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Das junge Ehepaar Bartenstein rüstete sich zum Ausgehen. Schmuck und nett stand das blonde Frauchen vor dem großen Spiegel, die letzte Hand an die Toilette zu legen. Abseits ein paar Schritte hielt der Ehemann, eine schlanke, vornehme Erscheinung im lichtgrauen Sommeranzug. Mit dem zierlichen Stöckchen, das einen Silbergriff zeigte, schlug er sich mechanisch gegen das rechte Bein, während seine Augen hinaus zum Fenster und die Straße entlang spazierten, über welche ein blauer Sonnen- und Sonntagshimmel sich spannte. Der junge Mann trug deutlich ein leichtes Mißbehagen auf seinem Gesicht. »Lächerlich!« stieß er endlich hervor.
Frau Annie Bartenstein zupfte just die Spitzenschleife auf ihrer Bluse zurecht.
»Was hast du denn nur, Alfred?«
»Ich behaupte, es ist einfach lächerlich!«
Sie wandte den Kopf ihm erstaunt und fragend zu.
»Deine Laune? Ich begreif dich gar nicht? Vorhin noch so ausgelassen? ...«
»Laune? Sehr gut! hahaha! Natürlich kannst du mir nicht nachfühlen ... bist ja in solchen Anschauungen groß geworden! Bei euch geht alles nach Schema F. So war's, so ist's, so bleibt's! Basta! Wer da aufbegehrt, wird als Revolutionär, als Störer des Familienidylls angeklagt. Ich aber hab's satt! Ich will kein Gefangener mehr sein. Ich will die Freiheit genießen ... dich genießen ... nicht am Gängelbande der treuen Schwiegereltern durchs Leben gehen ... verstehst du mich? Die Fesseln müssen gesprengt werden! Sonst ... sonst gibt's ... ein Unglück!«
Jetzt war's an der jungen Frau, den Gatten zu besänftigen. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und sah ihm fröhlich lachend in das Gesicht.
»Also ein Unglück gibt's? Puh! Das wird ja interessant.« Sie küßte ihn ein paarmal. »Du lieber, dummer Kerl! Glaubst du denn, daß es mir immer angenehm sei, trotzdem es doch meine eigenen Eltern sind? Aber ich weiß, wir machen ihnen eine Freude. Es sind doch alte Leute!«
»Und wir sind junge! Wollen genießen, was man so den Frühling der Liebe nennt. Späterhin ... nun ja! Da kommen andere Pflichten... große, kleine, ganz kleine...«
Sie gab ihm einen leichten Backenstreich und schaute ihn verschämt-glücklich an.
»O, du Tyrann! Du lieber, böser Herzenstyrann!«
»Nun ja, Annie! Als ich dich heiratete, da habe ich mir alles anders ausgemalt!«
»Denkst du denn, ich nicht?«
»Jetzt aber bin ich ein Gefangener. Wochentags arbeite ich in der Fabrik deines Vaters als wohlbestallter Teilnehmer, muß die Messen besuchen, all die kleinen Reisen unternehmen, und wenn dann der Sonntag kommt und ich mich freue, endlich 'mal dich allein zu haben, mit dir hinaus in unsere grünen Berge zu ziehen ... Prost Mahlzeit! Wenn deine Alten wenigstens doch das Zipperlein oder irgend ein angenehmes Leiden hätten, daß sie jedes Jahr vier Wochen ins Bad müßten ... natürlich mit einer Nachkur! ... nein, nicht 'mal den Gefallen tun sie einem!«
»Aber Alfred!«
»Na ja, Fast dreiviertel Jahr sind wir verheiratet und noch nicht ein einziger Sonntag gehörte uns beiden ganz allein. Wie wird's denn heut'? Immer dasselbe Lied, die gleiche Melodie! Da kommen die edlen Eltern, die braven Tanten Hermine und Malchen – beide so alt, daß ich mutmaße, sie haben bereits Moos auf dem Rücken – –«
»Aber Alfred!«
