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Am andern Tage, als ich die beiden Damen wieder besuchte, erfuhr ich, daß wirklich einige Augenblicke darauf, nachdem ich am Tage vorher von ihnen weggegangen war, Jemand geklingelt hatte, und daß sie, noch von dem unheilverkündenden Eindrucke, den ihnen meine Erinnerung verursacht hatte, zitternd, anstatt öffnen zu gehn, ihre Thüre doppelt verriegelt und, sich gegenseitig in die Arme schließend, sich aneinander gehalten hatten, um ihre Furcht zu bannen und sich dadurch zu hindern, daß sie Schreie ausstießen, welche die Nachbarn herbeigezogen hätten. Diese Ruhestörung hatte sehr übel auf die arme Rosa gewirkt, die ich in der That von einem hitzigen Fieber ergriffen und dennoch außer dem Bette fand, aus zu großer Furcht, man könnte sie im Bett überraschen. Uebrigens hatte sich der unbekannte Jemand, nachdem er ungefähr zehn Minuten lang unaufhörlich an der Klingel gezogen, entfernt, und eine halbe Stunde nachher war nur die Frau Miller eingetreten. Bei dieser Gelegenheit äußerten sie, daß sie sich vorgenommen hätten, in Zukunft für gewöhnlich ihr Zimmer verschlossen zu halten, sei es nun um der Sicherheit willen, sei es, weil sie nicht mehr dasselbe Zutrauen in die Millers hätten, als sie es in der ersten Zeit ihres Aufenthalts bei denselben gehabt hatten. Und als ich wissen wollte, was dieses Zutraun vermindert hätte, sagten sie, sie wüßten nichts Bestimmtes anzuführen, es sei aber der allgemeine Eindruck, welchen sie in diesen letzten Tagen im Ton, in der Miene und dem Benehmen ihrer Wirthe gegen sie empfunden hätten.
Auch sagten sie mir, daß sie viel über ihre Lage, über ihr gegen ihre Familien begangenes Unrecht nachgedacht hätten, wie auch, daß sie unmöglich länger die Güte, die ich ihnen erwiesen hätte, mißbrauchen möchten, da ich sie ausübte auf Kosten meiner eigenen Angelegenheiten und sogar auf die Gefahr hin, meine Gesundheit durch die Vermehrung der Gänge und die Unruhe, welche sie meinem hohen Alter verursachten, zu untergraben; daß überdies ihr Kummer in Hinsicht des Grafen und dessen, was ihm zugestoßen sein möchte, so daß er sich genöthigt fände, sie dergestalt ohne alle Nachrichten wie ohne Geld zu lassen, auf die Spitze gediehen, und die Stunde gekommen wäre, all diesem ohne längeren Aufschub ein Ziel zu setzen; daß andrerseits, weil sie die Unmöglichkeit sähen, sich unmittelbar an ihn zu wenden, da keiner ihrer Briefe ihm zuhanden gekommen zu sein schiene, sie entschieden wären, ihre eigenen Familien über ihre Lage in Kenntniß zu setzen, indem sie sie zugleich um Verzeihung bitten und sie anflehen wollten, in Hamburg über den Grafen Erkundigungen einzuziehn; daß sie sich folglich, sobald Rosa wieder hergestellt wäre, in Gemeinschaft damit beschäftigen würden, an ihre Eltern zu schreiben und mich darum bitten würden, diesem Schritte dadurch ein Gewicht zu geben, welches er sonst nicht haben würde, daß ich selbst ein Schreiben beilegte, in dem ich die Aufrichtigkeit ihrer Gefühle bestätigte und meine Fürbitte für sie einlegte. – Als sie eben mit der Auseinandersetzung dieses klugen Planes, der in jedem Punkte mit dem übereinstimmte, den ich selbst ihnen hatte vorschlagen wollen, zum Schlusse kamen, ließ sich die Klingel in der Küche hören. Sogleich stürzten die beiden Freundinnen, von Schreck ergriffen, auf mich zu, indem sie meine Hände erfaßten und mich mit ihren Armen umschlangen. Eben so wie gestern war grade die Frau Miller hinausgegangen; und da ich durch einen Eingang in das Haus an der Seite des Gefängnisses eingetreten war, so daß man von dem Dachstübchen aus wohl die Frau Miller hatte herauskommen sehen können, ohne jedoch meine Ankunft wahrzunehmen: so beschloß ich, selbst die Thüre zu öffnen, um mich zu vergewissern, ob es nicht der junge Mann selbst wäre, welcher auf diese Weise sich heimlich Zugang verschaffen wollte, indem es ihm dann frei stand, hernach eine Entschuldigung für seine Dreistigkeit in der Heftigkeit seiner Gefühle und in dem Verlangen zu finden, die Damen von seinen Wünschen oder seinen Entwürfen zu unterhalten. Nachdem ich also Rosa und Gertrud gebeten hatte, mich frei zu lassen, und sich in ihr Gemach einzuschließen, bis ich zu ihnen zurückgekehrt wäre, schritt ich ganz leise durch die Küche und stellte mich hinter die Thüre, und beim ersten Schalle der Klingel, der sich wieder hören ließ, öffnete ich plötzlich die Thüre. So viel die Dunkelheit von der Treppe mir zu sehn erlaubte, unterschied ich eine Frauensperson, den Kopf mit einem Barett oder einer schwarzen Weibermütze bedeckt und übrigens wie die Mädchen aus dem Kanton Waadt gekleidet, die nach Genf kommen, um dort in Dienst zu gelangen. – »Was will man hier?« fragte ich; und bemerkend, daß sie sich, anstatt mir zu antworten, anschickte, eiligst die Treppe wieder hinabzusteigen, ergriff ich sie beim Arme, zog sie in die Küche herein und erkannte nun, unter dieser Verkleidung eines Dienstboten in gutem Hause, das Frauenzimmer Marie!
