Wenn die Sonne sinkt
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In der »Guten Schmiede«.

Innerhalb der schwarz-weiß-roten Grenzpfähle gibt es keine zweite Schmiede, in welcher dem deutschen Volke so viele Werke kerniger Kraft, edlen Ansporns, Denkmale seines eigenen besten Wesens geschaffen worden sind, wie die »Gute Schmiede« in dem Dorfe Siebleben bei Gotha. Der Literaturkundige kennt sie längst. Hunderttausende jedoch wissen es nicht, daß sie der Sommersitz Gustav Freytags gewesen ist, der dieses ländliche Tuskulum 1851 käuflich erstand, mit jedem Frühling hier Einzug hielt, zum letzten Male im Maien 1895 als ein entschlafener Erdenpilger, den es noch im Tode zu dieser Stätte gezogen hatte, mit der so viel Freud' und Herzeleid, sein bestes Schaffen verknüpft war.

Der gothaische Staatsminister Freiherr von Frankenberg war es gewesen, welcher im Beginne des 19. Jahrhunderts dieses Landhaus im Nachbardorfe der Residenz für sich erbauen ließ. Von einem willensschwachen Herrscher an die Spitze der Regierung berufen, schaltete er nach eigenem Ermessen, so daß Napoleon mit Scharfblick treffend von dem Landgutsbesitzer zu Siebleben sagte: »Le gouvernement de Siebleben«. In damaliger Zeit sah das Landhaus gar oft einen vollen Kreis geistreicher, dem Leben nicht abgewandter Männer als Gäste in seinen Mauern, darunter zuweilen auch Goethe und seinen fürstlichen Freund Herzog Karl August, die beide auf der Durchreise nach Eisenach gern hier Halt machten, um sich an dem fröhlichen Tun der Tafelrunde zu beteiligen. In jenen Tagen mag dann wohl die Bezeichnung »Gute Schmiede« aufgetaucht sein. Dem Schlesier Gustav Freytag aber blieb es vorbehalten, diesen Namen in Wahrheit dem freundlichen Landhause zu verdienen. Denn als ein echter deutscher Schmied steht die schlichte, kernige Gestalt dieses Mannes vor uns, der in harter Arbeit und mit redlichem Mühen bis zuletzt bestrebt blieb, mit lauten Hammerschlägen seines deutschen Volkes Seele zu immer reicherem Tun anzufeuern, die Edelmetalle deutscher Art und Sitte an das Licht zu heben, sie in köstliche, dem deutschen Herzen teuer gewordene Gestalten umzuschmelzen. Alle Schichten unseres Volkes schulden Freytag Dank, am überzeugtesten aber hat er doch deutsche Bürgertugend, deutschen Bauernfleiß in seinen Werken gepriesen. Das gothaische Dorf Siebleben hat der Dichter aus völliger Weltfremdheit in das helle Licht gerückt, nicht allein darum, daß er es durch länger denn vierzig Jahre zu seinem Lieblingsaufenthalt erkor, eine Fülle bedeutender Männer hierher lockte, noch vielmehr dadurch, daß hier in der »Guten Schmiede« die meisten und besten seiner Werke entstanden sind, deren Schauplatz auch zum guten Teil hier in Thüringen zu suchen ist. Denn um deutsches Volksleben zu erfassen, zu beobachten, vermochte Freytag ja keine sprudelndere Quelle sich zu erschließen als Thüringer Volksart mit ihrem Fleiß, der Sangeslust, der ganz besonderen Eigenart.

Da die Nachwehen einer schweren Krankheit sich nicht verlieren wollten, so hatte Freytag sich entschlossen, irgendwo einen stillen Sommersitz zu erstehen, auf dem er die Hauptzeit des Jahres inmitten dörflichen Treibens verleben konnte. Seine Werke, welche so ganz sein eigenstes Wesen widerspiegeln, sagen ja am deutlichsten, wie wenig ihm Großstadtluft behagte, wie stark er mit deutscher Erdscholle verwachsen war. Aus ihr sog er immer wieder seine beste Kraft, nicht vom Parkett, aus Kaffeehausluft und dem Dunst, der Unrast modernen Weltstadtgetriebes. 1851 hielt der »Journalist« Freytag zum ersten Male seinen Einzug in Siebleben, und bereits in den Sommermonaten des kommenden Jahres entstanden hier »Die Journalisten«, in denen er den Stand feiert, dem anzugehören er bis zuletzt als eine Ehre empfunden hat. Von hier aus nahm das beste Lustspiel des vorigen Jahrhunderts seinen Weg über alle deutschen Bühnen, nachdem Karlsruhe unter Eduard Devrient das Meisterstück aus der Taufe gehoben hatte.

