Wenn die Sonne sinkt
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Im Hafen.

Dort, wo die Geest vom Lande her mit ihren gelbleuchtenden Dünen und zerrissenen, von Heide und Knieholz bedeckten Abstürzen in Falten und Klüften sich zu dem breiten Spiegel der Unterelbe niedersenkt, da steht in menschenleerer Einsamkeit auf einem schmalen Streifen Uferland ein vereinzeltes Gehöft. Ein paar helle Birken und knorrige Kiefern halten in der Nähe Wacht. Schwer lastend ruht das tiefhangende Dach über dem Hause, so tief, daß nur zu Stunden die Sonne wie auf Umwegen in das Innere hineinblinzeln kann. Wer da droben am Geeststrande entlang wandert und schaut das Haus an, der mag wohl meinen, dunkle Geheimnisse webten ihre Schleier um das Haus, daß es wie ausgestoßen von der Welt sich hier in tiefer Einsamkeit festgesetzt habe.

Vom Geeststrande flog der Blick weit über den bleigrauen Spiegel des Riesenstromes, so weit, daß man sehen konnte, wo Himmel und Wasser zusammenschwammen. Dazu das Kommen und Gehen der großen Schiffe, das Durcheinander der rostbraunen Segel der Fischerflotillen, die lustigen Segel der zahlreichen Jachten. Das gab dieser Landschaft Farbe, Leben, stetig neue Bilder. Und wie auf dem Strome die Segel, so schwammen am lichten Himmel die Wolkenbarken auf und nieder, bis der sinkende Sonnenball sie in ein lohendes Feuer tauchte.

Heute aber raste der Sturm über die Landschaft hin. Lange vor der Zeit hatte sich die Nacht auf Wasser und Geest gesenkt; wie wilde Bestien jagten die hochschäumenden Wogen gegen den Strand, als wollten sie alles Feste in das nasse Grab ziehen. Dazu ächzte es durch die Lüfte, zerrte an den Fensterladen, fuhr mit Geschrei durch die Schlote, und was auf dem Wasser war, das empfahl seine Seele Gott in diesem grimmen Kampfe der Elemente.

Um diese Stunde barg das geheimnisvolle Haus nur ein menschliches Wesen: Frau Martha Nägelein, die Wirtin der einsamen Strandwirtschaft. Nur ein großer Hund war seit Jahren ihr Hausgenosse und Schutz.

Frau Martha hatte das Haustor fest geschlossen. Wer sollte jetzt noch kommen? Droben aus dem Dorfe auf der Geest keiner. Die saßen zusammengekauert am Herd und lauschten wie sie, wie immer dräuender und schreckhafter vom Meere her das Wetter angedonnert kam. Die aber auf dem Wasser sich befanden, strebten alle nach einem Landungsplatz, der in der Nähe ihres Gehöftes sich nicht fand.

Was nur gerade heute ihre Seele so in Aufruhr brachte? Sonst war ihr doch keine Furcht gekommen, wenn draußen der liebe Herrgott zwischen Himmel und Erde seine Macht ertönen ließ. Und diesen Abend! Ging sie die Treppe herab, so lauschte sie, ob nicht hinter ihr noch ein Schritt husche; wandte sie sich wieder in das Gastzimmer, so blieb sie im Flur eine Weile horchend stehen, als müsse jemand draußen Einlaß heischen, sturmdurchwühlt, triefend vom Regen, mit irren Augen und tastenden Händen. Dann schalt sie sich wieder ein törichtes Weib. Sie langte aus einer Schale auf einer Kommode einen Strickstrumpf und begann zu arbeiten, während eine kleine Lampe unsicheres Licht im Raume verbreitete. So hatte sie eine Weile stumm gesessen. Da sprang sie plötzlich auf. Sie riß ein Fenster weit auf, den Laden in der Hand festhaltend.

War es Täuschung gewesen? Ihr war, als hätte sie vorhin deutlich eine Stimme rufen hören! Von weit her, wie vom Meere kommend, flehend, wehklagend! Doch nur der Sturm brauste vom Strome her, zerzauste ihre Haare und schlug ihr starke Regenschauer ins Gesicht. Sie schloß das Fenster wieder. Es war ja auch ein Unsinn. Nur ihre Phantasie arbeitete, weiter nichts. Sie war wirklich eine törichte Frau!

