Wenn die Sonne sinkt
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Aschermittwoch.

Draußen vor dem Tore steht ein wenig zurückgezogen von den anderen Wohnstätten ein schmales Häuschen.

Es ist das Heim des einstigen Holzhauers Klett. Nach dem Tode der Eltern hausen nur noch die Schwestern Martha und Maria darinnen. Den Vater brachte man eines Abends todwund heim; ein fallender Stamm hatte ihn getroffen. Die Mutter aber hatte die zehrende Krankheit dahingerafft; sie war stets eine stille Frau gewesen, die als Erbteil das mitgebracht hatte, was seit Generationen Opfer um Opfer in ihrer Familie gefordert hatte.

Als die beiden Schwestern nun allein waren, da hatten sie sich mit ganzer Kraft auf die Arbeit für eine Puppenfabrik des Städtchens geworfen. Nebenbei hatte Martha die Führung des kleinen Hausstandes übernommen, so lange, bis sich auch bei ihr Anzeichen der Krankheit einstellten, welche die Mutter vor der Zeit ihnen genommen hatte. Der Arzt riet strengste Schonung an. Da hatte die Nachbarin, die kinderlos geblieben war, sich angeboten, die wenige Hausarbeit des Morgens zu verrichten. Nun konnte Martha neben der Schwester stillsitzen, um eifrig Puppenhemdchen Stück für Stück anzufertigen. Ein paar Jahre hatte sie sich nun schon mühsam hingeschleppt; da war es beim Anbruch dieses Winters heftig über sie gekommen.

Nun lag Martha bereits seit November nebenan in dem einfensterigen Stübchen zu Bett, die blauen Augen fiebrig glänzend und auf den Wangen jenes verräterische Rot, welches das Volk so wehmütig-poetisch mit »Kirchhofsrosen« bezeichnet. Sie aber hoffte, hoffte mit dem heiligen Glauben, der alle Kranken dieser Art vor ihrer Auflösung wie ein weicher Himmelstrost noch einmal überfällt. Der kommende Frühling, der mußte ihr Heilung bringen. Das wußte sie, daran klammerte sie sich.

Je mehr aber Martha mit ihrem Leibe sich dem Leben abwandte, um so voller, üppiger war die jüngere Maria in diesen Jahren erblüht. Sie hatte das Dunkle, Heiße, Lebenheischende vom Vater mitbekommen. Wenn sie mit ihrem Korbe durch die Gassen zur Fabrik elastisch schritt, sich weich in den Hüften wiegend, so blieb wohl manches Männerauge an ihr in heimlicher Bewunderung hängen. Und wenn sie dann und wann Sonntags den Tanzboden betrat, so genoß sie Triumphe einer Königin. Es ging etwas Bannendes, heiß Umstrickendes von ihr aus, ein Durst, ein Schrei nach Lebensgenuß und Liebe.

Wie das so eintönig doch heute wieder von dem grauen Himmel herniederstockte! Maria saß in der größeren Stube am Fenster und stichelte emsig an einem grellbunten Seidengewande. Seitlich auf der Kommode lagen ein Samtmieder und eine phantastische Flitterkrone. Fastnacht war ja heute, und da wollte sie glänzen; Männerarme sollten sie heiß und werbend umfangen, Männeraugen sich in ihrem Anblicke verzehren. Gefallen wollte sie allen; nur ihr Herz, das gehörte dem einen, der vor Jahresfrist ein stattlicher Husar geworden war und den sie heute abend auf Urlaub erwartete. Wenn er erst loskäme, da sollte mit der Hochzeit nicht mehr allzulange gewartet werden. Mit der Hochzeit!

Maria hob bei diesem Gedanken plötzlich wie schuldbewußt den dunklen Kopf und lauschte in den Nebenraum, dessen Tür halb offen stand. Aber die Schwester schlief ja. Die brauchte gar nicht erst zu wissen, was sie heute abend vorhatte. Es würde ihr doch nur Kummer bereiten.

Da regt es sich nebenan. Ein leiser Ruf läßt sie aufstehen und nach der Schwester schauen. Diese streckt ihr die magere Hand entgegen.

