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Daß doch das Scheiden immer wieder Schmerzen macht! Nun der Sommer sich wirklich zum Abschied rüstet, da faßt es einen doch weh ans Herz. Weit früher denn sonst, entgegen allen papiernen Kalenderabmachungen, hat er sich heuer entschlossen, uns den Rücken zu kehren. Vielleicht ist er selbst der Herrschaft müde, möglich aber auch, daß es ihm etwas ungemütlich in deutschen Landen geworden ist und daß er fürchtet, eines Tages in aller Form darum ersucht zu werden, sein Bündel zu schnüren. Denn der Sommer, es läßt sich nun leider nicht leugnen, hat diesmal doch verschiedenes auf dem Kerbholz. Fast gewaltsam entriß er dem Frühling die Zügel der Regierung und herrschte dann an fünf Monate mit einer Macht und Pracht, welche zuweilen etwas Berauschendes in sich hatte. Mit gleißendem Sonnengolde war sein Thron umflossen; tiefblau spannte ein himmlischer Baldachin sich über seinem Reiche, und wie oft und heiß Natur und Menschheit flehend nach erfrischendem Regen auch emporblickten – der Sommer blieb ungerührt und lächelte weiter. Ein Lächeln, das so manchen wohl zuweilen in Verzweiflung gebracht haben mag.
Mit heimlichem Groll sieht ihn daher der Landmann scheiden. Denn er weiß am besten, hat es am eigenen Leibe erfahren, was dieses Lächeln ihm gekostet hat. Daß der unerhörten Dürre Teuerung und Not folgen muß. Wer aber in diesem Sommer ein lockendes Wirtshausschild herauszuhängen hatte, der reibt sich stillvergnügt die Hände. Dem haben diese goldenen Tage auch einen goldenen Regen durch das Dach tröpfeln lassen, ihm mehr wert denn alles himmlische Naß. Der Wandersmann darf allein diesem Sommer Hymnen reinster Freude nachsingen, unbeeinflußt von allem metallischen Geschmack.
Es war ein Sommer, der auch die kühnsten Hoffnungen noch übertrumpfte, der keinen Plan auch nur einmal zu schanden werden ließ, der uns jeden neuen Tag neue Sonne schenkte, die Wanderlust straffte, den Beinschwung erhöhte und alles Sehnen in die blaue Ferne stillen mußte – wenn dieses Sehnen nicht Flügel hätte, erst mit dem letzten Schritte hienieder sacht ausklänge.
Die Quellen versiegten, die Bäche standen still, selbst in den größten deutschen Strömen, deren Kiesbetten sich in öffentliche Kinderspielplätze wandelten, rangen die Fische verzweifelt die Flossen nach labendem Wasser – der Wandersmann jubelte auf. Er warf sich in seine aufrauschenden Wälder und ließ von den freien Höhen die Blicke fröhlich hinausschweifen in die goldzitternde Luft, zu winkenden Fernen, deren verdämmerndes Blau immer wieder neue Sehnsucht wachrief. Ein ewiger Festtag war ihm angebrochen. Und darum ist seine Trauer um den scheidenden Sommer ehrlich und tief. – –
Was in den Steinwüsten der Großstädte zwischen den himmelstürmenden Mietskasernen sein Leben dahinopfert, merkt kaum auf, wenn draußen in der Natur sich ein so einschneidender Prozeß vollzieht. Das hat so oft die heimliche Fühlung mit dem wundersamen Weben zwischen Himmel und Erde verloren. Das weiß oft genauer, wenn der berühmte Dramatiker X. seine Koffer gepackt hat, um irgendwie die letzte Feile an sein neuestes und selbstverständlich unsterbliches Werk zu legen – denn daß ihm das Herz unruhig würde, weil 'mal wieder ein Sommer Abschied nahm.
Seit Wochen bereits besteht kein Zweifel, daß der Sommer dabei ist, seine Karten da und dort noch abzugeben, wie solches sich für einen höflichen Gesellen nur geziemt. Dabei kann er noch manches freundliche Geleitwort für seine lange Reise einheimsen. Im übrigen aber rüstet er sich schon längst. In den Gärten und Laubwäldern hebt das große, zaubervolle und doch wehmütige Farbenspiel an. Vom lichten Gelb an bis zum flammenden Purpur webt es unhörbar an dem Kleide des Herbstes, jeder Windhauch, jede kalte Nacht entblättert gefühllos Baum und Strauch. Das große Sterben in der Natur bereitet sich vor. Wie lange noch, und eine einzige kalte Nacht färbt die Berghänge wie mit Blut übergossen. Fast abgeblüht zeigt sich bereits das Heidekraut; Marienfäden segeln durch die Lüfte und Jungen lassen ebenfalls schon ihre ersten Drachen jubelnd durcheinander schießen. Herbst auf der ganzen Linie!
