Wenn die Sonne sinkt
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Sonnenwende.

Durch das Saaltal zog einsam, leis vor sich hinsummend, ein blonder, junger Mann. Zuweilen blieb er für ein paar Minuten stehen, blickte wie mit verklärten Augen in die blühende Pracht hinein, um dann still seinen Weg fortzusetzen. Dieser führte auf der Sohle des Tales zwischen hohem Riedgras hin, das von Millionen bunter Blumen heute durchweht sich zeigte. Ab und zu drängte sich dichtes Buschwerk dazwischen; mächtige deutsche Pappeln, weit ausladend, wölbten sich darüber. Hüben und drüben leuchteten die Uferhöhen, hier in sonnigen, kahlen Kalkfelsen, dort von Waldinseln bedeckt. Zuweilen schob sich der Turm eines hellen Dorfkirchleins dazwischen, oder von steiler Bergwand grüßte trauernd ein längst geborstener Rittersitz in malerischen Ruinen hernieder. –

Einmal blieb er wieder stehen, schnürte den Rucksack fester und ließ die Augen talauf und -ab schweifen.

»Zum Dichter möchte man heute werden,« murmelte er, »wenn man nicht bereits etwas auf diesen wenig einträglichen Posten abonniert hätte. Schöner konnte der Frühling nicht Abschied nehmen, denn wie er es heut tut. Letzter Frühlingstag! Aber man soll nicht grübeln und trauern. Vorwärts! heißt die Parole!«

Buntbemützte Musensohne aus dem nahen Jena, von großen Hunden begleitet, schritten singend an ihm vorüber. Er lauschte ihnen nach, bis ihre flotten Weisen sacht in der Ferne verschwammen. Währenddem rollte die Sonne auf feuriger Bahn längs der Hügelwellen hin, der Fluß zu seiner Rechten gurgelte zwischen Schilf und Weiden eintönig hin, überall Leben, Bewegung, Duft, Klang und Farbenfreude. Der Wanderer blieb wieder stehen, brach von einer wilden Rosenhecke am Wege einige halbaufgeblühte rote Rosen, und betrachtete sie mit leuchtenden Augen. Und dann kam es plötzlich von seinen Lippen:

Sonnenschein auf Berg und Tal,
Rosenblühen überall,
Selig Leuchten ohne Ende,
Schönheitstrunkne Sonnenwende!

Er mußte es ziemlich laut dahin geschwärmt haben. Denn plötzlich vernahm er nicht ohne Verlegenheit hinter einem rückwärts gelegenen Gebüsch einige durcheinanderwirrende Mädchenstimmen.

»Kinder! Ein Dichter ist in unser Tal herniedergestiegen! Still, still! Vielleicht verzapft er noch eine neue Offenbarung! – Wenn die Muse ihn küßt, sonst wird's gewöhnlich nichts! – Ich meine ein reeller Kuß – – Aber Martha! – Natürlich, unsere Gabriele fürchtet schon wieder eine Entgleisung! Ach, du lieber Gott! nicht 'mal – – –«

Bei den letzten Worten war die kleine Mädchengesellschaft um das Gebüsch in den schmalen Fußpfad eingebogen, auf dem der junge Mann noch immer neben dem Rosenstrauch stand, eben damit beschäftigt, die abgebrochenen Blüten an seinem Lodenhute zu befestigen. Ein leiser Aufschrei aus erschrecktem Mädchenmunde, ein verstohlenes Kichern, dann schritt die kleine Schar Jenenser Schönen mit etwas queren Blicken an dem Wanderer vorüber! Nur eine von ihnen hielt die Augen still vor sich hin gerichtet, und als sie dem Wanderer nahe war, da hob sie ihren Blick wie von ungefähr empor, und unter langen, dunklen Wimpern fanden zwei Augen ihren Weg zu den seinen. Wenige Sekunden später war alles wieder seinen Blicken entschwunden. Nur etwas wie mühsam verhaltenes Lachen schlug noch einmal an sein lauschendes Ohr.

