Wenn die Sonne sinkt
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Kirmesjubel.

Nicht das Weihnachtsfest mit seinem sinnigen Zauber, nicht das von Blütenduft und Sonnenschein umwobene Pfingsten ist dem Thüringer Waldbewohner so hoch und heilig wie die Kirmse. In seiner Kirmse begeht er das größte, seligste Fest des Jahres. In ihr verkörpert sich für ihn frischquellende Lebenslust, Übermut, Tafelfreude, Ausruhen, Tanz und süße Minne. Für sie wird gearbeitet, gespart, gehofft, gedarbt. Und war das Jahr eine Niete, schlugen Hoffnungen fehl, saßen Sorge und Kummer am Herde: zur Kirmse heißt's sich austoben, genießen. In dem Strudel dieser Tage begräbt man dann alles, was bisher das Herz bedrückte. Je mehr die Zeit heranrückt, um so stürmischer wallt das Blut auf. Selbst über die Alten kommt's mit Wundermacht. Die Augen leuchten wieder, alles strafft sich noch einmal auf. Denn Kirmse bedeutet goldene Jugend – wenn auch nur noch in der Erinnerung.

Von oben bis unten wird das Haus gesäubert, frische Fichtenzweige werden vor die Haustüre niedergelegt. Alle Fenster blitzen, der beste Staat wird hervorgesucht, vom Morgen bis zum Abend sieht man erregte Weiber mit runden Kuchenblechen auf den Köpfen die steilen Berggassen auf und nieder eilen. Der Junge kommt als Krieger aus der Stadt, die Tochter, wenn sie nicht in die Fabrik geht, dient irgendwo und wird auch erwartet. Und gibt die Herrschaft keinen Urlaub, dann gibt sie ihn sich selbst. Dann flieht sie – koste es auch ihre Stellung. Denn kein Städter kann es ahnen, was der Waldschönen Kirmse bedeutet, welch ein Rauschtrunk ihr im Vorgefühl naher Seligkeiten durch die Adern braust. Nur einmal ist man jung, nur vor der Jugend wogt das Leben wie ein buntes Blütenfeld. In der Kirmse verdichtet sich alles: Jauchzen und stammelnde Liebe, Lachen und – heimliches Weinen.

Auch die Natur hat heute ein so prächtiges Feierkleid angelegt. Sehen auch die mageren Felder müde, farblos und abgeerntet aus, der Bergwald strahlt um so feierlicher! Blutrot und gelb, braun und goldig schimmert er in allen Schattierungen der Buchen und Eichen, Birken und Lärchen. Dahinter ragt der dunkle Nadelwald auf, vom Grün bis zum Blau verblassend und verdämmernd in der Ferne. Und der lachende Himmel spannt seinen leuchtenden Azurbogen wie ein Riesenzelt über all diese Herrlichkeit aus, so klar, so duftig, daß man meint, man müsse hinüberschauen können in die Gefilde der Seligen, die da friedvoll einherwandeln und den musizierenden Engelein lauschen.

An solch einem Tage scheint selbst die Luft wie durchsättigt von Freude zu sein. Wie feierlich heute der Morgen, als ich von dem Bergstädtlein an der Ilm hinan zum Gebirge stieg! Aus einem Dorfe an der Waldsaumstraße drang das Geläut einer Glocke empor. Und als weckte ihr Klang die schlafenden Schwestern, so hob es jetzt an, da und dort, aus Schluchten und dem offenen Lande, melodisch, feierlich durcheinander hallend, die laue Luft durchzitternd, zwischen den Stämmen des Hochwaldes verschwimmend. Und dann verklang und versank alles hinter mir.

Aus stundenlanger, einsamer Wildbahn bin ich gezogen und habe mich der ruhevollen Grüße unseres Bergwaldes gefreut. Ab und zu ein Blick jach in die Tiefe auf schiefergedeckte Hütten, auf Wasser, die aus Fels- und Waldnacht in ein von Mühlen und Pochwerken durchpulstes Tal silberschäumend rannen. Und dann umraunte mich wieder das Gewirr der Tannen. Eichkätzchen schossen über den Pfad, im Dickicht brach aufgestörtes Wild durch. Einmal donnerte ein Auerhahn ab.

Noch einmal vernahm ich fern Glocken aus den Walddörfern. Der Kirche war ihr Recht gegeben, die Lust, das Leben pochte da unten nun auf seinen Schein. Meinen Kirmseschmaus hielt ich allein ab inmitten zerklüfteter Felsenpracht. Tief unter mir, dem Auge nicht erreichbar, rauschte ein Wildwasser durch einen engen Grund. Darüber buckelte sich Berg an Berg. Einige Ortschaften grüßten mit ihren silbergrauen Hütten im Sonnenglaste von fernen Höhen. Ein Bussard zog schweigend seine Kreise über dem Waldtale, der einzige Genosse meiner Einsamkeit.

