Wenn die Sonne sinkt
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Rennstiegpoesie auf dem Thüringer Walde.

Wenn der Sommer auf goldenem Wagen durch die blauen Lüfte hernieder in die Lande fährt, da drängt es Menschen wie das Getier des Waldes höher hinan in die Berge, der wachsenden Glut und dem schwereren Pulsschlage gleichsam zu entfliehen und droben, näher dem Himmel, den frischen Hauch der Winde sich um die Stirn wehen zu lassen. Das Rotwild wittert, daß nun droben auf den weiten Bergmatten ein reich gedeckter Tisch ihm winkt, und so zieht es langsam aus den Niederungen, in denen es winterlang in sorgender Menschennähe Schutz gegen die Schrecken drohender Wintergefahren fand, hinauf in höhere Berglagen nahe dem Gebirgskamm, zugleich um dem erhöhten Treiben in den jährlich sich mehrenden Kurorten und Sommerfrischen zu entfliehen. Der Naturfreund, dem die Hochflut städtischer Sommerschwalben ebenfalls Unbehagen erweckt, der sich in seinen Wäldern nicht mehr ganz heimisch fühlt, den treibt es ebenfalls hinan zu jenen Strecken am Bergzinnenpfade, deren Waldreviere noch nicht den »Segen« einer Erschließung über sich haben ergehen lassen müssen, in denen ein echter Wandergeselle noch nicht auf Schritt und Tritt unter Kuratel gestellt ward, sondern frisch und frei nach Laune und Willkür sich hinein in das grüne Wäldermeer werfen darf, ohne an den durch Steine ausgezeichneten Punkten über Mahlzeitüberreste aller Art zu stolpern oder durch Wellblechtempel und gefühlvoll gewidmete »Ruhen« in seinem natürlichen Empfinden gestört zu werden.

Auch ich habe mich jüngst wieder einmal droben zu beiden Seiten des »heiligen« Thüringer Höhenpfades herumgetummelt und habe Freiheit, Waldeinsamkeit in vollen, berauschenden Zügen getrunken. Rennstiegpoesie! Wer sie kennt, wer sie nur erst einmal sehenden Auges und fühlenden Herzens in sich aufnahm, dem wird es allein beim Klange dieses Namens weit ums Gemüt, dem rollt das Blut schneller durch die Adern, dem klingt's hinein ins Alltagssein wie fernes Wipfelrauschen und Quellenmurmeln, der schaut die Wolken hoch über sich in die blauen Weiten segeln, und vor ihm hin dehnt sich die grüne, wild verstrüppte Wildbahn von Gipfel zu Gipfel, Franken und Thüringen seit vielen Jahrhunderten scheidend. Kein Gebirge der Welt besitzt einen solchen Höhenpfad, der sich in sechs Tagereisen über ein Gebirge mitten durch selige Waldwildnis dehnt, den uralte Sagen und Mären umflüstern, zu dessen Lobe einst schon die Minnesänger die Harfen schlugen, der bis heute immer wieder die Herzen mit Begeisterung füllte und der Kunst wie Wissenschaft stets neue Anregungen bot. Nicht nur eine Länderscheide war und ist noch teilweise der Rennstieg, er stellt auch eine Wetterscheide dar, galt als Grenze für Kirche, Münze, Recht, Sprache, Kleidung, Hausbau, Sitten und Gebräuche. Erst die verschiedenen Umwälzungen der Neuzeit schafften in manchen Beziehungen Wandel.

Wie der Rennstieg sich messerscharf nach Osten und Westen, dem Saale- und Werragebiet, unterscheidet, so zeigt auch seine Gebirgsbildung, über die er seinen Weg nimmt, völlig getrennten Charakter. Im Nordwesten, wo der Porphyr vorherrscht, erheben sich kühn gezackte Kuppen und steile Gipfel, während nach Südosten, sobald der Schiefer die Herrschaft antritt, breitgeschwungene Kämme, gedehnte Bergrücken sich einstellen. Ja, dieser Unterschied greift noch auf andere Gebiete über. Im Norden kurze Täler, uralter Kulturboden, Burgromantik, eine Geschichte, welche mit den erhabensten Wandlungen des deutschen Vaterlandes eng verknüpft ist. Im Gebiete der Grauwacke stundenlange, reich von starken Bächen durchpulste Täler, doch sonst fast alles Neuland, ohne den Zauber der Geschichte; Täler, in denen nie die Harfen der Minnesänger erklangen, nur an vereinzelten Stellen Anprall von Schild und Schwert die Wälder aufhorchen machte. Im Nordwesten eine Fülle von Industriezweigen, welche von der Erfindungsgabe des Thüringens ruhmvolles Zeugnis ablegen; im Südosten, sieht man von der Gewinnung der Schieferbrüche im Meininger Oberlande ab, fast nur Herstellung von Porzellan oder Glas. »Gläser« und »Porzellaner« sind hier droben in den hohen, windumsungenen Bergnestern angesiedelt. Doch alle Geschichte dieser Siedelungen, deren Dächer, bretterbeschlagen, grausilbern in der Sonne schimmern, setzt sich im Grunde nur aus den Geschicken zusammen, welche die Fabrik, die Glashütte im Laufe von ein paar Jahrhunderten erfuhr.