»Wenn's Glück gut ist, gesellen sich auch noch Kommerzienrat Fricke und Gemahlin hinzu – er hat Asthma, sie Hühneraugen! – Fünfzig Schritt laufen, dann japsen sie nach einer Bank! Dann geht's, wie heute geplant, mit der Bahn erst im weiten Bogen ums Gebirge, dann mit dem Omnibusschleicher fast eine Stunde bis Oberhof, da wird dann höchst vernünftig Kaffee getrunken, über die Promenade ein paarmal geschlendert, um Kurgäste anzustarren ... und endlich ... Juchheidi! – geht's mit Omnibus und Bahn wieder heim. Und das soll mich auf die Dauer nicht verrückt machen? Ich werde ...« Hier faßte er sein Frauchen bei beiden Ohren und sah es in komischer Verzweiflung zärtlich an – »ich werde mich von meiner Frau scheiden lassen, ich werde aus der Fabrik austreten ... ich – ich – ich werde, mit einem Worte, die Fesseln sprengen ...«
»Und ich, Alfred, werde dir dabei helfen! Hoffentlich heute noch. Aber nun komm! Sonst erreichen wir den Zug nicht mehr!«
»Das wär' ja ein Glück!«
»Nein, das müssen wir anders anfangen! Komm!« Sie küßte ihn noch einmal herzhaft und ließ dann den zarten Schleier über ihr Gesicht niedergleiten.
Wenige Minuten später schritten sie Arm in Arm die Straße hinab zum Bahnhof. Eine Gruppe Mitfahrender erwartete sie dort bereits. Man sah einige Schirme und Taschentücher, welche dem jungen Ehepaare Willkommen entgegenwinkten. Herr Fabrikbesitzer Rohrschmidt war den Ankömmlingen ein Paar Schritte entgegengegangen.
»Aber Kinder ... Kinder! Wo bleibt ihr denn?«
»In vier Minuten geht der Zug!« hüstelte der Kommerzienrat Fricke und schob eine Pastille in den Mund!
»Mir ist's ganz brühheiß schon vor Erregung geworden,« lächelte Tante Malchen nett. »Ein Herzklopfen ...«
»Und dabei zieht's hier!« fügte Tante Hermine mit sanft vorwurfsvoller Stimme hinzu und zog ihren Schal fester um die dürre Jungferngestalt.
»Danke für allseitig gütigen Empfang,« sprach Herr Bartenstein mit etwas gepreßter Stimme.
»Ihr müßt entschuldigen,« fügte Frau Annie hinzu, »aber es ...« Das Läuten der Bahnhofsglocke enthob sie ihrer Rede.
»Herrgott! Kinder! Einsteigen, einsteigen!« Und Hals über Kopf kletterte die aus acht Personen bestehende Gruppe in ein Abteil zweiter Klasse. Gleich darauf setzte sich der Zug in Bewegung.
Anfangs ging's noch durch offenes, leichtgewelltes Gelände. Dann aber rückten die dunklen Waldberge immer näher, bis der Zug mit einer scharfen Schwenkung in ein von steilen Höhen eingerahmtes Tal einbog. Tief unten rauschte schäumend ein Gebirgswildwasser über Blöcke und Wehre; Sägemühlen und Pochwerke waren längs seines Laufes angereiht. Doch Räder und Hämmer feierten heute. Goldener Schein wallte über den Felsen und Firsten der Berge, deren Tannenwipfel still und feierlich in den klaren, blauen Himmel ragten.
Da Herr Kommerzienrat Fricke behauptete, es zöge ungemein und gerade im Sommer müsse man sich dagegen vorsehen, so war denn richtig auch das zweite Fenster bald geschlossen worden. Nun erst erklärte er die Fahrt für geradezu ideal, eine Bemerkung, welcher beide Tanten eifrig zustimmten. Herr und Frau Rohrschmidt nickten nur, sahen darauf so halb nach dem jungen Ehepaare und dann wieder sich an, als wollten sie sagen eins zum andern: Du! da drüben stimmt 'was nicht!
Ein greller, langgezogener Pfiff ließ alle aufhorchen.