Dann ging's im frohen Wandern weiter über Berg und Tal. Die Sonne ist mit mir gewandert, schneller denn ich. Jetzt rückt sie drüben dem dunklen Bergwalde näher, dessen höchste Wipfel allmählich in das purpurgoldene Flimmern hineintauchen. Noch über eine kleine Bergmatte hin, durch einen schmalen Waldstreifen. Kinderlärm, Hundegebell dringen näher. Das Dorf, in dem ich für die kommende Nacht bei alten Freunden Unterschlupf suchen werde, kündet sich an.

Da liegt's vor mir ausgebreitet: grauschiefrige Hütten, unregelmäßig ausgestreut; hier die ragende Kirche, dort, noch höher, die Porzellanfabrik mit hohem Schlote, die aber heute feiert. In dem Moose unter blutroten Buchen sitze ich nieder. Vor mir ruht ein Teich; die Felswand zur Seite beschattet ihn. Vom Winde niedergewehte Blätter treiben langsam darauf hin; ab und zu rieselt es von den Bäumen hinter mir lautlos im bunten Regen nieder auf die melancholische Flut.

Als ich vor langen Jahren zum ersten Male hier weilte, da taufte ich ihn in elegischer Stimmung den »Tränenteich«. Die Freunde lächelten damals, aber der Name blieb zwischen uns bestehen. Und dann kam eine Stunde, da hat er ihn auch verdient.

Horch! Horn und Fiedel klingen herüber. Der Brummbaß ächzt, dazwischen schallt deutlich das Stampfen und Johlen der Tanzenden. Kirmsejubel!

War's nicht auch an einem Kirmsetage, als ich damals auf dem Tanzboden die Annemarie zum ersten Male im wilden Reigen schwenkte? Die Freunde hatten mit mir auf ein Paar Stunden das Wirtshaus aufgesucht. »Die Leute erwarten es,« sagten sie, »und Sie werden dabei viel Ursprünglichkeit, Landesübliches schauen!«

Da war mir die Annemarie rasch in die Augen gefahren. Sie war die schönste aller Mädchen, aber wohl auch die ärmste. Noch sehe ich sie vor mir, das dunkelblitzende Auge unter vollem, leis gekräuseltem, nußbraunem Haar. Von dem straffgespannten Mieder floß ein grüner Rock nieder, vielfach gefaltet und mit schwarzsamtenen Streifen unten umgeben. Dazu weiße Zwickelstrümpfe und Rosettenschuhe. Noch fühle ich den heißen, süßen Atem, der mich umwehte, als sie, fest an mich gedrückt, mit mir dahinflog.

Sie lächelte kaum, wenn ich ihr ab und zu einen Scherz zuflüsterte. Die Augen halb geschlossen, leise die vollen Lippen geöffnet, trinkend wie im Rausche das Glück der Stunde, so lag sie in meinem Arm. Nur einmal flüsterte sie fast unhörbar:

»Ach! Tanzen ist schön ... so schön!«

»Möchtest wohl immer so hintanzen, Annemarie? Durchs ganze Leben?«

»Möcht's freilich ... wenn's nur anging'!«

Das war das erste und das letzte Mal, daß ich das hübsche Mädel im Arme hielt. Denn für diesen Abend gehörte sie einem andern. Das war der Sohn des Schultheißen, der auf Urlaub daheim war, ein gesundheitstrotzender, etwas siegesgewiß und selbstgefällig in die Welt schauender Bursche, dem man's ansah, daß er es wußte, wie gut ihm des Königs Rock stand. Die anderen Burschen wagten sich gar nicht an die Dorfschöne. Nur dem »Städter« war es als Gast des Fabrikherrn gestattet gewesen, Annemarie durch den Saal zu schwenken.

Was fragte Annemarie danach, daß man hinter ihrem Rücken tuschelte, lachte, wohl auch mitleidig die Achseln zuckte? Sie wollte glücklich sein, sie war es. In diesen Stunden konnte sie doch all das Unglück daheim vergessen: das Siechtum der Mutter, den trunkenen Vater, Elend, Schläge, Not. »Tanzen ist so schön!«

Hatte sie sich denn ihm aufgedrängt? Am Tage vor der Kirmse war er heimgekehrt. Sie kam aus dem Holze. Da trafen sie sich. Die Straße war ja für jedermann. Da hat er sie begrüßt, ihr die Hand geschüttelt, ihr lange in die Augen geblickt, so sonderbar, daß es wie ein Schauer über ihren Leib lief. Und dann hatte er sie gefragt, ob sie für die Kirmse seine Tänzerin sein wollte.

