Wenn die Sonne sinkt
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Traumsegen.

Surrrrrr! dreht sich unablässig das Rädchen unter den steten und fleißigen Tritten des jungen Drechslers Anton Hornschuh. War's heute doch geradezu ein Vergnügen an der Drehbank zu stehen! Weit auf standen die niedrigen Fenster der kleinen Werkstatt. Ein Stieglitz hüpfte in einem Bauer auf und ab, und wenn er einmal scheinbar Atem zu neuem Anlauf holte, dann fiel draußen der volle Chor der Gartensänger ein und füllte die Luft mit Jubeltönen.

Surrrrrr! Wie Frau Sonne dem jungen Handwerker doch auf die Finger sah! Als mache es ihr selbst Spaß, dem geschickten Hantieren seiner Hände zuzuschauen! Über das Bergstädtchen und seine Gärtchen wob sie Feuergirlanden, schlang um die Kupferhaube des Kirchturms einen lohenden Kranz und zitterte durch nickendes Blättergerank in die Werkstadt, wo sie an der Wand auf einem Bilde hängen blieb, just als wollte sie doch auch einmal all die Männlein und Weiblein sich betrachten, welche in malerischen Kostümen zu einem hübschen Gruppenbilde sich vereinigt hatten. Darunter stand zu lesen: »Erinnerung an das Festspiel 1901.«

Und da blieb plötzlich auch der Blick des Drechslers an dem Bilde haften. Die Drehbank stellte für ein paar Minuten ihr Surren ein. Gedanken kamen und gingen.

War das damals eine schone Zeit gewesen! Nun war schon ein Jahr seitdem wieder verflossen. Die Proben und Vorbereitungen, dann der Festtag selbst – und immer in ihrer nächsten Nähe! Ihre Stimme – die dunklen Augen – die so leuchten und wieder wettern konnten! Der weiche Hauch ihrer Nähe, daß er alles darüber vergessen konnte! Da war er ein fahrender Ritter gewesen, stattlich angetan, und sie ein schmuckes, reiches Patrizierkind. Ach, er kannte fast alle Schmeichelworte noch auswendig, Worte, die sie stumm anhören mußte, stumm und selig, und dabei ihn endlich anschauen – so wollte es ja die Rolle. Wenn er diesen wundersamen Blick niemals doch aufgesogen hätte, den er nun nicht mehr vergessen konnte, der in ihm brannte wie Feuer Tag und Nacht.

Dreimal hatte man das Festspiel geben müssen, dann war zur Erinnerung dieses Bild angefertigt worden. Abschluß und Abschied zugleich! Noch einmal hatte er da in ihre Hexenaugen geschaut, während er ihren jungen Leib zärtlich umschlungen hielt – ganz im Charakter der Rolle! Ja, Hexenaugen! Sie hatten ihn zu einem andern gemacht.

»Veronika, du!« glitt es von seinen Lippen. Und surrrrrr! antwortete die fleißige Drehbank darauf. Mechanisch sauste sie weiter.

Bald nach dem Schlusse des Festspieles hatte er an dem Mädchen eine gänzliche Veränderung bemerkt. Als er sich ihr wieder eines Tages nähern wollte, es war gegen Abend draußen an der Stadtmauer, da hatte sie ihn ganz kühl und verwundert angeschaut und ein Mäulchen gezogen, das herzlich wenig nach Freude aussah. Und als er ihr sagte, daß er noch immer der alte sei, der die schönen Tage nicht vergessen könnte – da hatte sie laut aufgelacht, hatte ihn stehen lassen und war fortgeeilt, um ein Stück weiter sich einer Freundin in den Arm einzuhenkeln.

Er mußte es wohl ganz und gar mit ihr verdorben haben. An nichts schien sie sich mehr zu erinnern. Wie ausgelöscht jene Tage, an denen er noch mit glühender Seele zehrte. Seine Huldigungen ihr gegenüber blieben unbeachtet. Es schien ihr offenbar eine Luft, ihn wie den Schmetterling an der Nadel zappeln und flattern zu lassen.