»Komm her, Maria! Setz dich einen Augenblick zu mir; du holst's ja mit der Arbeit bald wieder ein. Ich habe so schön geträumt. Ich war fast wie im Himmel! Und denk dir nur: er war auch da, der Robert ... stattlicher geworden ... aber erkannt hat er mich gleich ... war so freundlich und gut zu mir, wie damals, da ich ihm mein Herz schenkte ... vor zwei Jahren ... ehe er in die Fremde ging! Vielleicht kommt er nun doch wieder ... nächsten Frühling ... wenn ich erst wieder aufstehen darf... wenn ich ganz gesund bin!« Ein schwaches Lächeln überzieht ihr fiebriges Gesicht, und sie drückt der Schwester Hand fester. »Ach, der dumme Husten!« Abgewandt hat Maria der Schwester zugehört. Seltsam fliegt es über ihr Gesicht. Als der Hustenanfall vorüber ist, fährt die Kranke fort: »Robert König! Wie stolz das klingt! Es muß eine Seligkeit sein, seine Königin zu werden! Dann sollst du es auch wieder besser haben, Maria, nicht mehr so viel arbeiten ... wie jetzt ... für zwei! So, und nun gib mir die Bibel; ich möchte lesen, damit ich dich nicht länger aufhalte.«

Maria ist aufgestanden, hat ihr die Bibel aus der Nebenstube geholt und begibt sich dann wieder ans Fenster.

»Sie quält mich mit ihren Worten, und ich bin doch unschuldig daran! Ich bin nicht zur Verräterin an ihr geworden, nahm nur hin, was ich nicht mehr abweisen konnte.« Eine Weile starrt sie in das Flockengetriebe, dann setzt sie ihre Nadelarbeit fort.

Aus der Nebenstube aber erklingt leise eine hoffende Stimme.

Marias Augen gehen unruhig hin und her. Als wieder ein Hustenanfall die Lesende unterbricht, da ruft sie bittend: »Du solltest dich schonen, das Sprechen strengt dich an!«

Nach einer Weile ein heimlich klingendes Lachen; dann vernimmt Maria:

»Ja, du wirst mit deinen Augen deine Lust sehen und schauen, wie es den Gottlosen vergolten wird!«

Maria hält in ihrer Arbeit inne; sie fährt sich wie verwirrt über die Stirn, scheue Blicke nach der Krankenstube werfend. Drinnen sinkt das Vorlesen zum Gemurmel herab. Dann noch einmal klingt es laut wie ein befreites Aufjauchzen: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen. Daß sie dich auf den Händen tragen, und daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stößest.« Maria hört, wie die Kranke sich im Bette lebhafter regt. Wie im eigenen Selbstgespräch flüstert sie vor sich hin. Und einmal vernimmt die Horchende deutlich nur das eine Wort: »Königin!« Und dann nach einer Weile: »Ach ja, das wäre schön! – So – schön!« Dann wird's ganz still. Wieder ist die Schwester in Schlummer gesunken.

Sie schläft noch, da der Abend sich längst auf die Erde niedergesenkt hat. Ein paarmal hat sich Maria leise zur Tür geschlichen, den Atemzügen der Kranken zu lauschen. Dann beginnt sie sich zum Fastnachtsfest zu schmücken. Wie der volle Busen sich gegen das schnürende Mieder bäumt, als wolle das Herz springen im Vorgefühl nahender Lust! Und nun die Flitterkrone auf, unter der ihr Haar sich wie dunkle Schlangen hervorkräuselt, um die Schläfen irrt und in den gewölbten Nacken sich verliert! Ja, sie ist schön, heute abend doppelt schön! Jeder Aufblick in den Spiegel sagt ihr dies mit gesteigerter Macht und Überzeugung.

Noch einen Blick in den Spiegel, dann noch einen in die Nebenkammer; schnell huscht sie hinaus. Draußen hängt sie sich den weiten Thüringer Mantel über, dann schleicht sie ganz leise aus dem Hause. Drüben bei der Nachbarin pocht sie flüchtig an, läßt sich bewundern und empfiehlt der alten Frau, doch heute abend noch einmal nach der Schwester zu sehen. Dann hinaus in das Flockengetriebe!

Die Nachbarin ist nach einer Stunde in das Häuschen der Schwestern gegangen. In der dunklen Stube hat sie sich auf den Fußspitzen bis zu der Kammertür geschlichen. Neben dem Bette brannte die Nachtleuchte. Mit geschlossenen Augenlidern lag Martha da, schlafend und im Antlitz den Ausdruck stillen Glückes. Da ist die Nachbarin wieder hinübergehuscht.