Doch die Arbeit wollte heute nicht weiter gehen. Horch! Wieder diese Stimme! Ganz aus der Ferne. Sie kannte sie: Einst hatte sie in diesem Hause neben der ihren geklungen – die Stimme ihres Mannes. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Wie ein Schütteln lief es ihr über den Leib. Und draußen tobten die Wetter weiter, als würde eine furchtbare Schlacht auf den Wassern und in den Lüften geschlagen. Dazwischen der eine Ton ... seine Stimme! Ihr Name! Martha! Und sie selbst hatte damals diese Stimme für immer aus diesem Hause fortgescheucht, weil ihre Frauenehre in Empörung aufgeschrien hatte.

Warum das alles heute? Sie zog langsam die zuckenden Hände vom Gesicht. Erst ging ihr Blick wie suchend im Raume umher, dann haftete er plötzlich über der Lampe, in deren Schein an der nahen Wand der Kalender hing. Und dann senkte sie das Haupt. – Morgen war ihr Geburtstag. Morgen der Tag, an dem nun schon seit Jahren alles tot um sie war, an dem kein freundlich teilnehmendes Gesicht vor sie trat, Wünsche auszusprechen, ihr die Hand zu drücken.

An ihrem Geburtstage hatte sie ihn ja kennen gelernt, weit unten in Franken, ihrer Heimat. Getanzt hatten sie zusammen – da war denn die Liebe über beide gekommen, so rasch, daß sie ihn später manchmal darum gefragt hatte. Da aber hatte er sie nur geküßt und mit leuchtenden Augen geantwortet: »Sei doch froh, daß es so und nicht anders kam! Wer fragt danach? Die Liebe ist ein Geschenk. Wer's empfängt, der soll's festhalten!«

Sie hatten beide ein kleines Geschäft mit Tuchwaren angefangen, und da dieses nicht recht in Schwung kommen wollte, so wurden beide wandernde Händler. Das ging so ein paar Jahre. Doch das Ruhelose wollte keinem auf die Dauer behagen, wenn es beide auch nicht aussprachen. Da ward sie guter Hoffnung. Oben auf der Geest hatten sie für ein paar Tage Quartier gemacht. Eines Abends kam Walter Nägelein heim. Sein Gesicht strahlte. »Weißt du was, Martha? Wir lassen den Handel fahren! Dir wird's ohnehin bald zu schwer. Drunten an der Elbe ist billig eine Wirtschaft zu kaufen. Heute nachmittag geh ich hinüber, sie anzusehen. Bist's einverstanden?«

So waren sie Wirtsleute geworden. Das Geschäft nährte sie schlicht und recht, und als der Kleine da war, da war's, als schiene die Sonne in jeden Winkel hinein. Mit Gesang begann der Tag, schloß er wieder. Man hatte ein stilles Glück gefunden.

Das ging so drei Jahre weiter. Da traf der erste Wetterschlag in das stille Haus, Bubi starb, Bubi, der dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war! Wenn der Abend kam, da hörte man Walter Nägelein über den nebligen Strand in Schmerzen brüllen wie ein weidwundes Tier, dem man sein Junges totgeschossen hat. Die Mutter aber fiel in Siechtum. Die Pflege des schwerkranken Kindes, die Erschütterung ihrer Seele, dies alles hatte sie selbst niedergeworfen. Und da die Wirtschaft doch ein paar derb zugreifende Arme brauchte, so wurde schließlich eine Magd genommen. Sie war rothaarig und besaß volle Formen und einen stechenden Blick, der Männer wie mit Angelhaken festhielt. Sie war eine tüchtige Kraft im Hause, diente mit Lust und war höflich gegen die Frau, welche noch immer den größten Teil des Tages im Bette zubringen mußte.