Den Winter in Leipzig, den Sommer über in Siebleben – so wechselt fortan die Schaffensstätte des Dichters; auch dann blieb sein Herz an Siebleben hängen, als er 1876 in Wiesbaden sich ansiedelte. Das Traurige und Niederdrückende, das er in seinen beiden ersten Ehen gefunden hatte, seine Kurzsichtigkeit, dies alles machte ihn scheu vor dem Umgange mit weiteren Kreisen. Der frohe, im Grunde schalkhafte Schlesier ward zum Einsiedler, der selbst in der geistig regen Taunusstadt jeden kongenialen Umgang mied. Aber in Siebleben, da ward sein Herz warm. Zwischen seinen Blumen und Kürbissen fühlte er sich frei und wohl. Die »Lyriker seines Gartens«, seine Singvögel, gaben dem wunden Herzen immer wieder die rechte Stimmung, über allem heimlichen Weh seine reichen Gaben nicht zu vergessen. Hier entstanden »Die Ahnen«, wie eine Reihe anderer Meisterwerke, welche er sämtlich im Diktieren schuf, während er, gleich Goethe, im Zimmer auf und ab schritt und ein intelligentes Bäuerlein alles zu Papier brachte, das dann später von dem Dichter noch einmal peinlich durchgesehen wurde.

Was ihm aber auch Siebleben so lieb und wertvoll machte, das war die Nähe Gothas, der rege Umgang mit dem geistvollen Herzog Ernst II. Man darf fast von einem freundschaftlichen Verhältnisse reden, welches beide Männer verband. Nie hat der »letzte Koburger« – was doch sehr nahe lag – die Feder des politisch streitbaren Dichters für seine Zwecke beansprucht, wie auch Freytag nicht ein einziges Mal seinen »Männerstolz vor Königsthronen« hingeopfert hätte. Daß man sich gegenseitig achten durfte, hat dieses Band zwischen Fürst und Dichter immer fester knüpfen lassen, ein Band, das erst der Tod zerreißen konnte.

Alle äußeren Ehrungen ließ Freytag über sich ergehen, an seinem schlichten, bürgerlichen Wesen vermochte nichts zu rütteln. Er »sperrte den sächsischen Falken in einen Koffer«, damit er sich nicht mit dem »Zähringer Löwen« zanke. Traten Feste an ihn heran, so flüchtete er Hals über Kopf nach Siebleben. Hier atmete er auf. »Wozu überhaupt siebzigste Geburtstage feiern,« ruft er unmutig aus, »nächstens wird der fünfzigste daraus; sorgen doch jetzt bereits Zwanzigjährige für ihre Biographie mit den werten Abbildungen!« Und so verbat er sich jede laute Feier, nur »die Amseln seines Gartens sollten am frühen Morgen im schwarzen Frack den Festgesang anstimmen«. Noch in demselben Jahre – 1886 – entsandte der Kronprinz den Maler Stauffer-Bern nach Siebleben, um Freytag für die Nationalgalerie malen zu lassen. 10000 Mark waren dafür angelegt worden. Freytag aber zeigte sich höchst ärgerlich darüber, zumal das Bild durchaus nicht seinen Beifall fand. »Wie gerecht ist mein Widerwille gegen dieses Abklatschen!« ruft er aus. »Der Stauffer hat nicht gehalten, was man von ihm erwartete.« Allerdings deutet das Bild nicht auf einen unserer besten Dichter hin. Aus dem Äußeren Freytags den bedeutenden Mann zu konstruieren, wäre vielleicht auch nur Lenbach im besten Falle gelungen. Auch seinen 77. Geburtstag verlebte Freytag in aller Stille in Siebleben. Sein Herzog hatte ihn zur Exzellenz erhoben; im übrigen empfing er nur eine Abordnung des Kriegervereins von Siebleben; Schulkinder sangen und deklamierten, »und die Bleche der Dorfmusik verkündeten schmetternd den jungen Sperlingen in der Dachrinne, daß am Abend ein Fässel Freibier in Aussicht stehe«.