»Sonnenwende!« flüsterte er, und dann fuhr er auf, wie von seiner eigenen Stimme erschreckt. »Erst läuft der Frühling Sturm auf mein Herz, und nun er scheiden muß, da gibt er seine Macht an zwei Mädchenaugen ab. Augen, die reden konnten! Unsinn, Walter Platner! Ein ander' Städtchen, ein ander' Mädchen! So will's alter Wanderbrauch! In jede vorüberhuschende Schöne sich vergaffen wollen, das heißt ja auf eine Herzerweiterung hinarbeiten. So, und damit basta!« – Und er begann ein Lied zu summen und setzte seinen Weg durch das Tal fort. –

Gestern noch in der Redaktionsstube, und heute dahinwandern dürfen durch dieses echt deutsche Flußtal! Seine Brust hob sich, seine Augen glänzten auf. Ein Jahrzehnt sank von seinem Leben zurück. Nun war er selbst wieder ein froher Student, einer der sangeslustigsten der Verbindung. Wie keck ihm die bunte Mütze saß! Und ein Glück hatte er bei den Mädchen, um das ihn zuweilen seine Kommilitonen heimlich beneideten. Doch sein Herz war frei geblieben, nur eine Fülle Lieder war aus diesen Tagen lenzfrischer Jugendwonne emporgeblüht, die er in einem Büchlein herausgegeben hatte, und die sogar Beachtung und ihm dann auch noch eine gutbezahlte Stellung bei einer größeren Zeitschrift eingetragen hatten. Wie hatte er sich aus seiner Arbeitsstube, in die nur durch einen Lichtschacht der gedämpfte Gruß des Tages mühsam drang, hinaus in die sonnige Freiheit gesehnt!

Er zog tief die balsamische Luft ein, er schwang den Knotenstock und lachte still für sich hin:

»Wahrhaftig, wie ein Junge komme ich mir vor, der in die Ferien stürmt, um nur so schnell wie möglich bei Mutters Fleischtöpfen zu sitzen. Meine Mutter heißt heute Natur, was mir den Schritt beflügelt aber Freiheit! Freiheit und – Unsinn! Aus den Augen, aus dem Sinn! Man kann doch auch 'mal mit offenen Augen träumen! Rosen und Mädchen: in diesen Junitagen blühen sie alle in gedoppelter Schönheit!« Und laut sprach er hinaus:

Viel Rosen blühn im Sonnenschein,
So wandern wir fröhlich in den Sommer hinein,
Grüßen die Heimat, schwingen den Hut:
Wandersleuten ist unser Herrgott gut!

Die Sonne stand schon tief, als Walter Platner aus den wildumbuschten Trümmern der Lobdaburg hervortrat und sich nun im Schuhe der Außenmauer zur Rast niederließ. Es sollte dies für heute sein letztes Ziel sein, ehe er im Städtchen drunten für diese Nacht vor Anker gehen wollte. Drüben im Westen ging die Sonne scheiden. Fast wie zögernd senkte sie sich zitternd zu den magisch aufschimmernden Bergwellen nieder. Aus dem Gebüsch ringsum drang der Duft der wilden Rosen, Vögel sangen im Abendscheine, leises Wehen ging einher. Manchmal schien es, als trüge der Wind Mädchenstimmen aus einem Garten unten in der Stadt herauf. Und dann lauschte der einsame Wanderer mit gedoppelter Aufmerksamkeit auf.

»Daß ich diese Augen nicht wieder vergessen kann!« murmelte er einmal. »Eine rief: Gabriele! So kann nur sie heißen! Namen verbinden sich für mich mit ganz bestimmter Stimme und Gestalt. Gabriele!« Er schüttelte den Kopf, als wollte er weiterem Nachgrübeln energisch abwehren. »Was geht mich das Mädchen an? Morgen ziehe ich weiter, werde es niemals wiedersehen. Sei vernünftig, alter Junge! Goethe machte flugs ein Gedicht und löste damit seine arme Seele frei! Will's versuchen!« Und er starrte in die flimmernde Abendglut, und seine Seele hielt Feiertag. –

Kollernde Steine, Stimmengewirr und sich nähernde Schritte ließen ihn aufsehen. Bald darauf hielten einige Musensöhne dicht neben ihm. Sie schienen gleich ihm hier hinaufgestiegen zu sein, den Zauber dieser Abendstunde unter Trümmern zu genießen. Man ließ sich grüßend im Grase nieder, ein Wort gabs andere wieder, und als Walter Platner sich als zu derselben Verbindung zugehörig bekannte, da gab's ein Vorstellen, Händeschütteln und Nötigen, den heutigen Abend mit ihnen drunten verleben zu wollen. Flotte Jenenserinnen seien auch da, es werde ein lustiger Abend, und an Sonnenwendfeier solle es auch nicht fehlen.

»Einen Dichter muß es ja doppelt schmeicheln, wenn er erfährt, daß sogar Verehrerinnen seiner Muse sich darunter befinden!« scherzte der eine Student.

