Wenn die Sonne sinkt
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Eine Friedensfeier.

Lautlos sinkt der Schnee von dem grauen, so verdrossen herabblickenden Himmel nieder. Tief in blendende Wälle hat er bereits die niedrigen Hütten der armen Nagelschmiede des Dorfes eingemummelt, das sich lang gewunden in einem engen Tale hinstreckt. Hoher, dicht verschneiter Wald blickt von überall nachbarlich auf die Wohnstätten nieder. Dahinter stehen in leuchtender Majestät die Berge, Wache haltend über dem Tale seit Jahrtausenden, da hier noch wirre Wald- und Felswildnis sich breitete. Das Wildwasser, das vom Frühling bis zum Herbste so ungestüm und freiheitsdurstig vom Gebirge niederrauscht, heute vernimmt man sein Murmeln kaum, mit welchem es unter schneebedeckter Eiskruste dicht an den Hütten dahingleitet.

Noch gespenstisch stiller aber liegt's über dem einen Häuschen am oberen Dorfrande, wo die Straße sich zum Gebirge durch einen Felsspalt windet. Verwettert, wacklig, mit blinden Fensterscheiben und verfallenem Ziegenstalle schaut es drein. Hier drinnen haust der alte Simmer, Simmers Christian im Walddorfe genannt. Sein Weib liegt längst droben an der Bergwand, von wo in der Sonne die Kreuze und Engel niederleuchten. Sein Junge, das einzige Kind dieser Ehe, wanderte vor Jahren hinüber über das große Wasser. Geschrieben hat er nur ein einziges Mal. Vielleicht ist er gestorben. Verdorben war er längst. Die Ziege ward verkauft. Von da an hauste Simmers Christian allein in der elenden Hütte.

Er schmiedete am Tage Nägel, wie fast alle Männer des Dorfes, des Nachts aber strich er mit gespannter Büchse durch den Bergwald seiner Heimat. Er war ein Wilderer, wie so mancher im Orte. Das lag wohl im Blute. Alle Strafen zusammengerechnet, hatte er wohl manches Jährchen hinter Schloß und Riegel zugebracht. Er fühlte sie aber gar nicht als verlorene Jahre. Denn sie hatten ihm dazu gedient, seine Rache groß zu ziehen, Rache an denen, welche sich ein Recht über den von Gott den Menschen geschenkten Wald anmaßten. Rache auch dem einen, mit dem er fürs Leben gern hätte blutige Abrechnung gehalten.

Das war nun alles dahin. Für immer! In dem Bette am Fenster des niedrigen Gemachs lag Simmers Christian. Zu Häupten aber stand ihm der Tod. Er fühlte dessen Atems Wehen und wußte, daß es mit ihm zu Ende ging. Aber etwas schien ihn zu bedrücken. Der Nachbar, auch ein alter Nagelschmied, war heute bereits ein paarmal bei ihm gewesen. Zu helfen war ja nicht mehr, hatte der Arzt erklärt, aber letzte Liebesdienste konnte man doch noch erweisen.

Doch Simmers Christian hatte alles mit einer stummen Handbewegung zurückgewiesen, weder Arzenei noch etwas von der mitgebrachten Suppe gewollt. Nur ein Paar Schluck Wasser auf die fiebertrockenen Lippen. Auf den Stuhl am Bett hatte er gewiesen und da hatte sich der Nachbar still und wartend niedergelassen. Ein tiefer Kampf schien den Scheidenden zu durchtoben. Seine Brust hob sich, unhörbar murmelnd zitterten seine Lippen. Und dann wandte er mühsam den Kopf zu dem Nachbar, ein lauernder Blick ging über diesen hin. Die magere, von hochstehenden blauen Adern bedeckte Hand tastete nach ihm.

»Nachbar!«

»Willst du was?«

»Ja!« Rauh klingt der Ton der Stimme. »Komme näher ... näher! So, so! Ich weiß, jetzt geht's mit mir hinüber. Schüttle nicht den Kopf. Meine Stunden sind gezählt ... ich fühl's, Aber etwas bedrückt mich. Ich möchte... in Frieden hingehen. Das bißchen, was ich habe... ist dein. Hörst du? Dein! Ich habe ja niemand mehr, der drauf wartet. Mein Junge? Hä! Ihr beide... deine Alte... Ihr wart gut zu mir. Bezahlt das bißchen Beerdigung ... was übrig bleibt... du weißt's. Aber mir ist's schwer auf dem Herzen, den ich gehaßt habe wie keinen auf der Welt...«