»Jetzt kommt der Tunnel!« erklärte Frau Kommerzienrat. »Ich bin immer froh, wenn wir erst wieder draußen sind.«
»'s passiert zu leicht 'mal ein Unglück! So in der Dunkelheit!« warf Tante Malchen hin. »Gräßlich, wenn man sich das ausmalt.« »O, mein Gott! Man liest so viel davon in den Zeitungen,« fügte die andere Tante hinzu und ließ ihre ängstlichen Blicke in dem Abteil auf und nieder irren.
»Hier kann ja gar nichts passieren,« beruhigte Herr Rohrschmidt.
Aber etwas passierte doch. Kaum daß der Zug in den Tunnel hineingetaucht war und tiefste Finsternis alles einhüllte, da fühlte der junge Ehemann plötzlich zwei Arme sich um seinen Hals schlingen, ein paar Lippen suchten die seinen und eine liebe Stimme flüsterte ganz, ganz leise:
»Gut sein! Hörst du, Alfred? Wir sprengen die Fesseln und fangen heute noch damit an.«
Ein paar Minuten später hielt der Zug am Tunnelausgang vor Station Oberhof.
»Ah! Da steht ja schon der Omnibus!« rief der Kommerzienrat.
»Ja, ja! Bester!« setzte Herr Rohrschmidt hinzu, »das Fest verläuft programmäßig!«
Wenn's das nur auch wäre! Doch als sechs der Gesellschaft bereits im Omnibus saßen und nun rückten, um den jungen Bartensteins Platz zu machen, da geschah etwas ganz Unerhörtes. Die junge Frau erklärte, ihr Mann habe sich die letzten Tage gar nicht recht wohl gefühlt, der Arzt habe Bewegung in freier Luft verordnet, und darum zögen sie es vor, müßten es leider vorziehen, den Weg nach Oberhof hinauf zu Fuß zurückzulegen. Sprach's, schob ihren Arm in den des Mannes, nickte noch einmal und zog im Schreiten entschlossen die stärkere Hälfte mit sich die Straße hinan.
»Aber davon hat mir Alfred doch gar kein Wort gesagt?« sprach kopfschüttelnd Herr Rohrschmidt und blickte ganz fassungslos seine Frau an. »Und der Weg?« warf Tante Malchen ein. »Erhitzt kommen sie oben an.«
»Eine Erkältung ist zweifellos!« bekräftigte hüstelnd der Kommerzienrat.
Noch einige Mitfahrende nahm der Omnibus auf, dann setzte er sich langsam und schaukelnd die steile Straße hinauf in Bewegung. Bei einer Kehre derselben, den Blicken der Nachkommenden entzogen, hielt für einen Augenblick das vorangeeilte Ehepaar. Tapfer sah Frau Annie ihren Mann in die Augen und lachte.
»Alfred, der Anfang ist gemacht! Du hältst die Rolle des Leidenden fest. Das andere wird sich dann schon finden. Und nun allons!«
Als der Omnibus nach einer Stunde droben im Kurort vor dem verabredeten Gasthause hielt, öffneten Bartensteins, wie aus der Erde herausgewachsen, den Wagenschlag.
»Ihr seid schon hier?« trompetete laut und überrascht Frau Rohrschmidt.
»Über eine Viertelstunde bereits, Mama!«
»Wie geht's dir, Junge?« fragte besorgt Herr Rohrschmidt seinen Schwiegersohn.
»Etwas besser, danke! Nur der Blutandrang ... hier ... an den Schläfen ...«
»Hm, hm! Es wird gut sein, wenn wir morgen doch 'mal ernstlich den Dr. Kurte konsultieren.«
»Laß nur, Schwiegervater! Ich hoffe, mir schon selbst zu helfen, 's wär' ja auch noch schöner, gleich die Flinte ins Korn zu werfen.«
Programmäßig hatte man den Kaffee eingenommen, wobei in eine Pyramide von Kuchen tapfer war Bresche geschlagen worden. Ebenso programmäßig hatte sich der Gang auf der Lästerallee des Kurortes angeschlossen, und nun saß man wieder, die Stunde bis zum Abgang des Omnibusses auszufüllen, im Gasthause und ließ sich einen Imbiß mit bayrisch Bier gut munden. Da bog Alfred eiligst um die Ecke des kleinen Vorgartens.