»Du meinst Gabriele Meißner?«

»Wen sonst? Die Tochter unseres Anatomieprofessors! Der Alte hantiert mit dem Messer, sein holdselig Töchterlein verzapft Lyrik! Und für unseren neuen Freund hat sie besonders etwas übrig. Beim letzten Winterball hat sie mich stark in Verlegenheit gesetzt, daß sie mich um mein Urteil fragte, trotzdem ich – Pardon! – bis dahin nicht eine Zeile Platner gelesen hatte. Zu meiner Entlastung aber: ich habe alles nachgeholt und werde heute abend dem Dichter unten einen Ganzen kommen!«

Walter Platner hatte nicht lange überlegt. Ihm kam diese unverhoffte Einladung wie ein Fingerzeig des Himmels vor, den er beachten müsse, weil vielleicht ein Stück Lebensglück für ihn davon abhänge.

»Mit herzlichem Dank nehme ich als einsam fahrender Mann die Einladung an!« rief er. »Doch unter einer Bedingung: daß ihr mich unter anderem Namen in den lustigen Kreis einführt. Es würde mir peinlich sein, eine sogenannte Verehrerin darunter zu wissen. So bleibe ich Müller oder Schulze, je nach eurer Mildtätigkeit. Einverstanden?«

»Angenommen!« hallte es durcheinander. »Das wird ja famos, wenn dann doch die Maske fällt!«

»Mit dem Gürtel, mit dem Schleier ...« deklamierte ein anderer.

Die Sonne war längst hinter den verblassenden Höhen niedergegangen, als man die Wanderung nach dem im Abendfrieden ruhenden Städtchen endlich antrat. –

Walter Platner hatte erst nach seiner Ankunft im Gasthause sich eines Nachtquartiers versichert, sein Abendessen eingenommen, als er sich endlich in den Garten hinabbegab, aus dem ihm bereits fröhliches Lachen entgegentönte. Seine jungen Freunde von der Verbindung waren mitten im ausgelassensten Spiel mit einer Schar Mädchen, unter denen er mit raschem Blicke und hochschlagendem Herzen jene Schöne wiedererkannte, deren Augen ihm heute drunten im Tale so eigenartig begegnet waren. Die Nacht herrschte schon lange unter den Lindenwipfeln des Wirtsgartens, der nur von wenigen schwach brennenden Laternen beleuchtet wurde. So fand er Zeit und Gelegenheit, sich erst in Ruhe die Spielenden zu betrachten.

»Herr Wirt, wie steht's mit dem Holzhaufen zum Sonnwendfeuer?« klang jetzt eine Stimme.

»Hinten am Berge ist alles bereit, meine Herrschaften,« entgegnete der Gefragte.

»Ich denke, damit hat's noch Zeit!« wurde von anderer Seite eingeschaltet.

»Natürlich, erst spielen wir noch eine Weile!« »Also, wer ist dran? Fräulein Meißner! Was soll der tun, dem dies Pfand – –« Der Redner wurde durch das Hervortreten Platners unterbrochen. Letzterer sah nur noch, wie einige Mädchen sich heimlich anstießen, zum Beweise, daß sie den Ankömmling wiedererkannten, dann hatten ihn bereits die Musensöhne fröhlich umringt.

»Famos, famos!« klang es durcheinander. »Meine Damen, gestatten Sie: Herr Walter Windheim – –«

»Verehrtes Mitglied unserer Verbindung – –«

»Legationsrat in spe – –«

»Zurzeit im Kolonialamt außerordentlich – –«

»Wahrscheinlich für Westafrika – –«

»Darf ich bitten: Fräulein Meißner – Fräulein –« Eine Reihe Namen schwirrten an das Ohr des jungen Mannes, der sich nach allen Seiten verbeugte und sich darauf zu der ihm zunächststehenden Dame wandte. Leicht lächelnd sagte er:

»Fräulein Meißner? Ich irre mich nicht: wir sahen uns heute bereits schon einmal! Drunten – im Tale – wo die wilden Rosen blühen?« Sie hob ihre Augen. Wieder der gleiche tiefe Blick, der ihm alles Blut rascher zum Herzen trieb.

»Ich habe Sie auch gleich wiedererkannt,« sprach sie halblaut, als sollten es die anderen nicht hören. »Ich hätte Sie nicht für einen Juristen eingeschätzt, wenigstens nicht da unten – – bei den Rosen.«

»Verdammt,« dachte Platner bei sich, »daß ich mich verleugnen ließ.« Dann aber lächelte er und erwiderte:

»Man täuscht sich oft im Leben! Immer noch gut, wenn man dabei nicht gar zu schlecht wegkommt. Ich bedauere lebhaft, daß ich Ihnen in dieser Beziehung eine gewisse Enttäuschung bereiten mußte.«