Und doch weht hier droben über diesen Nestern eine ganz eigenartige Poesie, hat sich im allgemeinen der Typus des Wäldlers noch rein und unverfälscht erhalten, was von den nördlicheren Walddörfern, in denen der Einfluß der zahlreichen Kurorte immer bedenklicher sich geltend macht, sich nur noch selten behaupten läßt. Viel weiter ab vom Weltgetriebe hausend, in einer Höhenlage, die selbst der Sperling an einzelnen Orten meidet, die zu den höchsten Lagen von geschlossenen Siedelungen in Europa zählt, also weitaus mehr auf sich angewiesen als die Walddörfer zwischen Eisenach und Ilmenau, schafft und sorgt hier droben ein zäher Menschenschlag, der sich trotz aller Unbill der langen Winter noch eine Lebens- und Sangeslust bewahrt hat, die ihn wirklich poetisch umkleidet. Echte Thüringer Waldvögel sind es, welche hier jahrein und -aus an der Stichflamme sitzen, winterlang das echte Thüringer Leben der Lichtstubenpoesie durchkosten, während draußen der Schnee immer höhere Mauern um die scheu sich duckenden Hütten türmt, in den nahen Wäldern kracht und tobt, wenn der Sturm, die Schneelast alte Waldriesen zu Boden reißen, Nebel wochenlang alles verhüllen: Himmel, Straße, das weit geschwungene heimatliche Bergland. Aber das Hoffen in den Herzen vermag er doch nicht zu trüben. Während alles bis zu den Kindern an der Arbeit hilft, Perlen, Christbaumschmuck und andere schöne Dinge unter den so geschickten Händen hervorzuzaubern, tönt Lied auf Lied, der Kreuzschnabel im engen Bauer nimmt es auf und setzt kräftig mit ein, und die Ahne am schwarzbraunen Kachelofen nickt dazu mit wackelndem Kopfe und gedenkt der eigenen Jugendzeit, da auch sie noch hinaus über die Berge sang und jodelte, im Tanze nicht die Faulste war, da ihre dunklen Augen so manches Männerherz mit sinnbetörenden Glutwellen füllte. – Zu den Glasbläsern und »Porzellanern« war auch ich gegangen, an ihren Liedern mich zu freuen, in den Bergen ihrer Heimat die nimmer ruhende Wanderlust für einige Zeit zu stillen, Sommerfreuden, Sommergewinn mir zu suchen.

Verfolgt man das prächtige Schwarztal bis fast zum Ursprunge seiner Quelle, so gelangt man nach dem Dorfe Scheibe, einem wahren Idyll inmitten stolzer Bergesschönheit. Hier windet sich die Straße steil hinan nach Limbach, einer Siedelung am Rennstieg, die nur aus einer bedeutenden Porzellanfabrik, einigen Hütten, sowie einem Gasthause besteht. Scharf gesattelt ragt hier der Rennstieg zwischen den Landen Meiningen und Schwarzburg empor. Strömt Regen auf das Dach des Wirtshauses nieder, so rinnen die Fluten hier zur Elbe, dort zum Rheine hinab. Nahe dabei bergen sich außerdem noch die Quellen der Werra (Weser). Strebt man dann auf dem Rennstiege weiter, so eröffnen sich wunderreiche Niederblicke in die Wassergebiete dreier deutscher Ströme. Über Bergwellen, deren schweigende Waldmassen vom Dunkelgrün bis zum Lichtblau in der Ferne verdämmern, schweift das Auge nach Thüringen und Franken, bis zu den Höhen des Maintales und den ernsten Gipfeln des Fichtelgebirges. Der Rennstieg selbst aber entfaltet auf dieser Strecke wieder seine ganze geheimnisvolle Macht. Von Farnwedeln und Beerengestrüpp umwuchert, zieht er sich als tiefer Hohlweg durch dichte Waldwildnis. Uralte Grenzmale halten zur Seite seit Jahrhunderten Wacht, ehrwürdige Wappen und Jahreszahlen auf beiden Seiten zeigend. In den Wipfeln über uns orgelt heimlich der Sommerwind; ab und zu kreuzt ein Stück Rotwild den Höhenpfad, oder ein Auerhahn donnert plötzlich vor uns ab. Man vernimmt mit feinerem Ohr, wie die Quellen leise singend in die Tiefe rauschen, und horcht dann wieder auf, wenn es geisterhaft nun einhergeschwebt kommt, um dann wieder unter den aufhorchenden Bäumen zu entschwinden. Ab und zu reißt der Wald auf und weite Fernblicke öffnen sich, um gleich darauf wieder in der Tiefe zu versinken. Und dann wird's vor uns frei. Durch die Stämme schimmern die ersten grauen Hütten von Neuhaus, neben Oberhof der gesuchteste Höhenluftkurort auf dem Thüringer Walde.