»Fichtners Andres? Er ist wieder hier!«

»Ja, ja! Hier! Aussöhnen will ich mich mit ihm .... Hörst du's? Sonst ... das Sterben ist ja kein Kunststück ... aber glatt muß alles sein ... glatt! Geh hin! Sag ihm, er soll sich beeilen. Simmers Christian will mit ihm abrechnen ... die Quittung fehlt ... aussöhnen ... damit die Sache leichter hinübergeht. Geh! Sput doch! Bring ihn mit, Nachbar! Den letzten Dienst für mich. Dann adje!«

Da war der Nachbar aufgestanden und hinausgegangen, kopfschüttelnd hinüber zu seiner Frau.

»Schau, Kathrin'!« hatte er gesagt, »vor unserm alten Herrgott haben sie doch alle noch Respekt. Simmers Christian kann nicht sterben. Erst will er dem Fichtner die Hand noch 'mal drücken.«

»Ist es die Möglichkeit? Na, denn mach hin!«

Und der Alte war hinausgetappelt auf die Suche nach Fichtners Andres. Das war vor einer Stunde gewesen.

Wartend lag der Sterbende seitdem, auf jeden Laut gespannt, lauschend.

Wer die Tore zur Ewigkeit bereits vor sich leise öffnen sieht, dem werden Minuten des entschwindenden Lebens selbst zu Ewigkeiten. Als der Nachbar die Stube verlassen hatte, da horchte Simmers Christian, bis der letzte Schritt verhallt war. Dann begann er sich mühsam halb aufzurichten. Ächzend, bebend, mit verzerrten Zügen gelang es ihm endlich. Zitternd tastete er nach der Wand über dem Stuhl. Eine kleine Wandschranktür öffnete sich. Ein Griff ... und mit einem Aufschrei physischen Schmerzes sank er kraftlos wieder in das Kissen zurück. Dann, nach Minuten schwacher Erschöpfung ein schnappendes Geräusch unter der Decke. Ein eigenes Lächeln huschte über das fahle Gesicht. Dann lag er ruhig, lauschend, harrend.

Seine Gedanken begannen zu wandern. Wie im Fluge zogen die Jahre seines Lebens an ihm vorüber. In alle Bilder, in alle Erinnerungen rauschte ihm der heimatliche Hochwald hinein, sein Wald, der von da droben tief verschneit ihn heute zum letzten Male zum Fenster hereingrüßte, den er über alles lieb gehabt hatte, der ihm Lieder von Freiheit in die Seele gerauscht, der ihn Not und erbärmliches Hungerdasein vergessen gemacht. Und nun alles vorbei! Erst noch Frieden feiern und dann .. hinüber! Frieden! Hahaha!

Wer hatte ihm denn zuerst die Büchse in die Hand gedrückt? Heimlich aber fest? Damals, als der Mond über dem Felsen oben im Tale hing und zwischen den Stämmen es wie mit tausend Augen auf ihn starrte? Hatte da nicht eine Stimme ihm immer dringlicher zugeraunt: Nur zu! Der Wald ist groß und der Fürst ist ein reicher Mann! Ein Druck! Es war ein Meisterschuß gewesen. Ein stattlicher Zehnender hatte mit seinem Leben den Schuß quittiert. Das war ein königlicher Anfang gewesen! Da war sein Mut und seine Tollkühnheit gewachsen. Wie oft hatte er dann den verhaßten Grünrücken ein Schnippchen geschlagen!

Aber einmal kam das Verhängnis doch über ihn. Man schleppte ihn vors Gericht. Drei Zeugen waren geladen. Sie alle wußten darum. Aber zwei von ihnen waren ehrliche Kerle. Sie schworen einen Meineid, daß sie nichts gesehen hätten. Das waren Männer. Der dritte aber zeugte gegen ihn. Fichtners Andres! Seit diesem Tage war sein Stern gesunken. Von jetzt an war er ein Verfemter. Sein Tun und Treiben stand unter Aufsicht. Hinter jedem Baum meinte er eine Büchse auf sich angelegt zu sehen; Lauscher, Späher auf Schritt und Tritt.