Wohl empfing der Dichter in Siebleben manchen berühmten Besuch, doch in der Hauptsache gehörte sein Herz seinen Dorfleuten, mit deren Interessen er mehr und mehr verwachsen war. Ein Spätabendsonnenschein war dem einsamen Mann auf seinen Lebensweg gefallen, als er endlich seine dritte Gattin, Frau Professor Strakosch, nach deren Scheidung von ihrem Gatten am 10. März 1891 in Siebleben heimführte. Sein Herzog war nicht nur Trauzeuge gewesen, sondern hatte auch seinen Küchenwagen gesandt, um die stille Hochzeit des Dichters würdig zu feiern. Der Dichter, welcher uns unvergängliche Typen blonder, echt germanischer Weiblichkeit in seinen Romanen hingestellt hat, fand jetzt endlich ein spätes Hausglück im Zusammenleben mit einer hochgesinnten, klugen Jüdin, welche nun mit ihren drei Kindern gleichen Glaubens in die »Gute Schmiede« einzog. Frau Strakosch verdanken wir, daß Freytag eine gesammelte Ausgabe seiner Werke veranstaltete; sie hat den alternden Dichter noch einmal wieder lauter lachen gelehrt; ein regerer Verkehr mit Freunden wurde angebahnt, und in Dankbarkeit ward Frau Anna Strakosch seine verehrte »Ilse«, wie er sie fortan nach der Hauptheldin der »Verlorenen Handschrift« nannte. Ihr Wesen stimmte mit dem der Frau Professorin überein; wie ein Hauch von Jugend kam es noch einmal über den Mann, daß selbst der längst versiegte Quell wieder zu sprudeln anhob. Noch in seinem Todesjahr 1895 singt er der aus der Ferne Heimkehrenden innig entgegen:

»Weilst du mir fern, leb' ich in Schmerzen;
Und halt' ich dich an meinem Herzen,
So sing' ich froh: du mein, ich dein.
Und dennoch frag' ich: Wann fühl' ich am tiefsten
Die Seligkeit, dir lieb zu sein?
Ist's Lieb' in Freude, Lieb' in Leide? –
Zum höchsten Glück gehören beide.«

Im Jahre vorher war ihm der fürstliche Freund im Tode vorangegangen. »Abgesehen von allem anderen,« schreibt Freytag, »ist es mir in meinem Alter eine ernste Mahnung.« Im März war er noch von Wiesbaden nach Gotha geeilt, um an einer Beratung über ein Denkmal seines Herzogs teilzunehmen. Am 30. April schlummerte er in den Armen seiner Gattin sanft hinüber. Sacht, unbemerkt war seine Seele in die Ewigkeit gegangen. Der Tod hatte an seinen Zügen nichts verändert. Von Wiesbaden ward sein irdisch Teil nach Siebleben übergeführt. In Gotha nahm ein feierlicher Zug ihn in Empfang und geleitete ihn nach dem Nachbardorfe. Hier ward er in seinem Gartenhause aufgebahrt. Bauern hielten die Totenwacht über Nacht; Bauern trugen auf ihren Schultern ihn die Straße hinüber zum stillen Garten der Toten. Noch eine wehmütige Andachtsfeier in der Kirche, und dann ward der Dichter der »Ahnen« neben seiner ersten Gattin hinab in die Gruft gesenkt. Siebleben begrub seinen berühmtesten Mitbürger. Und während die große Trauergemeinde – wohl das gesamte Dorf gab ihm die letzte Ehre! – gemeinsam den Scheidegesang anstimmte, da flogen die Dorfschwalben zwitschernd im Maiensonnenscheine über die offene Gruft, dem Dichter den letzten Gruß dieser Welt bringend. Laut Testamentsbestimmung wird auch dereinst seine dritte Gattin an der Seite des Dichters ihre Ruhestatt finden.