Sie antwortete nicht darauf, zumal auch beide jetzt ins Spiel gezogen wurden. Er war nach der ersten kurzen Unterredung mit ihr an ihrer Seite stehen geblieben und nahm jede Gelegenheit wahr, im Halbdunkel der Wipfel sie ins Gespräch zu ziehen. Er glaubte sogar mit seinem heißen Herzen zu fühlen, daß sie danach trachtete, ihren Platz an seiner Seite nicht zu wechseln und sich freute, so oft er nur das Wort an sie richtete. Ihr aber war's zuweilen, als hätte sie den hohen, blonden Mann schon lange gekannt und nach langer Trennung sähe sie ihn heute wieder. Die frische, freie Art seiner Rede, leise poetisch durchhaucht, berührte sie wie von einem Traume umsponnen, Neues und längst Vertrautes schien sich in seinen Worten zu verweben.

Die flotten Musensöhne waren durch das Erscheinen des Herrn »Assessors« in ihrer Lustigkeit noch erhöht worden. Man war wieder zu dem Pfänderspiel zurückgekehrt. Ein merkwürdiger Zufall aber wollte es, daß weder Gabriele noch Platner bisher zum Abgeben eines Pfandes herangezogen werden konnten. Kurz vor dem Schluß des Spieles sollte Gabriele aber doch noch ein Pfand der Einsammlerin einhändigen. Dann schloß man, und der pikantere Teil der Auslösung begann. Da beide nur mit dem einen Pfande daran beteiligt waren, so fanden sie jetzt noch mehr Gelegenheit, sich unbeobachtet zu unterhalten. Plötzlich aber sollte das Gespräch eine Stockung erfahren. Auf die Frage der Art des Auslösens eines neuen Pfandes hatte ein übermütiger Musensohn gerufen:

»Ein modernes Gedicht aufsagen und dann den Dichter küssen!«

Alles lachte. Stimmen wurden laut.

»Es ist ja kein moderner Dichter unter uns!«

»Schad't nichts! Dann gegen einen Baum ansagen und den küssen!« »Bravo! Bravo!«

Gabriele wandte sich an ihren Nachbar und sagte leise: »Was der Übermut alles verlangt! Meinetwegen!

In ein paar Stunden geht's in den Sommer hinein. Also ein Paar Reime auf kommende Sommerpracht!« Sie schritt gegen den nächsten Baum und begann zu deklamieren:

Rings grünes Waldgewoge,
Die Welt so licht, so weit,
Hoch über Bergeshäupten
Liegt Sommerherrlichkeit.

Ein selig tiefes Rauschen
Zieht aus dem Grunde auf:
Spann deine Flügel, Seele,
Und schwinge dich hinauf!

»Bravo, bravo!« schallte es durcheinander. »Nun den Dichter küssen!«

»Das heißt den alten Lindenbaum,« lachte Gabriele und wandte sich zu dem nächsten Baume. In demselben Augenblicke aber, da sie zum Kusse sich anschickte, stand plötzlich Walter Platner vor ihr. Erschrocken prallte sie zurück, Ihre Augen richteten sich fast stehend auf ihn.

»Was soll das?«

»Dem Spiel sein Recht! Ich trage nicht die Schuld, aber ich bin der – Dichter! Ein kleines Maskenspiel!« Der laute Beifall der heiteren Studenten ließ ihn aufblicken. Noch einen Blick auf das Mädchen vor ihm – und er beugte sich plötzlich und berührte mit seinen Lippen ihre Hand.

»Verzeihung!« stammelte er. »Der lauten Menge zu genügen.«

Ein Tanz im Saal schloß sich an das Spiel an. Doch so oft auch Platner versuchte, Gabriele zu gewinnen, war sie stets mit einem anderen davongeflogen. Fast mißmutig hatte er sich in den einsamen Garten zurückgezogen, als mit einem Male im Hintergrunde lichte Flammen aufschlugen. Das Sonnwendfeuer war entzündet. Jubelnd drängte sich alles heran. Plötzlich sah er sich neben Gabriele. Ein Paar Herzschläge lang blickte sie ihn an. Dann sagte sie:

»Sie zürnen mir? Sicherlich!«

»Und Sie mir auch, daß ich der arme Dichter bin?«

Statt aller Antwort sah sie ihn freundlich an. »Sonnenwende! Wollen Sie sie mit mir feiern?«

Da schlang er seinen Arm um sie, und beide wirbelten um die immer höher schlagende Feuerglut.

»Sonnenwende!« flüsterte er und sah sie im Tanze werbend und bittend an.

»Ja, Sonnenwende!« flüsterte sie und schmiegte sich leis und fester an ihn. Und dann holten beider Lippen heimlich nach, was sie am Lindenbaume vorhin versäumt hatten.

Sonnenwende ...


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