Als er wieder frei kam und ins Dorf zurückkehrte, da war er ein anderer geworden. Rache! schrie es in ihm. Doch Fichtners Andres war fortgezogen. Über das Gebirge hieß es, ins Schwarzburgische. Aber sein Häuschen stand noch da, leer, zum Verkauf ausgeschrieben. Dem Verräter ein Feuermal aufdrücken, das ging nicht mehr an. Aber! ... Warum stürmte es auch in jener tollen Herbstnacht wie auf einem Heer von Rossen nieder vom Gebirge übers Dorf!? Hussa! Wie lustig saß doch der rote Hahn auf dem Dache des Feindes und krähte hinaus, daß alles zusammenlief. Aber zu retten gab's da nichts mehr. Nur zu schützen, daß die Flammen nicht weiter rasten. Wer es gewesen? Beweise! Beweise! Diesmal zeugte kein Schurke gegen ihn. Dafür knallte er einen Rehbock zwei Stunden weit davon im Finstertal nieder.

Als er dann zum zweitenmal aus dem Kerker kam, da war sein Junge über alle Berge. Der war nicht nach seiner Art geschlagen, dem lag das Wildern nicht im Blute, und so war ihm Haus und Heimat vergällt. Ein Jahr später drückte er seiner Frau die Augen zu. Jetzt war er ganz allein; allein mit seinen Erinnerungen und seiner Rache. Noch einmal wurde er dann später des Verbrechens überführt und büßte seine Schuld. Als ein gebrochener Mann kehrte er endlich heim.

Dumpf und öde gingen ihm die Jahre hin, bis endlich der Tod anpochte. Er war nicht zum Kranksein geschaffen. Seit Wochen quälte er sich auf seinem Lager. Inzwischen war der Winter hereingebrochen. Wirbelnd tanzten die weißen Flocken an seinem Fenster seit zwei Tagen auf und nieder, über die Erde das große, grausige Leichentuch spinnend, unter dem nun auch er bald ruhen sollte.

Da, heute morgen, da hallte ein fester Schritt draußen auf der Gasse vorbei. Simmers Christian war's plötzlich, als ginge ein Ruck durch seine Seele. Er hebt sich auf und starrt hinaus. Er meint, das bißchen Herzschlag müsse ihm stille stehen. Fichtners Andres ist's, der soeben vorüberschreitet.

Nun ist der Nachbar hin, ihn zu suchen, damit er seinen Frieden mit ihm machen kann. Er fühlt, wie die Kräfte mehr und mehr schwinden. Diese große Aufregung des heutigen Tags! Aber er will leben, er muß leben, so lange wenigstens noch, bis ...

Horch! Klang's nicht wie Stimmen? Nahende Schritte?

Der Sterbende wendet sich mühsam um und stiert nach der Stubentür. Sein rechter Arm zuckt unter der Bettdecke.

Nichts, nichts! Es war eine Täuschung. Wie heiß es ihm über die Stirne läuft. Und unten die Füße eiskalt, als stünde er selbst im Schnee, und der Schnee, der wächst immer höher, höher ... jetzt ist er ihm schon an den Knien, rückt langsam herauf zum Leib. Und nun rauscht's auch über ihm, immer deutlicher. Das ist sein Hochwald ... Hahaha! Er erkennt alles wieder. Dort kommt Fichtners Andres, der Schurke, der nicht 'mal einen Meineid für ihn übrig hatte ...

»Nur heran, heran! Wollen Frieden machen ... Frieden! Endlich! Damit ich kann einen Strich unter dies verfl.... Leben machen!«

Mit verglasten Augen richtet sich der Sterbende auf.

»Bist's endlich? Hahaha! ... Du!«

Ein Schuß aus dem Revolver kracht gegen die Stubentür. Ein verwehendes Röcheln; dann wird's still. Nur die alte Wanduhr tickt und im braunen Kachelofen bricht leise der Stoß verbrannter Holzscheite zusammen.

Wenige Minuten später betreten der Nachbar und Fichtners Andres die Stube.

Mit großen Augen starrt sie der im Bette Zurückgesunkene an.

»Nachbar! Hier bring' ich dir den Andres! Nun mach deinen Frieden!«

Stumm bleibt alles.

»Nachbar!«

Nichts regt sich mehr.

Nun treten beide dicht heran ans Bett. Die zusammengekrampfte Hand des Toten hält noch die Mordwaffe fest umschlossen. Auf dem verzerrten Antlitz liegt ein letztes gesättigtes Hohnlachen.

»Zu spät!« sagt Fichtners Andres. »Er ist hinüber!«

Der Nachbar drückt ihm die Hand.

»Hier hat Gott gerichtet. Möge er ihm verzeihen, wie wir es tun müssen.«


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