An ihrem Geburtstage hatte er ihr eine schön vergoldete Karte zugesandt. Vergißmeinnicht flochten sich darauf zum Kranze, und oben drauf schnäbelten sich zwei weiße Tauben. Da hatte er hineingeschrieben: »Immer denk' ich an dich!« Keinen Namen. Sie mußte es ja wissen, von wem dieser Gruß in ihr Haus geflogen war. Aber als er sie tags darauf auf der Straße sah, verriet keine Miene, kein Wort, daß sie seinen Glückwunsch erhalten hatte. Sie schwieg auch still, als der Weihnachtsmann ihr eine reizende Drechslerarbeit für ihr Stübchen beschert hatte. Auf das Klingeln war sie hinausgehuscht. Doch da war niemand mehr zu schauen. Nur ein dicht verhülltes Paket lag auf der Türtreppe. Darinnen fand sie keine Zeile, nur das Geschenk.

Anton Hornschuh hatte alle Hoffnungen auf diese kühne Tat gesetzt. Als er Veronika dann aber am Silvesterball des Vereins »Frohsinn« im Tanze schwenkte, da schwieg sie. Nur ihre Hexenaugen blinzelten einmal merkwürdig über ihn hin. Das war alles. Die nächsten Tänze weigerte sie ihm. Sie sei bereits versagt, erklärte sie ihm ruhig.

So war's geblieben bis heute. Winter, Frühling kamen und gingen. Nun stand man schon mitten im Sommer. Er wußte keine Mittel mehr, ihr sprödes Herz sich zu erschließen. Nur das eine wußte er, daß ohne sie kein Leben für ihn sei. Und darum, wenn sie so fortfuhr, so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Gewalt sich zu ertrotzen, was sie ihm doch nicht mit werbender Liebe geben wollte.

Surrrrrr!

Zwölf Uhr mittag schlug es vom Kirchturm. Rathaus, Stadttor und Schloß fielen mit ihren Uhren ein; grelle, unfrohe Dampfpfeifen der Fabriken gellten dazwischen. Dann hob das Glockengeläut an.

Anton horchte auf. Dann stand die Drehbank still. Er warf noch einen Blick auf das Bild an der Wand, dann begab er sich in die Wohnstube, in der seine Mutter mit dem Mittagbrot seiner wartete.

Es war wieder einmal recht still beim Essen hergegangen. Daß ihren Jungen etwas beschäftigte, ahnte seit längerer Zeit die alte Frau. Ihr Frauensinn mochte wohl auch auf der rechten Spur sein. Doch sie hütete sich weislich, mit hinein zu reden. »Er muß sich selber durchbeißen,« dachte sie bei sich, »wie er sich ja schließlich auch das Mädchen selber freien muß. Da geht Taten über Raten!« So schwieg sie über diesen Punkt und sprach nur mancherlei kleine Wirtschaftssorgen mit ihm durch. Auch über das Geschäft ging die Rede, das Anton Hornschuh an Stelle des vor einigen Jahren verstorbenen Vaters nun verwaltete, über das gute Heuwetter und was sonst noch einer einfachen Bürgerfrau am Herzen liegt.

Doch die Gedanken ihres Jungen waren heute nicht dabei. Immer wieder tauchten ein Paar braune Hexenaugen vor ihm auf. »Gesegnete Mahlzeit!« Mutter und Sohn hatten sich erhoben. Die alte Frau begann den Tisch abzuräumen, während Anton hinausschlenderte. Er wußte selbst nicht recht wohin. Zum Schlafen fühlte er keine Neigung. Er trat auf den kleinen Hof des väterlichen Anwesens. Einige Hühner gackerten um ihn herum. Ein Taubenpaar ruckste auf der Stange der Bodenluke. Darüber wölbte sich der blaue Mittagshimmel eines wolkenlosen Sommertages. Warum gerade heute so manches ihm wie eine Demütigung erschien, das er an ihr erfahren? Daß es in ihm so brennend aufbegehrte, als gälte es, heute Abrechnung mit der spröden Schönen zu halten?