Aber dann kam eine Zeit, da hob im Herzen der Frau ein anderes Leid an, das ihr fast noch schmerzhafter erschien, als der Verlust ihres einzigen Kindes. Da meinte sie öfters, sie vernehme heimliche, schleichende Schritte, als geschähe um sie herum etwas, das zum Himmel schrie in unerhörter Anklage, das ihr das Blut erstarren ließ, daß sie meinte, eines Nachts müsse das Dach über allen zusammenbrechen, auch über sie mit, da wäre doch alles aus, da hätte sie ihre Ruhe gefunden.

Wie vermochte er noch sie freundlich anzuschauen? Wie konnte die rothaarige Dirne noch so kriechend sich vor ihr beugen, scheinbar jeden Wunsch ihr von den Lippen lesen wollen? Argwohn und Eifersucht sind Tiger, die vom Herzblut zehren. Gräßlich jene Stunde, da sie leise sich vom Lager erhob und zur Kammer der Rothaarigen schlich! Gewißheit! schrie es in ihr. Und nun hatte sie diese. Nur ein einziges Mal hatte sie gegen ihren Willen aufgeschrien, da das Unerhörte ihr zur Gewißheit ward. An der Kammertür! Dann war sie mit schlotternden Gliedern wieder zurückgeschlichen.

Und als er dann vor ihr stand, als er suchte mit scheuen Blicken, stoßender Rede, tastend nach ihren fest ineinandergekrallten Händen, sich zu entschuldigen: da war der ganze Ekel über sie gefahren. Sie hatte sich emporgereckt und ihn noch einmal fest und groß angeschaut.

»Rühr mich nicht an!« hatte sie ihm voll Verachtung ins Gesicht geschleudert. »Wir sind für immer geschieden! Mit der Dirne aber mache kurzen Prozeß! Sie und ich können keine Stunde länger unter einem Dache zusammen bleiben! Dir kann ich es nicht verbieten, denn du bist ja der Herr des Hauses!« Und dann hatte sie sich auch noch zu einem kurzen Lachen aufgezwungen, ein Lachen, bei dem ihre Seele zu brechen schien.

»Also keine Verzeihung. Martha?«

»Keine! Wir sind geschieden!«

Sie stürmte die Treppe in ihre Dachkammer hinauf und stieß den Riegel hinter sich zu. Dort fiel sie über das Bett. Wie lange sie da besinnungslos gelegen, das wußte sie nicht. Es dämmerte bereits, als sie erwachte. Sie rieb sich die Schläfen, die Augen, sie richtete sich langsam empor. War sie denn nicht inzwischen gestorben? Alles so tot, so ausgebrannt, so hoffnungsleer in der Seele!

Dann hatte sie aufgehorcht. Nirgends ein Ton im Hause. Nur der Hund rasselte an der Kette und heulte manchmal kurz auf. Sie öffnete die Tür und lauschte wieder. Totenstille! Dort die Tür der Rothaarigen stand weit auf. Ein Seitenblick, ein scheuer. Unordnung überall, die braune Lade, welche ihre Sachen barg, war fort. So hatte sie das Haus verlassen. Schweren Schrittes schleppte sich die Frau die Treppe hinab. Und dann ward ihr zur Gewißheit, daß auch er davongegangen war. Sie schloß das Haus ab, denn die Nacht begann über das Wasser herüberzukriechen. Sie setzte sich in das Gastzimmer und wartete auf den Herrn des Hauses.

Sie hat noch Wochen auf ihn gewartet, Jahre. Er ist nie wieder heimgekehrt. Aber von den Schiffern hat sie erfahren, daß ihr Mann mit einer rothaarigen Schönen in Cuxhaven gesehen worden war. So hatte die Leidenschaft über ihn gesiegt. Sie waren sicherlich nach »drüben« gegangen, sich dort ein neues Dasein zu gründen. Geschrieben hatte er niemals wieder.

Endlich hat sie sich wieder aufgerafft und ist Herrin über sich geworden. Wohl kamen Stunden, wo sie meinte, es wäre besser, sich den Wellen anzuvertrauen. Die trügen sie hinaus über das Meer, über das auch er in die Weite ging – er, der auf Erden ihr Höchstes gewesen. Auch das Erinnern an Bubi schnitt ihr noch manchmal tief ins Herz. Die grenzenlose Einsamkeit nagte zuweilen an ihr. Und im Laufe der Jahre war noch ein anderes in ihr langsam emporgewachsen: die scheue Frage, ob sie wirklich recht gehandelt habe, ob sie nicht selbst den Mann von Haus und Hof in die Arme des Weibes gejagt habe. Hätte sie ihm damals noch einmal verziehen, vielleicht wäre doch ein Stück Liebe gerettet worden.

