine Lippen:

»Rote Tuch! ... Rote Tuch!«

Von da ab ward kein Versuch mehr unternommen, ihn seines nächtlichen Lieblings zu entwöhnen.

Im nächsten Frühjahr war's. Der Wasserfall rauschte an dem Garten hin und im Gezweig der wie mit leuchtendem Schnee übergossenen, blühenden Obstbäume sangen Fink, Meise und Amsel um die Wette.

Hans spielte mit einem jungen Schulkameraden auf dem Rasen unter den Bäumen. Auf dem Komposthaufen hatte man eine ausgeleerte Konservebüchse entdeckt, die nun als Fangball lustig durch die Luft blitzte, bald von dem einen bald von dem anderen Jungen emporgeschleudert.

Und jetzt war Hans wieder an der Reihe. Hoch flog die Blechbüchse empor... aber dann... ein geller Aufschrei ... und, von dem scharfen Rand des halbgelösten Deckels getroffen, blutüberströmt, stürzt der Spielkamerad nieder, an der Stirnhaut verletzt.

Starr stand Hans da. Dann eilte er zu dem Schulfreund, kauerte nieder und betrachtete mit geheimem Grausen die Verwüstung, welche er schuldlos angerichtet hatte.

»Otto! Still, Otto! Ich helfe dir gleich!«

Und er jagte ins Haus und kehrte gleich darauf mit dem roten Tuch zurück, das er nun auf die Stirn des wimmernden Knaben legte. Doch dessen Geschrei hatte auch Häuschens Mutter herbeigerufen. Besorgt leistete sie dem Verwundeten die erste Hilfe, bis das Blut gestillt war und er den Heimweg einschlagen konnte.

»Aber, Hans, warum nahmst du denn dein rotes Tuch?«

Verlegen, beschämt und traurig sah der Junge zur Erde. Dann hob er wieder die Augen und erwiderte leise und stockend:

»Weil ... weil ich es so gerne habe ... und ... weil man doch das Blut nicht so sah!«

Die Stirnwunde ist wieder geheilt und sie hat auch der Jugendfreundschaft keinen Abbruch getan. Frau Dr. Falke hat das rote Tuch ausgewaschen und still wieder auf seinen Platz gelegt. Hans aber nahm es fortan nie mehr mit in sein Bett. Die Erinnerung, welche mit ihm verknüpft war, hatte zu mächtig auf ihn eingewirkt.

Am Tage nach der Konfirmation übergab Frau Dr. Falke ihrem Jungen einen Kasten, Darauf stand: »Jugenderinnerungen!« Er enthielt das erste Stiefelpaar von Hans, Strümpfe, Klapper, Hampelmann, das erste Schreibheft und vieles andere mehr. Aber auch das rote Tuch fehlte nicht dabei.

Hans Falke hat sich diesen Jugendschatz bis heute treulich aufbewahrt. Er ist längst ein Mann geworden, dessen Namen man mit Achtung nennt. Mit Waffen geistiger Art hat er bereits so manchen Gegner aus dem Sattel gehoben und in den Sand gestreckt. Und das »rote Tuch« hält er noch immer in Ehren.


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