Er öffnete seitlich eine kleine Mauertür, welche zu einer schmalen, von lebendigen Hecken eingefaßten Gasse führte. Diese wandelte er barhäuptig still hin. Die Sonne tat ihm so wohl. Er konnte sich dabei ausmalen, eine weiche Hand streichelte ihm über den Kopf, warme Lippen suchten die seinen, und Augen voll Glanz und geheimer Liebeswonne senkten sich tief in seine Seele. Vielleicht war's auch der Mittagszauber! Er kam sich wie verwunschen vor. Wo die Gärten endeten, da breitete sich eine weite, von Obstbäumen besetzte Wiese aus. Dahinter eine leichte Hügelwelle, dann Wald, immer Wald, höher und höher zum Kamme des Gebirges steigend. Auf der Wiese waren weiße Linnenstücke zum Bleichen ausgebreitet. Eine Gießkanne stand daneben. Unweit davon rann ein Bergbach nieder. Dort im Schatten eines Haselbusches ruhte eine Mädchengestalt.

Der junge Drechsler hatte sie zuerst gar nicht bemerkt. Der weiche Rasen dämpfte seine Schritte, daß auch sie sein Nahen nicht vernahm. Jetzt erst hob sie sich ein wenig und wandte den Kopf herum. Da lief es dem Träumer heiß und kalt über den Leib. Das Ziel, aller Inbegriff seines Sehnens – da ruhte es. Er meinte, sein Herz müßte in Erregung zerspringen.

»Veronika!« rief er freudig aus. »Veronika!« Alles jubelte in ihm.

Die Angerufene war leicht zusammengeschreckt. Eine Blutwelle schoß ihr über das Gesicht. Dann sprang sie empor. »Du hier? Jetzt?«

»Ja, ich! – Ich, Veronika, den du überall fliehst, der dich sucht – seit jenen Tagen – da ich als Ritter dir etwas galt!«

»Unsinn! Das war doch alles nur Theater! Du bist ja gar kein Ritter mehr!«

»Ja doch – aber das andere – das andere – das, Veronika, ist geblieben – das ...«

»Da wär's ja besser gewesen, du hättest überhaupt nicht mitgespielt! Herrgott! Wenn jeder gleich alles so ernst nehmen wollte...« Sie sah ihn ein wenig scheu an, als suche sie jemand, der sie aus dieser unverhofften Verlegenheit retten könnte.

»Brauchst dich nicht zu fürchten, ich habe dich nicht abgelauert! Vielleicht ist's eine gute Fügung, daß ich dich jetzt so allein treffe. Siehst du, ich – hätte dir so viel zu sagen – so viel!«

Er suchte ihre Hand zu fassen. Doch sie war bereits ein Stück davongehuscht und hatte nun die Gießkanne ergriffen. »Ich habe wirklich Besseres zu tun, als so etwas mit anzuhören!«

»Laß mich dir helfen, Veronika!«

Sie lachte laut auf. »Damit die Leute etwas zu reden hätten? Gelle?« Sie bog sich zum Bache nieder und ließ das Wasser in die Kanne hineinströmen.

Er legte seine Hand auf die ihrige und suchte ihr das Gefäß zu entwinden. »Bitte, Veronika! Ich tue es gern! Laß es mich doch!«

»Wenn du meinst, etwa mit Gewalt bei mir etwas auszurichten, dann irrst du dich gewaltig! Nun gerade nicht!«

Sie fühlte den Druck seiner Hand an ihrem Gelenk und wie er suchte, ihr die Kanne zu entwinden.

»Bitte, Veronika! Ich tu es gern!«

»Mit Gewalt? Nein!«

Ein trotziger Blick streifte ihn. Das waren wieder die Hexenaugen! Er fühlte, wie alle Selbstgewalt von ihm wich. »Willst du nicht?« Er stieß es erregt heraus.

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Nochmals: nein!« Ihre Augen sprühten.

Da ließ er die Kanne und ihre Hand los. Er riß förmlich ihren Kopf empor zu sich. Und dann preßte er seinen Mund auf ihre Lippen. Wie ein Feuerstrom drang es durch seinen Leib. »O, du – du! Ich habe dich so lieb!« Dann gab er sie frei.

