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Von dem nächsten Tage an holte ich nun die beiden jungen Freundinnen ab, und wir begannen unsere Promenaden. Bald gab ich die Richtung an, bald ließ ich mich dahin führen, wohin es meinen Begleiterinnen beliebte. Aber als sie sich hinreichend mit den Umgebungen unserer Stadt bekannt gemacht hatten, fiel ihre Wahl unvermerkt fast immer auf den Spaziergang, den man die Gärtenpromenade nennt. Dieser Spaziergang ist einsam, melancholisch, und eintönige Felsen, an deren Fuße die Arve und der Rhone fließen, um sich bald jenseits einer öden Sandstrecke zu verbinden, beschränken den Horizont schon in geringer Entfernung. Aber man befindet sich dort allein; der Lauf der Wellen zieht an, und wurmstichige Weiden schützen unter ihrem biegsamen Gezweige einen stets erfrischenden Pfad. Ich selbst – so große Macht übt die Gewohnheit auf uns aus – zog zuletzt diesen Gang allen übrigen vor, und ich hätte es bedauert, wenn ich ihm einmal an einem Tage untreu geworden wäre. Jetzt noch, zehn Jahre später, mache ich ihn wenigstens einmal in der Woche.
Auf diesen Promenaden lernte ich Dinge kennen, die mich erfreuten; ich bemerkte andere, die mir zu denken gaben. Der junge Herr hatte seine Annäherungen ausgesetzt, und seit die Damen Gelegenheit gehabt hatten, ihre Thüre vor ihm zu verschließen, um sie desto öfter mir selbst aufzuthun, war nichts weiter vorgefallen, was ihrem Ruf hätte schaden können. Unter diesen Umständen nun freute ich mich, ihnen zu Hülfe gekommen zu sein, und dankte Gott, der, wenn man den rechten Willen hat, sich offen unter seine Hut zu stellen, es niemals unterläßt, uns seinen Schutz zu gewähren.
In andrer Rücksicht aber hegte ich einige Besorgniß. In Wahrheit erwiesen mir diese Damen, nach meiner Ansicht, ein großes Zutraun und unterhielten sich in meiner Gegenwart auf die rückhaltloseste Weise, so daß es mir, wenn ich sie so oft die Tugenden und Eigenschaften des Grafen erheben hörte, war, als hätte ich selbst ihn ebenso genau gekannt und geschätzt. Andrerseits aber, außerdem daß ich mir nicht mehr, ohne Gedanken an Zwischenvorfälle und Glückswechsel, sowohl die Ursachen seines längeren Ausbleibens, als besonders die seines Schweigens erklären konnte, hatte ich bemerkt, daß die beiden jungen Freundinnen, so frei sie sich sonst in ihren Gesprächen ergingen, nur selten vor mir ihrer Familien, und nur mit einigem Rückhalt, erwähnten. Ueber diesen Punkt also blieb ich weniger befriedigt und ich begann in dieser Hinsicht solches Mißtrauen zu fassen, daß es mir peinlich wurde. Denn Eines hat mich eine lange Erfahrung unter den Menschen gelehrt, daß nämlich unter allen Bürgschaften über Aufführung und Charakter, wornach man gern im Stande sein möchte, sie zu beurtheilen, keine über die aufrichtigen Zeichen einer freien und offnen Liebe zu den Seinigen geht.
Wenn übrigens meine beiden Gefährtinnen, meiner Meinung nach, in dieser Hinsicht allzu zurückhaltend in ihren Aeußerungen waren, so antworteten sie auf meine sonstigen Fragen sehr willfährig und ohne Ausweichen. Ich erfuhr also, daß sie zweien ehrenhaften Familien der Stadt Bremen angehörten; daß sie, von ihrer ersten Kindheit an, eine lebhafte und unauflösliche Freundschaft geschlossen hätten; daß die eine die Heirat der andern befördert hätte, indem sie ihr das Versprechen gab, sich nicht von ihr zu trennen, und dieser Ehebund zu Delmenhorst, einem kleinen Flecken ganz nahe bei Bremen, eingesegnet worden wäre, und zwar an dem nämlichen Tage, an welchem sie ihre Familien verlassen hätten, um die Reise anzutreten, die sie nach Genf brachte. Einige von diesen Umständen würden mir unter andern Verhältnissen romanhafter erschienen sein, als es sich schickt, und eine große Unerfahrenheit im Leben bewiesen haben; aber so zwanglos und zugleich so schwunghaft war der Zug des Geistes der beiden jungen Freundinnen, daß im Gegentheil grade diese Umstände in meinen Augen die Wahrheit ihres Berichts bestätigten. Was ihre Vermögensumstände anbelangte, so urtheilte ich darüber weniger nach ihren Gesprächen, als darnach, wie sie sich trugen; nach dem Hotel, das sie sich gewählt hatten, und nach dem Anschein von Ueberfluß, den man in Allem wahrnehmen konnte, was ihre Personen betraf, so daß ich wenigstens von dieser Seite einen Grund der Sicherheit für die Gegenwart und eine sehr beruhigende Quelle für die Zukunft ersah, wenn etwa endlich eine lange und kostspielige Reise das einzige Mittel bliebe, um sich wieder mit dem Grafen zu verbinden oder zu ihren Familien zu gelangen.