Es mochte gegen Mitternacht sein, als Martha erwachte. Sie rieb sich die Augen. Hatte sie denn vorhin geträumt? Oder mit wirklichen Augen gesehen? War nicht eine herrliche Erscheinung mit einer bunten Krone im dunklen Haar an der Tür gewesen und hatte herüber nach ihr geblickt? Schön wie eine Königin? Und das Angesicht fast wie die eigene Schwester? Es war wohl nur ein Traum gewesen?

»Maria!« Keine Antwort. Es war wohl schon spät und die Schwester hatte sich oben im Giebelstübchen zu Bett begeben.

Martha richtete sich mühsam auf. Eine so sonderbare Unruhe quälte sie. Aber rufen wollte sie doch nicht. Es würde auch wieder vorübergehen. Es ging ja überhaupt viel besser denn früher. Noch ein paar Monate, da war der Frühling da, da wollte sie aufstehen, in die warme Luft gehen ... in den Wald ...

Wieder dies aufkeimende Angstgefühl! Sie tastete nach dem Nachttisch, auf den sie gegen Abend die Bibel niedergelegt hatte. Darinnen wollte sie wieder lesen.

Sie zitterte ein wenig, als sie das schwere Buch zu sich heranzog. Und noch ehe dies vor ihr zu liegen kam, da glitt ein zusammengefalteter Brief aus den Seiten. Schon wollte Martha das Schreiben wieder hineinlegen, da fiel ihr Blick auf die Schriftzüge. Und dann fuhr es ihr wie ein Schlag durch den Leib. War das nicht seine Hand, die es geschrieben? Seine, die einst so manches Mal liebe Worte gesandt, die nun seit Jahr und Tag sich nicht mehr geregt hatte!

Mit bebenden Händen entfaltete sie das Schreiben. Von ihm!

»Heißgeliebte Marie!

Ich habe nun doch drei Tage Extraurlaub erhalten und komme zu Fastnacht gegen Abend an. Ich freue mich unbändig, Dich wieder in meinen Armen zu halten, Dir von den Lippen all Deine Liebe zu küssen. Sehnsucht ist ein dummes Ding. Und schön wirst Du aussehen, wie eine Königin! Ich zähle schon die Stunden und grüße Dich bis dahin vieltausendmal als Dein getreuer

Robert König.«

Ein weher Schrei hallte durch das einsame Gemach, schrill, herzzerreißend. Das letzte Abschiedswort an dies Leben! Mit hartem Aufschlag fiel die Bibel über die Bettdecke zur Diele nieder. Die linke Hand zerknitterte das Papier, während die Rechte wie anklagend sich zum Himmel emporhob.

Noch ein Schütteln, ein verwehendes Zittern, dann war alles still. In der großen Stube tickte die Wanduhr eintönig hin und her, und draußen rieselte es in dichten Schleiern hernieder.

Gegen Morgen war es, da Maria heimkehrte. Robert hatte sich bis in den Hausflur mit eingedrängt. Da hielten sie sich fest umschlossen und tranken Leben und Liebe in verzehrenden Küssen. Endlich aber schob sie den Geliebten sacht hinaus.

»Wenn sie es hörte, Robert! Ich könnte sie nie wieder anblicken! Geh, geh!«

»Auf Wiedersehen morgen!«

»Ja, ja! Auf Wiedersehen! Morgen! Gute Nacht, Robert!«

Leise fiel die Tür ins Schloß. Draußen hängte Maria den Mantel wieder an die Wand, dann machte sie Licht. Im nächsten Augenblick trat sie in die Krankenstube.

Schlief Martha? Ein Schritt näher! Die Augen starr, weit aufgerissen, als könne sie etwas Unerhörtes nicht fassen, die Rechte anklagend zum Himmel erhoben, wachsbleich, so lag die Schwester vor ihr. So war sie aus dieser Welt hinüber in die Ewigkeit gegangen. Ohne ein letztes Wort; ohne Versöhnung.

»Martha! Martha! Vergib mir!«

Mit einem wilden Schrei brach die Fastnachtskönigin neben der Bibel vor dem Totenbette zusammen.

Draußen unterdessen brach im Osten zögernd die Morgendämmerung des Aschermittwochs an, der graue, trübe Abschluß aller tollen Ausgelassenheit und hungriger Lebensfreude.


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