Bebend in Zorn stand sie vor ihm. Dann rang es sich von ihren Lippen: »Also das war's! Von heute ab kennen wir uns nicht mehr! Unverschämt! Such dir ein Mädchen, wo du willst! Für mich bist du nicht mehr auf der Welt! Wir sind für immer geschieden!«

Wechselnde Farbe ging über sein Gesicht. Sie aber hob die Gießkanne in die Höhe und flog unter den Bäumen hin der nahen Stadt zu.

Wie betäubt blieb Anton Hornschuh zurück. Jetzt war alles aus. Das stand mit Flammenschrift am blauen Firmamente. Das fühlte er mit bohrender Gewißheit in seiner Brust. Er allein war schuld an allem. Nur er! Alles aus!

Er sah über Turm und Dächer des Städtchens hin, über welcher Mittagsglut flimmerte. Er kam sich so tief unglücklich, wie von Gott verlassen vor. Dorthin zurück? Nimmermehr! Was sollte er noch dort? Wieder zur Drehbank? Vor allen Blicken etwa Spießruten laufen? Das vermochte er nicht, das ging über seine Kraft. Fort, fort nur! Aus der Welt hinaus! Am liebsten sterben!

Er sprang über den Bach, schritt über die freie Hügelwelle und dann waldein. Immer tiefer und tiefer. Als die Stadt hinter ihm versunken war, da brach's mit Macht über ihn herein. Er setzte sich auf einen gefällten Baumstamm und weinte wie ein Kind.

Sterben! Das war schließlich doch wohl das beste! Das würde dann ein gar großes Aufsehen im Städtchen geben, und wo die Veronika hinkäme, würde sie aus aller Augen ihren Richterspruch lesen. Dann vielleicht, dann würde sie erst einsehen, wie heiß er sie doch geliebt hatte.

Dieser erhebende Gedanke machte ihn fast froh. Seine Tränen begannen fast zu versiegen. Ja, so sollte es sein! Am gebrochenen Herzen wollte er sterben. Dann würden sie ihn finden und zurück bringen – an ihrem Hause vorbei. Das wollte er ihr doch noch antun. Er stieg bergan, immer höher ins Gebirge, und die Sonne rückte von Gipfel zu Gipfel dem Abend zu. Die Tannenwipfel über ihm rauschten so geheimnisvoll, Vögel lärmten, und dazwischen quirlten und plätscherten Quellbäche wie verloren im Selbstgespräche. Und aus allem Rauschen und Raunen, Singen und Tirilieren schien immer nur der eine Mahnruf zu klingen: Tu's nur! Tu's nur! Stille dein Leid! Süß ist der Tod!

Die Sonne stand schon tief, da schritt er seufzend über eine Bergmatte. Zu Haufen lag hier getrocknetes Heu geordnet. Der würzige, herbe Duft umschmeichelte lockend seine Sinne. Da ließ er sich in einen der Heuhaufen niedergleiten. Und wieder seufzte er vernehmlich: »Mag's denn sein! Was soll ich meine Schmerzen weiter tragen?« Der Abendwind strich so wohlig-weich über sein erhitztes Gesicht. Er zwinkerte noch einmal mit den müden Augen über die Bergmatte fort zum Waldesrande, dessen Tannenspitzen feierlich in den stillen Himmelsraum tauchten – dann schloß er die Augenlider.

»So!« sprach er halblaut, »nun will ich sterben!«

»Was willst du?« vernahm er eine Stimme. Sie klang ein wenig poltrig und derb.

»Sterben!« wiederholte er mit einem Heldenmute, der nur zu deutlich die Lust am Weiterleben verriet.

»Zum Kuckuck ja, muß es denn jetzt schon sein?«

»Leider, ja! Ohne die Veronika – ach!«

»Vielleicht überlegst du dir die Sache doch noch einmal?«

»Ich bin leider fest entschlossen. Hoffentlich findet man mich auch hier, damit auch die Veronika – –«

»Na, meinetwegen! Wenn du durchaus willst! Ich werde mal mit dem lieben Herrgott reden!«

Anton Hornschuh öffnete verdutzt die Augen. Vor ihm stand eine weißbärtige Gestalt. Am Gürtel hing ihr ein großer, blanker Schlüssel. Der funkelte im Sonnenscheine wie eitel Gold. Der junge Drechsler rieb sich gar verwundert die Augen.