Und gestern habe ich auch jene wieder begrüßt, welche wie das Tüpfelchen auf dem i erst dem wahren Herbst sein wahres Gepräge verleihen: die Herbstzeitlose! Nun ists beschlossene Sache, daß der Sommer bereits auf die Wanderung ging. Wem diese blaßrötliche Blüte nur als »Manöverblume« gilt, dem kann nur Lustiges bei ihrem Anblick durch das Herz ziehen. Dem ist sie ein lachendes Erinnern an tolle Ritte, strammen Königsdienst, Wachtfeuerpoesie, armselige und üppige Quartiere, an gemütliche Städtchen, Mädchenküsse und verwehende Liebe. Der streicht sich wohl den Bart und läßt seine Gedanken gern noch einmal rückwärts wandern.
Dem Naturfreund aber schleicht es mit heimlicher Trauer ans Gemüt. Seltsam wie ihr Name bleibt auch das Bild dieser Blüte. Heute noch ruht die Bergmatte im schlichtgrünen Gewande und über Nacht wie aus Nebel und Hauch geboren, breiten plötzlich Tausende von Zeitlosen einen violetten Schimmer darüber. Blätterlos, knospenlos steht sie da und hebt ihr stummes Angesicht zu dir, wie ein Mahnen, Ernte zu halten, ehe Winterschnee alles deckt. Deine Kräfte zu regen, ehe Alter und Gebrechen dich in ihrem Banne halten. Zeitlose! welche tiefdeutige Poesie entströmt doch diesem Worte! Wie dichterisch geschaut bleibt es doch! Da wird's einem immer wieder Erkenntnis, welch plastisch-dichterische Kraft doch in dem Volke steckt, wie es versteht, eine Fülle von Empfindungen und Eindrücken in ein einziges Wort zu gießen.
Wer in der Nähe einiger Kurorte sein Heim aufgeschlagen hat, der muß, will er mit sich und seinem Walde allein sein, heute geradezu Reißaus nehmen, ein paar Stunden weiter bergein flüchten, der »fremden« Besitzergreifung zu entfliehen, aber auch der bedrohlich anwachsenden Vernichtung reiner, ursprünglicher Natur. Denn die einstige, dem Herzen so wohltuende Wildnis wird jetzt zum Garten, der Hochwald zu einem freundlichen Parke umgewandelt. Was der Techniker noch übrig gelassen hat, das vernichtet teilweise der örtliche »Verschönerungsverein«. Auf Schritt und Tritt ist die Natur und der in ihr Wandelnde unter Kuratel gestellt. Spürsinn und Karten darf man beruhigt daheim lassen. Der wundersame Reiz, sich selbst 'mal einen Weg, ein Ziel zu erobern, wird systematisch ertötet. Promenadenwege zu allen Höhen, in alle Tiefen. Ruhebänke, daß man darüber stolpert, Wegweiser, daß man meint, Spießruten zu laufen. Jeder Felsen ist zurechtgemacht und hübsch umwehrt, das Eisengitter aber der Witterung wegen sauber knallrot angestrichen. Und alle diese nunmehr so herrlich »erschlossenen« Stätten erzählen in dem ausgestreuten Schmucke von Papier und sonstigen Überresten, welche Schlachten hier von begeisterten Naturschwärmern geschlagen worden sind.
Das liegt nun heute alles hinter mir. Aus beengender Niederung zur Höhe! Freiheit schlägt wieder ihren weitgeschwellten Mantel um mich. Und hoch atme ich auf. Über eine hochansteigende, nach allen Seiten sich in den anschließenden Hochwald verlierende Bergmatte schreite ich einsam. Mit ihren geheimnisvollen Augen schaut mich ringsum die Zeitlose an. Wenn ein leichter Wind darüber streicht, dann geht ein Zittern durch die blassen Blüten. Ich werfe den Blick auf. Droben über sturmzerzausten Tannenwipfeln jagen heute Wolkenschatten in wilder Flucht hin. Ab und zu bricht ein Sonnenstrahl durch und spinnt flüchtige Goldnetze über Gipfel und Bergwände. Fern in der Tiefe des offenen Landes aber, wo der Himmel sich so vertraut über den Erdrand beugt, da funkelt es in eitler Sonnenlust. Da wandeln Menschen in sonntäglichen Gewändern einher, freuen sich des hellen Ruhetages und blicken wohl auch nach den Bergen hinüber, die wie in verschleierter Trauer ernst in den Himmel hineinragen.