Und auch heute im Sturme der Elemente, die wie mit Riesenfäusten an die Fensterladen hämmern, da kommt der alte Gedanke wieder. Warum? Weil morgen ihr Geburtstag ist! Den er einst, war's auch nur mit einer Kleinigkeit, stets zu einem Festtag für sie machte! Horch! Wieder wie aus weiter Ferne eine Stimme! Als trüge der Wind sie weit über Wasser und Geest! Nein, sie vermag es nicht länger zu hören. Sie eilt hinauf in ihr Schlafgemach und wirft sich auf das Bett, den Kopf tief in die Kissen bohrend. Die Nacht war schon herangebrochen, als droben im Dorfe im Krug ein dunkelbärtiger Mann sich erhob. Ein wirrer Bart umrahmte ein blasses Gesicht, aus dem zwei braune Augen wie suchend aus umschatteten Höhlen schauten. Vergeblich hielt ihn der Wirt zurück. Denn immer neue Wetter prasselten vom Himmel nieder, über den zerrissene Wolken wie wilde Unholde jagten.

»Wartet doch wenigstens bis morgen früh, Nägelein! Das laßt nicht mit sich spaßen.«

Der Dunkelhaarige aber schüttelte trüb den Kopf. »Laß mich nur! Ich habe keine Zeit zu verlieren! Wer so nahe am Hafen, der säumt nicht! Sie hat zu lange auf mich warten müssen! Und morgen ...« Er brach ab, öffnete die Tür und starrte in die wilde Nacht. Gerade in diesem Augenblicke fuhr es grell im Zickzack hernieder. Gleich darauf brüllte der Donner, daß die Erde zu schwanken schien.

»Ihr seht, Nägelein, es soll nicht sein! Ich habe Raum genug, bleibt ruhig über Nacht hier. Wird's hell morgen früh, so könnt Ihr ja ganz zeitig aufbrechen!«

»Zu lange schon hat sie gewartet! Ich will der erste morgen früh sein,« murmelte der andere für sich. Und dann stülpte er die Mütze auf das dunkle Haar und griff zu Stock und Tasche.

Und ehe der Wirt ihn hindern konnte, hatte die Nacht ihn verschlungen.

Kopfschüttelnd schloß der Wirt die Tür hinter sich.

»Das böse Gewissen trieb ihn fort,« murmelte er, »nun treibt es ihn wieder heim!«

Frau Martha war über alle Unruhe und heimliche Qual eingeschlafen. Im Osten begann bereits ein heimliches Drängen und Schieben. Dazwischen schrie die Natur noch immer über Heide und Wasser, der Sturzregen prasselte nieder, und die Wogen schlugen donnernd an den Strand. Da fuhr sie empor. Hatte sie geträumt? Wieder ihr Name? Und diesmal lauter, näher, dringlicher! Sie rieb sich die Augen. Sie suchte nach Licht. Da winselte der Hund auf. Dann ein Freudengeheul. O, mein Gott! Was ist das?

Und wie sie sich aufrichtet, da geht ein Donner durch die Lüfte, ein Schlag scheint das Haus zu durchbeben, ein weher, abgerissener Schrei ... dann ist's still, ganz still. Nur der Hund winselt weiter.

»Wie man sich täuschen kann. Diese Nacht ist fürchterlich!« spricht das einsame Weib. Zwei Stunden später öffnet sie die Haustür. Das Wetter ist still geworden. Wie ein selig Ruhen liegt es jetzt auf Wasser und Geest.

Ein Stück vor der Tür aber liegt, mit dem Antlitz nach unten gekehrt, ein dunkelhaariger Mann. Aus den Wettern und Wolken sprach zu ihm das Schicksal. Daheim, im Hafen, da hat er nach langer Irrfahrt seine endliche Ruhe gefunden.


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