»Ist Annie hier?«
»Annie? Ja ... aber ...«
»Nicht hier?«
»Ich denke, ihr wolltet hinüber zum Silberblick?«
»Wie? Zum Silber ... Ihr macht Scherz! Wirklich nicht hier? Mein Gott! Ich muß doch gleich ... Auf Wiedersehen!« Fort war er.
»Alfred scheint wirklich bedenklich leidend zu sein! Dieses Auge, die Hast!«
»Wenn er sie nur findet!«
»Es gibt ein Unglück! Den ganzen Tag hat's mir auf der Brust gelegen,« jammerte Tante Malchen.
Doch es gab kein Unglück. Am Waldrande trafen sich die zwei, welche heute sich entschlossen hatten, koste was es wolle, sich die Freiheit zurückzuerobern.
»Nun? Und?« Sie lachte ihn hell an.
»Ich denke, meine Rolle gut gespielt zu haben,« versetzte er heiter. »Du bist entflohen, verirrt, verunglückt – und ich suche dich. Und nun komm. Jetzt wandern wir wie zwei Kameraden heim und lassen die andern fahren. Augen werden sie machen, wenn sie uns eher zu Hause anfinden.«
Er nahm ihre Hand, und wie zwei glückliche, ausgelassene Kinder hüpften, sangen, schritten und sprangen sie die Waldstraße hinab, immer weiter und weiter. Und die Sonne rollte vor ihnen über die Berge hin, Abendvögel lärmten in den Wipfeln, ab und zu schlug das Rauschen eines Wildwassers an ihr Ohr. Er hatte ihren Hut, ihre Brust mit Waldblumen geschmückt, und wenn sie einmal für Minuten innehielten, dann sandte er seine Jodler hinaus in die weite, heilige Abendstille. Es war ein Wandern wie in den Himmel hinein!
In höchster Aufgeregtheit schritten Rohrschmidts vom Bahnhof zum Hause ihrer Kinder. Die andern hatten sich bereits unterwegs empfohlen.
»Weißt du, Minna, wir werden im Hausflur warten, bis sie kommen, wenn das Dienstmädchen nicht da sein sollte.«
Als sie um die Ecke bogen, sahen sie Licht in der Wohnung Bartensteins.
»Mein Gott, wenn das Spitzbuben wären! Wer kann es wissen?«
Unter Herzklopfen stürmten sie hinüber. Da, im Hausflur packte Rohrschmidt den Arm seiner Frau.
»Minna, horch doch! Keine Räuber ... Alfred .... seine Wallungen ... hör doch! irre redet er, irre!«
Die Gatten rissen die Wohnstubentür auf und prallten vor dem ungeahnten Anblick zurück. Auf dem Schoße ihres Mannes saß Annie strahlend und lauschte dem Vortrage desselben, der mit gehobener Stimme Othello aus dem Stegreif mimte. Jeder von ihnen hielt einen halbgefüllten Römer in der Hand, welchen sie nun den Eltern entgegenschwangen.
»Vivat hoch! Ihr sollt leben!« Und dann sprang sie vom Schoße und stürmte zu den Eltern. »Alfred sollte Bewegung haben, und da er von euch nicht zu trennen war, so entschlüpfte ich, bis er mich fand. Und dann, ob er wollte oder nicht, bin ich ihm vorausgetanzt... und er mir immer nach ... drei Stunden lang ... und bekommen ist es ihm großartig! Seht doch nur, wie er wieder lacht! Und am nächsten Sonntag laufen wir wieder ... und ihr mit ... vier Stunden ... jeden Sonntag eine Stunde mehr, bis Alfred gesund ist ... und Frickes laufen auch mit ...«
»Und Tante Hermine!«
»Und Tante Malchen!«
»Gute Nacht, gute Nacht, Kinder! Uns wirbelt's im Kopfe!«
Rohrschmidts haben im Interesse ihres Schwiegersohnes von einer sonntäglichen Begleitung der jungen Leute abgesehen.
Wenn man sich aber Sonntags mal wieder zusammenfindet, so ist es für beide Teile stets ein doppelter Feiertag.