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Man kann sich denken, in welcher Angst ich die Damen wiederfand. Ohne ein Wort zu verlieren, befragten sie mein Gesicht, meinen Blick, jede meiner Bewegungen, und als ich das Billet aus meiner Tasche zog, riefen sie mit einer Geberde des Schreckens: »Was ist das?« – »Das ist«, versetzte ich darauf, »ein Liebesbrief, der vorzugsweise an Sie, Gertrud, gerichtet ist. Aber ärgern Sie sich nicht darüber, mein Kind, denn er kommt von demselben Herrn, der Sie alle beide im Hotel bloßgestellt hat, so daß dies kein unerwarteter neuer Schimpf ist. Ja, noch mehr, wenn ich nicht außerdem und aus eigner Erfahrung wüßte, was man von dem Schreiber dieses Briefes zu denken hat, so könnte mich dieser wohl verleiten, nicht allzu ungünstig über jenen zu urtheilen, so aufrichtig scheinen die darin ausgedrückten Gefühle und so unverwerflich ist die Form, in der sie ausgedrückt sind. Aber, meine lieben Kinder, so bedecken sich zu allen Zeiten die räuberischen, Wölfe mit Schafsfellen, um sich darunter ihrer Beute nähern zu können, und zwingen ihre rauhe Stimme, nur unschuldiges Blöken hören zu lassen.« – Nach dieser Bemerkung las ich ihnen den Brief laut vor. Der junge Herr begann darin mit höflichen Entschuldigungen wegen des Auftritts im Hotel, dessen Widerwärtigkeit er zum Theil auf seine eigne Unerfahrenheit, zum Theil aber auf die durchaus irrige Weise schob, wie ich seinen Schritt ausgelegt hätte, jedoch anerkennend, daß bei derlei Anlässen eine christlich strenge Moral, im Fall sie nur vom Irrthum zurückkommt, wenn sie später die Redlichkeit der Absichten eingesehen hat, niemals deshalb Tadel verdienen würde, daß sie zu früh Aergerniß daran genommen und zu überflüssigen Vorsichtsmaßregeln gegriffen hat. Hierauf kam der junge Herr auf seine Empfindungen für die Damen zu sprechen, von denen er die zarteste Schilderung entwarf, bis er, nach und nach auf Gertrud übergehend, für diese eine ernste, tiefe Leidenschaft kundgab, die seine ganze Seele beherrsche und dazu angethan wäre, je nachdem der Himmel es lenkte, ihm entweder als ein Glück ohne Gleichen zu gelten, oder ihn in eine Verzweiflung zu stürzen, die zum wenigsten die gewisse Wirkung haben würde, seine Lebenslage abzukürzen. Wenn er sich übrigens entschlossen hätte, den Zustand seines Herzens vor ihnen zu enthüllen, so geschähe es in der Absicht, damit die Damen sich daraus die unbedachte Aufwallung erklären könnten, die ihn zu dem voreiligen Schritte im Hotel verleitet, aber durchaus nicht in der Voraussetzung, nächster Tage sofort zum Besuch zugelassen zu werden, wie groß auch seine Sehnsucht darnach sei, und noch weniger in dem Gedanken, Erwiederung von Seiten Gertrudens zu erstreben, wenn es selbst seine Ruhe, sein Glück und sein Leben kosten sollte, und daß er seine einzige, ungewisse Hoffnung nur auf die Wirkung der Zeit und die ehrerbietige Leidenschaft seiner Gefühle gründe. –
