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61.

Sobald sie sich entfernt hatte, und Gertrud und ich, von stummer Trauer befallen, allein waren, klopfte mein Sohn, zum Zeichen, daß er es sei, an die Thür meines Zimmers. »Treten Sie ein«, sagte Gertrud, indem sie ihm entgegenging; dann ergriff sie liebreich seine Hand, indem sie unbefangen fortfuhr: »Dies ist also der letzte Tag, den ich das Glück habe, mit Ihnen beiden noch zuzubringen!« – und sie rückte einen Stuhl herbei. Indessen war mein Sohn, dem durch die Beklemmung, welche diese Nachricht in ihm verursachte, und noch mehr bei der freundlich zarten Weise, mit welcher sie ihm Gertrud ankündigte, der Athem versagte, vor Schreck, Freude und Scham zugleich roth geworden, bis er, nachdem er sich niedergelassen, ohne ein Wort zu verlieren, seine Thränen mit den unsern vereinigte. Bald nachher sagte er zu mir, nicht ohne Schüchternheit, aber mit dem lebhaftesten Ausdruck des Wunsches: »Lieber Vater, erlauben Sie mir vor Ihnen auszusprechen, was mir mein Herz eingibt?« – Und da ich dies zu verweigern zögerte, so begann er, sich gegen Gertrud wendend: »Mein Fräulein, ich bin in Verlegenheit, Ihnen die Gefühle auszudrücken, die ich für Sie hege, so tief sind sie und so voll von lebhafter Zärtlichkeit, als von Achtung und Verehrung; lassen Sie sich aber daran genügen, zu erfahren, daß mein gütiger Vater und ich uns auf dem Gipfel unserer Wünsche befinden würden, wenn es einst, unter Einwilligung Ihrer Eltern und der Zustimmung Ihres eignen Herzens, geschehen könnte, daß mir für die Zukunft die Sorge, Sie glücklich zu machen, anvertraut würde!« – Beim Anhören dieser letzten Worte schien Gertrud, zugleich von Erstaunen und Dankbarkeit, Hoffnung und Schamgefühl erfaßt, der Reihe nach bald meinen Blick, bald das Andenken an Rosa, bald ihr eigenes Herz zu fragen. Als sie endlich die Sprache wieder fand, sagte sie erröthend: »Ach, Herr Andreas, in wie viel größerer Verlegenheit noch befinde ich mich, zu sagen, wie sehr Ihre Gefühle mich rühren und wie sehr ich geneigt wäre, ihnen zu entsprechen! ... Aber so kurz nach dem Tode Rosa's an dergleichen zu denken! ... Und dann«, fuhr sie fort, »bin ich wohl werth, die Gattin eines jungen Mannes zu werden, dessen persönlicher Charakter, wie nicht weniger sein ehrwürdiger Beruf, dem er sich gewidmet hat, ihn auffordern, sich, wie er sie auch leicht finden wird, eine Verlobte zu wählen, deren Ehrenkranz nicht die Stürme des öffentlichen Aergernisses entblättert haben?« ... »O hören Sie auf, Gertrud!« unterbrach sie mein Sohn, indem er sich zu ihren Füßen stürzte, »lassen Sie mich vielmehr diese Stürme segnen. Denn durch diese habe ich Sie erkennen gelernt, Geliebte, Verehrte! in ihnen hat sich Ihre Tugend glänzend bewährt, durch diese ist meine Achtung gegen Sie auf's höchste gestiegen! Aus ihnen, Gertrud, ja, aus ihnen werden, als aus ihrer reinsten und fruchtbarsten Quelle, Ruhe, Heiterkeit, das Glück unseres Lebens und für meinen Vater die Freuden seiner alten Tage hervorgehn!« – Bei diesen Worten reichte Gertrud meinem Sohne ihre Hand, zum Zeichen, daß ihr Herz sich ihm hingab; dann sagte sie, die Augen voll Thränen seliger Empfindung und indem sie mich mit Liebkosungen kindlicher Gesinnung überhäufte, zu mir: »Also würden Sie denn doch mein Vater sein! Welch Schicksal ist das meinige! und ist es denn möglich, daß Gott mich aus der Tiefe eines so großen Unglücks zum Gipfel einer so großen Glückseligkeit hat berufen wollen?« –