Geht's doch zum Abschiednehmen! Und auch ich will ja heute dem Sommer Lebewohl sagen. Lustiges Fahnengewimmel täte da nur doppelt weh. Im Halbdunkel träumt es sich auch besser. Zwielicht schafft Märchenstimmung. Droben am Wiesenrande unter den tiefhängenden Zweigen einer Einzelbuche, das ist so ein Platz, Märchenstimmungen nachzugehen. Im schwellenden Moose ruht es sich gut. Ein Quell springt da zutage. Weit schweift der Blick ins Land. Und wie ich da ins Moos sinke, ist's mir, als schauten mich wieder zwei große, kluge, blaue Augen an, und eine Stimme sagte bittend: »Vater, erzähle!« Und ich erzähle vom Walde und seinen Geheimnissen, von der Welt draußen und ihren Kämpfen, von großen Männern und ihren Taten, Ernstes und Heiteres durcheinanderwebend. Nur das tiefe Atmen meines Jungen und ab und zu ein leiser Windhauch, der über uns durch die Wipfel schleicht, unterbricht die tiefe Stille. Und als ich geendet, da bleibt's noch eine kleine Weile still. Dann seufzt er auf: »Vater, das war schon!« Und seine Augen bohren sich gleichsam in die Welt tief unten, die er nun erfüllt sieht mit Taten und Helden, in der er auch einmal sich will einen Ehrenplatz erringen. – –
An dies alles denke ich in dieser einsamen Stunde droben am Waldesrande. Und wie Geisterrufe rührt es heimlich jetzt durch's Gezweig. Mein Junge ist's, der mich grüßt, der vor mir noch die große Wanderung an einem Sommertage antrat, da im Garten die Linden dufteten. Daß doch die schönsten Märchen fast immer mit: »Es war einmal – –« beginnen!
Nun stehe ich am Rennstiege droben. Ich schaue die vergraste Wildbahn auf und nieder, ob nicht vielleicht noch solch ein stiller Waldschwärmer hier des Weges kommen könnte. Doch still bleibt alles. Nur die Steinmale, die alten verrunzelten Grenzwächter auf Thüringens Bergzinnenpfade, nicken mir vertraut und freundlich zu, blinzeln noch ein wenig mit den müden Augen und schlafen dann wieder ein. Einmal auch hüpft ein dunkles Eichhorn über den »speeresbreiten« Waldpfad. Eine Weile halte ich ihn inne. Dann tauche ich seitwärts wieder in Tannennacht. Die Erinnerung mir treulich zur Seite. Ein Bächlein rieselt schüchtern neben mir her in die dämmernde Tiefe. Ich weiß, ein Stück tiefer unten, da treibt es bereits eine Sägemühle. Dort bin ich in früheren Jahren zuweilen eingekehrt. Sägemühlen im stillen Walde reden für manchen ihre eigene Sprache. Der Sägemüller gab Bekannten gern einen Trunk zur Erquickung, und aus den Augen des Töchterleins lachte dem fahrenden Manne ein Stück Himmel entgegen.
Schon wird's vor mir licht und hell. Auf eine den schmalen Talgrund hier füllende Wiese trete ich hinaus. Wieder der wehmütige Gruß ungezählter Zeitlosen! Von weitem sehe ich schon, daß das Wasserrad heute stille steht. Sonntagsruhe! Sie werden vor der Tür sitzen und sich des Ruhetages freuen, dessen Abend die soeben hervorbrechende Sonne vergoldet.
Nun bin ich heran, Hoiho! Hoiho! Ich rufe es hinaus. Und das Tal und seine Berge geben gespenstisch den Ruf im Echo wieder. Sonst aber regt sich nichts. Moos und Farne haben sich um das Rad und den Wassergang gelegt. Die Tür zeigt sich verschlossen; ein paar Fenster sind eingeschlagen, und das Auge dringt in verlassene, halb zerfallene Räume. Sturm und Wintergraus haben stellenweise das Dach zertrümmert. Alles Leben erstorben. Langsam rückt die Natur vor, wieder Besitz von ihrem Eigen zu nehmen.
Drüben sehe ich über fernen Höhenzügen die Sonne zur Rüste gehen. Auf der verwetterten Holzbank vor der Tür sitze ich nieder. Mir ist's, als klänge von allen Seiten, allen Zweigen Rückerts altes Lied einher: »Als ich Abschied nahm – –«. Tiefer und tiefer wandert die Sonne in fernes Land. Und wie sie rings alle Berggipfel in lohendes Feuer setzt, so scheint sich auch alles ferne und nahe Rauschen, Klingen und Flüstern in einen einzigen, schmerzlichen Akkord zu verschmelzen: in ein Abschiedslied auf den dahinfahrenden Sommer.