Frau Anna Freytag hat seitdem Wiesbaden mit Berlin vertauscht, doch Siebleben ist ihr eine Stätte teuerster Erinnerungen geblieben, Tausenden guter Deutschen aber ein gefeierter Wallfahrtsort. Auch mich zog's in den letzten Maientagen wieder einmal hinaus. Siebleben bietet heute nicht mehr das anheimelnde Bild, wie es dem Dichter erschien, da er es vor einem Menschenalter zu seinem Ruhesitz erkor. Man darf es fast als einen Vorort der Residenz betrachten, mit einem starken Stich ins Sozialdemokratische. Städtische Wohnhäuser haben starke Bresche in das ländliche Bild eingeschlagen; die Alten des Ortes gehen noch ihren dörflichen Beschäftigungen nach, das Jungvolk hingegen hat sich im falschen Begriffe persönlicher Freiheit der Fabrikarbeit hingeopfert und des Segens gesunder Tätigkeit und Moral freiwillig begeben. Siebleben ist alles andere denn ein Idyll heute. Nur teure Erinnerungen können noch hierher locken. An Mietskasernen mit lärmenden Kneipen, Arbeiterhäusern und verstaubten Feldgevierten vorüber leitet von Gotha her eine breite, schattenlose Straße, die alte Heerstraße nach Erfurt. In einer guten halben Stunde ist Siebleben erreicht. Rechts der Friedhof mit der unschönen Kirche dicht an der belebten Straße, schräg gegenüber, lauschig von Flieder und anderen Ziersträuchern umrahmt, im Hintergründe begrenzt von einem baumreichen, sacht ansteigenden Parke, dem sich Obst- und Gemüseanpflanzungen anschließen: die »Gute Schmiede«.

Altfränkisch, doch ungemein anheimelnd grüßt uns das denkwürdige zweistöckige Haus, an dem Schultze-Naumburg seine Freude haben würde. In gedrängter Üppigkeit quillt uns überall ein Blütenmeer entgegen. Ein Garten- und ein Gewächshaus schließen sich seitlich an. Im Gebüsche birgt sich das Heim eines Gärtners, der zugleich die Wacht während der Wintermonate hier hält. Der Eingang zum Hauptgebäude befindet sich an der Rückseite. Kleine Räume, ungemein einfach gehalten, wie es immer der Sinn des Dichters war! Über dem Erdgeschosse befinden sich die Gesellschaftsräume, vor allem aber das unendlich schlichte Arbeitszimmer Freytags. Auf dem Wege dahin durchschreitet man ein kleines Trinkgemach mit ländlichen Möbeln; die Wände desselben sind von Regalen umzogen, dicht bedeckt mit Gläsern und Krügen, an deren Sammeln der Dichter anscheinend ein besonderes Behagen empfand. Auf dem Schreibtische nebenan liegt noch alles, wie er es verlassen. Bilder seines einzigen noch lebenden Sohnes, seiner letzten Gattin und deren Kinder grüßen uns. Eingerahmt fällt uns, von seiner Hand beschrieben, sofort ein Stück Papier in die Augen, das die Worte trägt: »Sei tapfer, Ilse, das Leben ist schwer!« Jedes Werk in seiner Bücherei zeigt im »Ex libris« den Namen Ilse; Bilder und Zeichnungen an den Wänden sind der geliebten Frau gewidmet, so auch ein sehr charakteristisches Bild von Stauffer-Bern, Freytag im Garten zu Siebleben darstellend. Sie selbst in vollsaftiger Lebenskraft finden wir in Marmor, verführerisch in Öl gemalt oder auch mit dem alternden Gatten freundlich vereint. Unter den Bildern, in »Verehrung« dargebracht, fehlt auch Paul Lindau nicht, der einst den »Ahnen« kein allzu wohlklingendes Loblied sang. Ein stiller Gang durch den schöngepflegten Garten, und dann schreiten wir hinüber zu der Grabstätte. Nichts Intimes, scheu von dem lauten Straßentreiben Zurückgezogenes. Hart an der Gartenplanke erhebt sich der Grabstein, welcher im Relief den Kopf des Dichters aus Bronze zeigt. Blumenbeete zu Füßen, auf der Rückseite die goldenen Worte: »Tüchtiges Leben endet auf Erden nicht mit dem Tode, es dauert in Gemüt und Tun der Freunde, wie in den Gedanken und der Arbeit des Volkes.«


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