»Ah, bist du es?« sagte ich zu ihr, die Thüre ganz verschließend; »du wirst mir jetzt berichten, was dich hierher führt, und was dieses Billet bedeutet, das du soeben meinen Blicken zu verbergen suchtest.« – Da sie mit der Antwort zögerte, so fügte ich hinzu: »Bedenke wohl, daß jegliche Lüge hier gefährlich ist, denn sie würde nur dahin führen, dich die Strenge der Polizei fühlen zu lassen, anstatt sie auf den hin zu lenken, der dich schickt.« Hierauf brachte sie das Billet unter ihrem Taschentuch hervor und rief, nachdem sie es mir eingehändigt hatte, mit frechem Tone aus: »Ich spotte jeder Polizei!« Ich brachte nur einen Brief an Madam Miller, damit sie ihn den Damen zustellte, die bei ihr wohnen. Das ist Alles, und deshalb, glaube ich, wird man mich nicht hängen!... Jetzt lassen Sie mich wieder meiner Wege gehn.« – »Einen Augenblick!« sagte ich zu ihr, während ich das Billet eröffnete, um mich zu versichern, was wohl der Gegenstand ihrer Botschaft wäre. Aber indeß ich noch damit beschäftigt war, es zu lesen, trat Madam Miller ein. Hierauf beobachtete ich, ohne daß ich mir den Anschein gab, es zu thun, aufmerksam ihre Haltung, ihren Blick, sogar ihre neugierige Miene, und nachdem ich mich hinlänglich überzeugt hatte, daß sie durchaus nicht wußte, wer dieses Frauenzimmer wäre, und daß folglich ihr Ausgehen, anstatt die Folge einer verbrecherischen Mitwissenschaft zu sein, im Gegentheil ganz zufällig gewesen war: so faltete ich ruhig das Billet wieder zusammen, steckte es zu mir und sagte zu derjenigen, die es mir soeben übergeben hatte: »Es ist gut, Sie können gehn.« –
Als Marie sich entfernt hatte, sagte ich zu Madam Miller: »Nun, wie stehn hier die Angelegenheiten? Unsere junge Dame ist, wie ich sehe, sehr leidend gewesen.« – »Ihre junge Dame«, antwortete sie übelgelaunt, »Ihre junge Dame ist gar nicht die meinige. Wenn man sich den ganzen langen Tag einschließt, so macht man sich sicherlich nicht beliebt. Man mißbraucht Sie, Herr Bernier, und ich sehe es kommen, daß wir die Kosten Ihres Irrthums zu tragen haben werden. Wissen Sie denn nicht, daß sie ihre Kleider und ihr Geschmeide verkauft haben, um ihre thörichten Ausgaben im Hotel zu bezahlen? Wissen Sie nicht, daß die Eine« ... »Ihre Aeußerungen, Madam Miller«, erwiederte ich, sie unterbrechend, »sind nicht sehr liebreich. Im Uebrigen, da weder Jugend, noch Verlassenheit, noch Unglück Sie mitleidig zu machen vermögen, so gebe ich Ihnen hier zwei Beweggründe, die Sie wenigstens veranlassen werden, die Damen zu dulden. Der eine ist, daß in zwei, höchstens drei Wochen diese Damen Ihr Haus verlassen werden, um zu den Ihrigen zurückzukehren; der andere, daß ich dafür Bürge bin, daß Sie nicht einen Pfennig von dem einbüßen sollen, was sie Ihnen bis zum Augenblick ihrer Abreise schuldig sind.« – Hierauf verließ ich die Frau Miller, und nachdem ich vorher an die Thüre des Zimmers geklopft hatte, öffnete mir Gertrud.