Als diese ersten Momente wechselseitiger Gemüthsbewegungen vorüber waren, sagte ich: »Meine Kinder, ich habe euch nach dem Willen eurer Herzen sprechen lassen; jetzt liegt mir ob, die Stimme der Vorsicht, der Pflicht und der Vernunft zu hören zu geben. Ich muß noch immer auf jenen Voraussetzungen bei einer Vereinigung, die ich ebenso sehr wünsche als ihr, beharren, und es wird diese Verbindung entweder gemäß dem freihandelnden Willen der Eltern Gertrudens, die auf dem regelrechten Wege um ihre Einwilligung anzugehen sind, stattfinden, oder sie wird es niemals, das erkläre ich hiermit bestimmt im voraus. Demnach jetzt keine formelle, bindende Verpflichtung, kein unwiderrufliches Versprechen; vielmehr statt dessen die Sache noch auf sich beruhen lassen; Nachgiebigkeit, voraus angenommene Unterwerfung, oder ich ziehe meine Hand ganz und gar von euch ab. Denn Gott bewahre mich, daß ich in Bezug auf dich, Andreas, und Sie, Gertrud, das gut heißen sollte, was ich so streng und so gerecht bei der armen Rosa gerügt habe! Nun gebieten aber Klugheit und Pflicht, daß wir alle drei das unbedingteste Stillschweigen über das beobachten, was soeben unter uns stattgefunden hat, damit, wenn ich nach einigen Tagen von hier aus an den Vater Gertrudens schreibe, um ihn in Andreas' Namen um die Hand seiner Tochter zu bitten, noch nichts, weder unmittelbar noch mittelbar seinen freien Willen hat beschränken, oder seinen Absichten Zwang anthun können.« Alle beide fügten sich sowohl aus Ueberzeugung, als aus Gehorsam in die Bedingungen, die ich soeben gestellt hatte, und statt verzweifelt zu sein, wie wir alle drei es noch vor einer Stunde gewesen waren, trennten wir uns zufrieden und von Hoffnung erfüllt.

Am Nachmittage ging ich, um der Tante Gertrudens meinen Gegenbesuch zu machen. Sie empfing mich anfangs ziemlich kalt; aber nachdem wir uns einige Augenblicke miteinander unterhalten hatten, schien es ihr zu gefallen, mit mir über ihre Nichte zu sprechen, und ich hatte Veranlassung mich zu überzeugen, daß diese Dame weit mehr theilnahmlos aus Gewohnheit und trocken aus Manier war, als gefühllos und ohne Herzensgüte. Vor allem fand ich Mittel, ihre Theilnahme für das unglückliche Schicksal und das rührende Ende Rosa's bis zu dem Grade zu gewinnen, daß sie Thränen darüber vergoß und mehr Nachsicht gegen die Stimmung zeigte, in welcher sie Gertrud gefunden hatte. Ihrerseits theilte sie mir mit, daß schon seit langer Zeit die Ungültigkeit der Heirat Rosa's in Bremen bekannt gewesen wäre, wo diese Kundwerdung das ärgerlichste Aufsehn gemacht und dadurch zugleich auch der Ruf Gertrudens vielleicht auf unheilbare Weise gelitten hätte. »Dieser schlimme Ruf«, fuhr sie fort, »hat auch schon einen ersten Plan der Verheiratung der ältern Schwester Gertrudens rückgängig gemacht, und mein Bruder ist für den Augenblick entschlossen, diese auf seinem Landhause in Zurückgezogenheit zu halten und weiter keinen Versuch zu machen, sie vor der Welt erscheinen zu lassen, bis Katharine (das ist der Name jener ältern Schwester) verheiratet ist.« – Nachdem wir uns so ziemlich freundschaftlich unterhalten hatten, empfahl ich Gertrud angelegentlich ihrer Gewogenheit und Nachsicht und fügte letztlich hinzu: »In einigen Tagen werde ich mir selbst die Ehre geben, an ihren Vater zu schreiben und ihm solche Mittheilungen machen, von denen ich glauben kann, daß sie geeignet sein möchten, die schiefe Stellung, worin sich eine Tochter befindet, deren vortreffliche Eigenschaften ebenso wie ihr trauriges Schicksal ihr meine lebhafteste Zuneigung gewonnen haben, wieder gut zu machen.« – Die Dame wiederholte ihren Dank, und diesmal mit wirklich empfundener Höflichkeit, für die väterliche Sorgfalt, die ich ihrer Nichte zugewendet hätte, so daß ich sie ganz anders gestimmt verließ, als sie sich zeigte, wie sie von mir wegging.

Indem ich in meine Wohnung eintrat, fand ich die Millers daselbst gegenwärtig, nach denen Gertrud geschickt hatte, um ihnen ihr Lebewohl zu sagen. Diese guten Leute bezeigten ihr jede Art des Bedauerns über ihre Abreise und versicherten ihr, daß sie stets über Nachrichten von ihr durch mich große Freude haben würden. Als sie sich entfernt hatten, kam Herr Durand an; wie damals baten wir ihn, uns den Abend zu schenken, und das Ende dieses Tages, der unter so traurigen Vorzeichen begonnen hatte, verlief in angenehmen Gesprächen und friedlicher Vertraulichkeit. Als Herr Durand sich gegen elf Uhr erhob, um Abschied zu nehmen, machte ihm Gertrud ihrerseits das anmuthige Geschenk ebenfalls einer Kette, aber geflochten aus den Haaren Rosa's, die sie nach ihrer Angabe durch die Vermittlung meines Sohnes hatte anfertigen lassen.


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