»Wer bist du denn?« fragte er endlich. Es klang halb zaghaft, halb neugierig.

»Mein Name ist Petrus! Wirst schon von mir gehört haben. Ich spazierte just ein wenig draußen an der Himmelsmauer einher, da hörte ich Flehen. Also um der Veronika willen?!«

»Ja, Herr Petrus! Ich denke, es wird wohl das richtigste sein! So halte ich das Leben nicht länger aus.«

»Hm, hm! Na, komm mit!«

Zögernd und wie im Traume folgte Anton der Aufforderung. Während beide an der Mauer hinschritten, machte er den heiligen Pförtner zum Mitwisser seines Herzensgeheimnisses. Endlich waren sie vor einer mächtigen Bogentür angelangt. Da stand ein Bänklein, und auf diesem saßen zwei rosige Engelein. Das eine sang mit lieber Stimme fröhliche Lieder, das andere blies aus einem Rohre buntschillernde Seifenblasen und freute sich, wenn diese nun so luftig durch den weiten Weltenraum entschwebten.

»So, da setz dich mit daneben,« sagte Petrus, »ich muß dich erst bei unserem Herrgott anmelden.«

Dabei öffnete er mit goldenem Schlüssel die Pforte und verschwand hinter dieser.

Anton Hornschuh sah hinab, und es schwindelte ihn. Da kreisten die Planeten im ewigen Reigen. Sonnen irrten dazwischen. Ein weithallendes, urgewaltiges Tönen und Klingen wogte durch das All. Blendendes, nie geschautes Licht erfüllte alles. Die beiden Engelein schienen sich nicht sonderlich um das arme Menschenkind zu kümmern. Sie waren nur ein wenig zusammengerückt. Das eine sang unverdrossen weiter, das andere ließ Kugel auf Kugel aus seinem Rohre steigen.

Ach! So hatte er auch einst fröhlich in die Welt gesungen! Seine Träume waren auch wie Seifenblasen heraufgeschwebt, dann aber jämmerlich zerplatzt. Wie lange nur der Petrus ausblieb? Das dauerte ja eine Ewigkeit! Aber, freilich, hier droben rechnete man mit Ewigkeiten!

Endlich sprang die Himmelstür auf. In ihrem Rahmen erschien der Erwartete, winkte stumm mit der Hand, und Anton Hornschuh folgte ihm. Durch unermeßliche, hohe, wundersame Räume schritten sie hin. Immer näher drang sphärenhaftes Tönen und Jubilieren. Endlich betraten sie das Allerheiligste. Ein Raum ohne Ende und fester Ferne. Da schaute er Gott in seiner Größe und Hoheit.

»Tritt nur näher,« flüsterte ihm Petrus zu, »und dann rede, wie dir's ums Herz ist.«

Und er tat es mit Stocken und mit bebender Stimme, manchmal unterbrochen von leisem Schluchzen.

Der liebe Gott aber verstand ihn.

Als der Bericht beendet war, da schaute er ihn ernst und tief an. Bis ins Herz hinein.

»Anton Hornschuh!« sagte er milde warnend, »darum möchtest du aus der Welt gehen? Lacht dir nicht jeden Morgen frisch aus jedem Tautropfen meine schöne Welt? Grüßt dich die Sonne nicht in deiner Werkstatt? Grünen nicht mit jedem neuen Frühling dir zur Lust Wiesen, Gärten und die weiten Wälder deiner Heimat? Warum denkst du nur an dich, nicht an die, welche trauernd müßten zurückbleiben?«