Neuhaus wie das dicht sich anschließende Igelshieb stellen nicht nur in Thüringen, sondern wohl auch in Deutschland die höchsten geschlossenen Siedelungen dar. Igelshieb (838 Meter) hat daher auch bis heute den Sperling auf seiner Straße entbehren müssen. Auch hier nur Porzellaner und Gläser Haus für Haus, Heimarbeit bis zu den Kindern hinab. Der Gläser, das Pack mit Glasröhren auf dem Rücken, im Munde die kurze Tabakspfeife, zählt ebenso zu den typischen Erscheinungen des Waldes wie der Steinbrecher, Holzhauer, Jäger und das holzsuchende Weiblein. Neuhaus ist ein guter Ersatz für ein Seebad. Jahrein, jahraus weht es hier droben über die freie Höhe rein und herb, alles, was die Großstadt in dem armen Menschen ansammelte, luftig wieder hinausfegend. Dazu ein originelles Treiben in den Hütten, deren gutmütige Bewohner sich über jedes Interesse an ihrer Tätigkeit freuen, auf der Straße, wo wir nur auf Angesessene stoßen. Schlanke, dunkeläugige Mädchen wandern, wenn die Nacht sich auf die Höhen neigt, Arm in Arm singend durch die Dorfstraße, mit schönen, starken Stimmen ihre wehmütig-schalkhaften Lieder hinaussendend. Wenn dann der Mond noch über die schlafenden Berge schwebt, so offenbart sich die Poesie dieser Rennstiegnester in ihrem vollen Zauber.

Wer Neuhaus besucht, der steigt auch jenseits des Rennstiegs nach Lauscha hinab, wo noch der verwetterte Schrotbau der ältesten Glashütte Thüringens steht, wie ein Heiligtum behütet. Denn sie ist die Ahne aller Glashütten auf dem Walde. In den Tagen der Reformation waren es der Böhme Müller und der Schwabe Greiner, welche beide hier den für Thüringen so wichtig gewordenen Industriezweig begründeten. Noch heute sitzen in »der Lausche« fast nur Müller und Greiner, und damit man sie auseinanderhalten kann, hat der Volkswitz einem jeden einen Spitznamen angehängt, welcher auch ernsthaft beim Gericht eingetragen worden ist. Einen übermütigeren Volksschlag als die Lauschaer gibt's kaum noch einmal auf dem Walde. Dazu berühmt durch ihre Sangeskunst, die bewundernswerte Geschicklichkeit ihrer Industrie. Einen besonderen Zweig derselben bildet die Herstellung künstlicher Menschenaugen, welche längst an Güte die Pariser Erzeugnisse überholt hat. Man muß am besten an einem Wochentage nach Lauscha hinabsteigen, um das rührige Völkchen bei der Arbeit zu betrachten. Wie Gemsen klettern die Hütten auf und ab an den steilen Berglehnen. Aus jeder Hütte bricht dann abends eine Lichterflut hervor, was einen tief poetischen Eindruck hervorruft. Und nach vollbrachtem Tagwerk hallen dann Straße, Wald und Wiesen von den Jodlern und Liedern der munteren Waldvögel.

Ja, wenn die Musik nicht wäre! Die Sorgenbrecherin zu allen Zeiten! Da kann man doch hinauskünden, was das arme Herz bedrückt, erfreut und beseligt. Droben in dem kleinen Rennstiegdorf Ernstthal wohnt auch solch ein Waldessänger. Auf und ab am Rennstieg kennt man den alten Dores. Und ob auch sein Haar allmählich weiß wurde, sein Herz mit der tiefen Liebe zur grünen Thüringer Heimat ist jung bis heute geblieben. Da nimmt er es mit den frischesten Burschen noch auf. Jüngst kehrte ich nach einer wunderreichen Rennstiegpilgerfahrt wieder bei ihm ein. Und da hob das Singen und Klingen, Jubeln und Schmettern wieder an. Da ward alles still im Raume. Und das Jungvolk, das heute, durch Irrlehren verführt, beginnt, ein Ideal nach dem anderen zu Boden zu schlagen, es horchte auf und schwieg. In dieser Stunde ward es ihm zur Gewißheit, wie schon die Heimat sei, daß deren Berge ewig stehen werden, wenn längst zerschellt ward, als ein wüster Traum vernichtet, was heute die Gemüter mit einem tollen Rauschtrunke füllt. Rennstiegzauber! Heimatpoesie!


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