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43.

Eine halbe Stunde später nach ihrer Entfernung erschien Gertrud wieder in dem Eßzimmer, worin ich auf sie gewartet hatte. – »Liebe Tochter«, sagte ich zu ihr, »ich beschwöre Sie vor Gott, mir zu sagen, ob Sie in dem, was Sie mir rücksichtlich der Heirat Rosa's mitgetheilt, mich in irgend etwas dabei, worin es auch bestehe, getäuscht haben.« Ans diese Frage antwortete mir Gertrud, indem sie ihre Bestürzung zu unterdrücken suchte, ehrerbietig, aber stolz: »Das, was wir Ihnen gesagt haben, Herr Bernier, ist die volle, lautere Wahrheit. Wer das Gegentheil behauptet, geht darauf aus, uns um Ihr Wohlwollen zu bringen.« Dann rief sie, sich einer Regung schmerzlicher Betrübniß überlassend: »Wie unglücklich sind wir doch!« – dabei brach sie in Thränen aus – »weil unser einziger Freund auf der Welt von neuem Zweifel an unserer Redlichkeit gegen ihn hegt!« – Hierauf zog ich den Brief aus der Tasche, und ihn vor sie hinlegend, sagte ich: »Lesen Sie dies, Gertrud, und beurtheilen Sie selbst, ob ich nicht an Ihnen zweifeln muß.« – Als Gertrud, welche vor Ergriffenheit am ganzen Körper bebte, bis zu den Worten gekommen war: »die Sie selbst auf eine höchst sträfliche Art täuscht«, blickte sie eilig nach der Unterschrift, und stieß darauf einen Schrei aus, welchen sie jedoch auf einen Wink, den ich ihr gab, daß sie Rosa nicht aufwecken sollte, sogleich unterdrückte. Doch, mit Schreck im Blick und einer Todesblässe im Antlitz, blieb sie stumm, so daß ich nicht unterscheiden konnte, ob es die Wirkung des Schmerzes oder der Gewissensbisse sei, ob Schreck über eine falsche Beschuldigung, oder die Scham, sich und ihre Freundin durch das nicht zurückzuweisende Zeugniß der Mutter Rosa's entschleiert zu sehen. – »Sprechen Sie, Gertrud«, sagte ich, indem ich ihre Hand ergriff, »sprechen Sie, mein Kind, und lassen Sie sich ein Geständniß gegen mich keine Ueberwindung kosten; ich fühle da in mir ein Etwas, das Ihnen noch zu verzeihen vermag.« – »Was kann ich sagen? was kann ich thun?« rief sie hierauf aus, »weil ebenso wie Sie diese Worte mich erschrecken, ohne daß ich ihren Sinn begreife ... Ach, Rosa! Rosa! ... ach, meine reine, sittsame Rosa! was ist denn geschehen, was du nicht weißt, was ich nicht weiß? ... oder täuschen wir uns nicht etwa selbst, mein lieber Herr Bernier, und wollen diese Worte nicht vielleicht sagen, daß wir Ihnen grade das verborgen haben möchten, was wir Ihnen mitgetheilt haben?« – Sie nahm den Brief wieder auf; sie las ihn noch einmal ganz durch. Aber da sie sich wieder in die Erinnerung zurückrief, wie unsere gemeinschaftlichen Briefe an die beiden Familien voraussetzten, daß sie mir nichts verheimlicht hätten, so verfiel sie wieder in die Aeußerungen der heftigsten Verzweiflung. Wie alle frühern Male, ließ ich mich durch diese sichtlichen Zeichen einer offenbaren Aufrichtigkeit so besiegen, daß meine Zweifel, die sich nicht weiter gegen die Wahrhaftigkeit der Damen richteten, wie auch die Gertrudens selbst, sich in allerlei düstere Vermuthungen und Besorgniß erregende Wahrscheinlichkeiten verloren.

»Ich habe vor Allem mit Ihnen, Gertrud«, fuhr ich fort, »diese Erörterung durchsprechen wollen, und Sie begreifen übrigens, daß wir Alles, was diesen unglücklichen Brief betrifft, Rosa verschweigen müssen. Nun nehmen Sie diesen in Empfang, der an Sie gerichtet ist.« Sie griff mit Lebhaftigkeit darnach, und da sie auf der Adresse die Handschrift ihres Vaters erkannte, so küßte sie ihn mit der Wärme der Dankbarkeit. Aber sobald sie ihn erbrochen und die ersten Zeilen durchflogen hatte, sagte sie: »Nein, nein, das wird nie geschehen! Sie selbst, bester Herr Bernier, werden, wie ich zu glauben wage, mit mir anerkennen, daß es Bande gibt, welche man festhält um den Preis von Allem, selbst den eines Fluches!« ... Da sie diese Worte mit einer außerordentlichen Seelenstärke aussprach, so schauderte ich vor Schrecken; sie klangen in meinen Ohren wie eine Gotteslästerung und schienen die Gesinnungen kindlicher Unterwerfung, deren Versicherung mir Gertrud verschiedenemale gegeben hatte, Lügen zu strafen, als wenn sie nur eine leere Lockspeise gewesen wären. – »Nehmen Sie und lesen Sie«, fügte Gertrud hinzu, und reichte mir den Brief hin, der folgenden Inhalt hatte: »Insofern Du Dich noch vor unvertilgbarer Schande bewahrt hast, und in der Hoffnung, daß der Ausdruck Deiner Reue ein aufrichtiger ist, willige ich ein, Gertrud, Deine Unterwerfung anzunehmen und Dich wieder in den Schooß der Familie eintreten zu lassen. Doch kann dies nur unter der Bedingung geschehen, daß Du jeden Bezug zu Rosa abbrichst, für deren künftiges Schicksal übrigens gesorgt ist. Wenn ich in dieser Rücksicht Deine feierlichen Verpflichtungen werde erhalten haben, welche Du mir durch den nächsten Kurier zukommen lassen sollst, wird Deine Tante Sarah sich auf die Reise nach Genf begeben, um Dich dort zu empfangen, und von diesem Augenblick an wirst Du Dich nach allen ihren Anordnungen richten.

Dein Vater Rudolph H.«


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