Immer tiefer sank des jungen Drechslers Kopf beschämt nieder auf die Brust. Der Herrgott aber fuhr fort: »Hast du denn ein Recht auf ihre Liebe? Liebe muß man sich verdienen, nicht wie du fordern! Wer ein Weib nehmen will, der muß ihr dienen, daß sie ihm später auch dient. Du aber suchtest stets nur mit Eigenwillen, Trotz und Gewalt dir zu eigen zu machen, was doch von allein sich geben muß.«

»O, du lieber Gott!«

»Nun fühlst du Reue?«

»Ja!«

»Möchtest wieder gut machen und ungeschehen, was du schwer gefehlt?«

»Ach. ja!«

»Du batest um den Tod. Ich lasse dir das Leben! Kehre zurück zur Erde und strebe fortan danach, ein besserer Mensch zu werden!«

»Sag mir, lieber Gott: glaubst du – daß dann die Veronika wohl –«

Der Herrgott sah ihn groß und tief und milde an.

»Vergiß mich nicht!« sagte er ernst und ruhig.

Eine leichte Wolke schwamm durch den Himmelsraum und verhüllte alles. Kühl strich es über das Gesicht Antons. Eine Handbewegung, als wollte er den Schleier heben, noch eine Frage an den Schöpfer zu richten – da wachte er auf.

Heuduft umwitterte ihn. Schwarz stand als düstere Wand der Wald vor ihm. Droben leuchteten die Sterne in ewiger Schönheit. Er sah sich um. Auch der alte Petrus war entschwunden. Da kehrten seine Sinne wieder. Richtig! Sterben hatte er gewollt, und dann hatte er mit dem lieben Herrgott gesprochen. Im Traume war er zur Wahrheit, zum Leben, zur Besinnung zurückgekehrt. Gottes Finger hatte ihn angerührt, und der brannte an seinem Leibe. Nach Hause! Wieder gut machen! Verzeihung erflehen, Vergebung erbitten! Dann winkt ihm vielleicht auch seligste Erlösung!

Er stand auf und schüttelte sich. Das lange Liegen, der Nachttau hatten ihn steif und fröstelnd gemacht. Langsam wandte er sich über die Wiese und trat den Heimweg an. Tappend ging es anfangs durch den rabenschwarzen Wald. Dann aber wanderte er rüstig bergein, den durch die einsame Nacht lauter rauschenden Wildwassern nach, immer tiefer und tiefer, bis er das freie Land erreicht hatte. Drei Uhr hallte es vom Kirchturm durch die Stille. Mit wohlbekanntem Klange grüßte ihn die Heimat wieder.

Da war ja auch der Bach, die Wiese, auf welcher er ihr so bitter Unrecht zugefügt hatte. Er verlangsamte seine Schritte, als er unter den Obstbäumen im ersten Morgengrauen der kleinen Gartengasse zustrebte. Bald darauf hielt er an der Hoftür. Sie war verschlossen. Im Hause alles dunkel. Nur setzt nicht wecken! Die arme Mutter! Wie mußte sie sich um ihn abgeängstigt haben! Lautlos kletterte er über die niedrige Holzplanke, riegelte vorsichtig den kleinen Heustall auf und warf sich drinnen auf das weiche, duftige Lager nieder.

Das Verschwinden Anton Hornschuhs hatte sich noch am selbigen Abend in der Nachbarschaft wie ein Lauffeuer verbreitet. Daß er ohne Kopfbedeckung das Haus verlassen, steigerte noch die Gewißheit, daß ihm irgendwie ein Unglück zugestoßen sein müsse. Einige Männer waren denn auch nach Feierabend auf die Suche nach dem Verlorenen ausgegangen, kehrten jedoch bei eintretender Nacht zurück, ohne daß eine Spur des Vermißten zu entdecken gewesen war. Nachbarn und Freunde kamen und gingen. Jeder mit leerem Troste. Erst gegen Mitternacht hatte Mutter Hornschuh gramvoll ihr Lager aufgesucht.