Fast ungläubig hat sie ihn angeschaut. Aber er drängte immer heißer in sie – da sagte sie's ihm zu. Burschen und Mädel wollten ihren Augen nicht trauen, als dann die beiden Arm in Arm im Tanzsaal auftauchten. Der Schultheiß-Volkmar und die arme Kirchenmaus aus der letzten Hütte droben im Dorfe! Für Annemarie aber war der Himmel zur Erde niedergestiegen. Drei Tage durfte sie an seiner Seite bleiben. Was hatte er ihr alles heimlich versprochen! Und ihr Herz glaubte daran, mußte daran glauben, sonst gäbe es ja keine Gerechtigkeit auf Erden. Alle Hindernisse wollte er beseitigen, sein sollte sie sein ... nicht nur für diese Tage ... fürs Leben. Denn sie wäre schöner und klüger als alle anderen, und nach Geld brauche er doch nicht zu fragen. Jedes Wort sog sie ein, jeder Herzschlag galt ihm, dem sie vertrauend Leib und Seele, all ihre Seligkeit hingegeben hatte.

Der Vater lag irgendwo berauscht im Wirtshause ... Mutter schlief fest ... und die Tannen nahe am Häuschen, die Sterne droben, die blieben verschwiegen.

»Ostern komme ich wieder, und dann wollen wir es festmachen vor aller Welt!« hatte er zu ihr gesagt. »Da bringe ich dir auch einen Ring mit, ein Herz darauf und Vergißmeinnicht.« – –

Wohl kam Ostern in das Land, aber der Volkmar blieb aus, schrieb auch nicht. Aber im Sommer erschien er plötzlich, dem Vater draußen zu helfen. Nur die Annemarie schien er vergessen zu haben. In verzehrender Ungeduld, in Weh und Not sah sie die Tage kommen und gehen. Und dann kam eines Tages eine Nachricht ihr ins Haus, welche ihr Blut fast erstarren ließ. Es hieß, der Volkmar habe sich mit einem reichen Mädchen im Nachbardorfs unten verlobt.

Da hat sie ihn abgelauert im Walde zur Abendzeit, als er hinüber ging, und hat ihn unter Tränen zur Rede gestellt. Aber die Tränen versiegten und machten Haß und Abscheu Platz, als er lächelnd ihr erklärte, sie solle doch keine Torin sein und sich die Jugend verderben. Er hätte ja gern sein Wort eingelöst, doch sein Vater würde ihn verstoßen haben. Er habe sich gefügt, und sie solle es auch tun. Sie wollten beide noch oft an die schönen Stunden denken. Sie sei so hübsch, daß sie nur die Hand auszustrecken brauche, um einen Mann zu bekommen.

»Und das ist dein letztes Wort, Volkmar?«

Er zuckte gleichmütig die Schultern.

»Nun sei doch gut! Ich kann doch nichts dafür!« Dann ist er gegangen.

Im Herbst, ein paar Wochen nach der Heimkehr Volkmars vom Militär, fand im Nachbardorfs die Hochzeit statt. Der Saal des Gasthofes »Zum Wilden Mann« vermochte kaum die Zahl der Geladenen zu fassen. Das war 'mal wieder eine Hochzeitsfeier, wie sie der Wald lange nicht gesehen hatte!

Als nachmittags die Festtafel abgeräumt und beseitigt war, die Musikanten wieder auf der Estrade Platz genommen hatten und Volkmar und sein junges Weib sich anschickten, den althergebrachten Brauttanz zu beginnen, da geschah etwas Außerordentliches.

Durch die Festmenge drängte sich plötzlich Annemarie, in dem Kleide, das sie damals zur Kirmse getragen hatte, auf dem Kopfe aber eine langbebänderte, von Goldflittern übertupfte Brautkrone. So trat sie vor die erschreckt zurückweichende junge Frau.

»Den du heute heimführst,« rief sie laut, daß alle es hören mußten, »ist mein vor Gott, mein nach Menschenrecht. Er versprach mir die Ehe und nahm mir Glück und Ehre. Seinen Schwur hat er gebrochen, die Ehre kann ich nimmer von ihm mehr fordern. Aber auf dem Brauttanze will ich bestehen ... den soll ... den muß er mir geben. Dann mögt ihr so glücklich werden, wie er mich unglücklich gemacht hat.«

Betroffen, wie zermalmt blickte der Ehemann zu Boden. Die junge Frau aber sprach:

»Nimm den Brauttanz, den er dir eher als mir einst versprach!«

Im nächsten Augenblick flog Annemarie mit Volkmar durch den Saal. Noch einmal bettete sie ihr Haupt an seiner breiten Brust, noch einmal trank sie alle Wonnen und Wehen dieses letzten Tanzes. Dann war sie hinaus, von der Nacht umfangen.

Am anderen Tage sah man ihr todblasses Antlitz langsam im Tränenteiche dahintreiben. – – –

Hinunter ist die Sonne, in eine andere Welt. Abendwind setzt ein und überrieselt stärker als zuvor die Flut mit sommermüden Blättern. Aber der Kirmsejubel tönt jetzt noch lauter in die feierliche Stille der Natur.


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