Doch auch Veronika fand keine rechte Ruhe. Als ihr Vater am Abendtisch die Nachricht von dem Verschwinden des jungen Drechslers mitteilte, schrak sie zusammen. Sie allein wußte ja, daß ihm kein Unglück zugestoßen war, daß er mutmaßlich freiwillig in den Tod gegangen sein könnte. Ihre herbe Absage, ihr hartes Wort hatte ihn zur Verzweiflung gebracht. Sie allein trug die Schuld. Wohl hatte er sie beleidigt. Aber hatte er mit seiner Leidenschaft ihr nicht den Beweis gegeben, wie heiß er sie liebe. Und darauf Tod? War's im Grunde denn ein Verbrechen, ein Mädchen zu lieben? Wie begehrenswert mußte sie ihm doch erscheinen! Und dann fiel ihr ein, wie er doch die ganze Zeit seit jenen Festspieltagen im stillen um sie geworben hatte, und daß sie ihm stets kalt und abweisend gedankt habe. Hüben und drüben war's Trotz und Auflehnen gewesen. Und nun waren vielleicht die Lippen, die sie so stürmisch geküßt hatten, blaß und stumm! Ein Schauder lief ihr über den Leib. Wäre doch erst diese Nacht vorüber, in der jeder Schlaf ihre Augen floh! Die arme Mutter! Wie würde die ihren Jungen jetzt suchen!

Es war noch ganz still im Städtchen. Nur vereinzelt stieg da und dort eine blaue Rauchsäule über den Dächern empor. Veronika stand bereits fertig angekleidet am Fenster und blickte starr hinüber zu dem Häuschen, über dessen Haustür eine Inschrift verkündete:

»Anton Hornschuh jun., Drechslermeister«.

Sie hatte nur das eine Gefühl, der alten Frau dort drüben die Hand zu drücken in heimlicher Reue. Und jetzt öffnet sich drüben die Tür. Mutter Hornschuh taucht auf und läßt die vergrämten Blicke über die Gasse schweifen. Die suchen den Jungen. Bald darauf schreitet Veronika hinüber. Im Hofe trifft sie die Alte. Die steht wie fassungslos und blickt hinauf in den blauen Morgenhimmel.

»Mutter Hornschuh!« Dann sinkt sie der alten Frau an die Brust.

»Du, Veronika?!«

»Noch immer keine Spur? Kein Lebenszeichen?«

»Nichts, nichts! Veronika! Die Werkstatt ist leer, sein Bett unberührt. O, mein Gott!« Sie schluchzt leise auf. Dann sieht sie das junge Mädchen steif an. »Weißt du auch, daß er dich über alles lieb gehabt hat? Er hat es mir ja nie gesagt, doch ich hab's ihm so lange schon angemerkt!«

Veronika legte die Hand über die Augen. Endlich sagt sie wie in halbem Vergessen: »Käme er doch wieder! Ich wollte alles vergessen! Alles! Eine andere sollte er finden. Das habe ich nicht gewollt. Bei Gott nicht!«

»Ist das dein Ernst, Veronika?«

»Ja, Mutter Hornschuh! Das ist es jetzt!«

Leise, ganz leise hat sich die Stalltür geöffnet. Über das übernächtige Gesicht des jungen Drechslers fliegt es wie Morgenschimmer erwachender Freude. Dann hallt eine Stimme über den Hof: »Veronika!«

Nun ein Aufschrei, Zittern und Erröten.

»Mein Junge! Anton!«

»Frage nicht viel, Mutter! Freue dich, daß ich wieder daheim bin.« Er wendet sich an das Mädchen. »Wo ich war, Veronika? Im Himmel, Veronika! Und nun weiß ich, daß er uns seinen Segen geben wird, wenn du nur willst!« – –

Veronika ist sein Weib geworden.

»Surrrrrr!« schnurrt es wieder unablässig durch die kleine Werkstatt, noch emsiger, noch fröhlicher denn einst. Auch Lachen und Singen hallt dazwischen. Der junge Meister hat in einer stillen Herzensstunde seinem blühenden Weibe erzählt, was ihm alles droben im Bergwalde damals zugestoßen. Das bewahren nun beide als ein Geheimnis auf. Es hat ihnen gedoppelte Lust an Arbeit und Leben gegeben.

Ehen, die im Himmel geschlossen werden, denen kann es auf Erden an Glück nicht mehr fehlen!


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