Das Vorlesen dieses Briefes brachte auf die Damen denselben widerwärtigen Eindruck hervor, den er bei mir erzeugt hatte, und vielleicht stellten sie, gleich mir, zwischen dieser Sprache und derjenigen, deren sich noch unlängst der Graf gegen Rosa bedient hatte, einen traurigen Vergleich an, indem sie sich dabei erinnerten, daß sie ganz ähnlichen Betheurungen nachgegeben hatten, um ohne die Bestimmung ihrer Familien eine heimliche Heirat einzugehn. Wenigstens legten sie gegen mich ein großes Bedauern an den Tag, in die Vorlesung des Briefes gewilligt zu haben, ohne jedoch so weit zu gehen, zu behaupten, daß sie etwas platt Romanhaftes oder thöricht Übertriebenes darin hätten finden können. – »Meine Kinder«, sagte ich hierauf zu ihnen, »das ist nun der Inhalt des Briefes; aber ich habe euch noch nicht die Nachschrift vorgelesen, worin unter einer sehr gefährlichen Arglist die Falle versteckt liegt, in welche zu gehn ihr, wie ich hoffe, sowohl heute als irgendwann zu vermeiden wissen werdet; sie lautet so:
P.S. Ich wäre im Stande, Ihnen Nachrichten von dem Grafen mitzutheilen, die ich aber dem Papier nicht anzuvertrauen wage, so lange ich nicht gewiß weiß, daß es an Sie gelangt, die aber Ihnen zuzustellen ich stets bereit sein werde, auf die einzige Bedingung hin, deren löbliche Beweggründe ich Ihnen später mittheilen werde, daß Sie sowohl über diesen Brief, wie über den Besuch, den Sie zu gelegener Zeit von mir in Anspruch zu nehmen für gut halten würden, mir die unbedingteste Geheimhaltung vor Herrn Bernier versprechen.«
Das Vorlesen dieser Nachschrift versetzte Rosa in einen außergewöhnlichen Zustand von Aufregung.– »Jetzt ist es durchaus nöthig, lieber Herr Bernier, daß Sie sich angelegen sein lassen, diesen jungen Herrn selbst zu sprechen«, rief sie aus; »Sie müssen ihn dringend angehn, ihn beschwören, ihn unserer ewigen Erkenntlichkeit versichern, wenn er uns, durch Ihre Vermittlung, Nachrichten über den Grafen zukommen lassen will ... Ach! ich selbst, ich selbst, wenn ich dazu die Kraft hätte, wollte zu ihm gehn und mich zu seinen Füßen werfen ... Aber eben fällt mir ein, du, Gertrud, könntest Herrn Bernier begleiten; eilt, fliegt, damit ich noch, eh' eine Stunde vergeht, wenigstens erfahre, ob ich noch meinen Ludwig erwarten darf, oder ob mir nur noch übrig bleibt, vor Schmerz zu vergehn, weil ich ihn verloren habe!« ...
Nach diesen Worten warf sich Rosa gegen die Rücklehne des Sessels, die Augen trocken, und doch nichtsdestoweniger einem Schluchzen, das von Zuckungen begleitet war, anheimfallend. »Rosa, Gertrud«, sagte ich jetzt – denn ich sah wohl, daß diese im Stande wäre, Alles zu unternehmen, um die Angst ihrer Freundin zu beschwichtigen – »es steckt hier nur eine plumpe Hinterlist und nicht der Schatten von Nachrichten über den Grafen dahinter. Dieser Mensch, hört mich recht an, sinnt nur auf Mittel, euch meiner Obhut zu entreißen, um euch in die Netze seiner Ausschweifung zu locken. Und da sie bei diesem Worte alle beide vor Abscheu und Scham schauderten, so wiederholte ich: »in die Netze seiner Ausschweifung, und ich habe hundert Beweise davon, mit deren schmutziger Erzählung ich bisher eure Ohren verschonen zu müssen geglaubt habe.« – Hierauf erzählte ich ihnen, in schonenden Ausdrücken, die Geschichte des Briefes, die meiner Begegnungen, welche ich nach und nach mit dem jungen Herrn gehabt hatte, die meines Abenteuers bei dem Frauenzimmer Marie, und wie endlich durch die Zwischenträgerei dieser abscheulichen Kreatur und durch eine besondre Begünstigung der gütigen Vorsehung soeben dieser Brief in meine Hände, anstatt unmittelbar in die ihrigen, gefallen sei. Diese Darstellung machte auf beide den düstersten und tiefsten Eindruck, dergestalt, daß sie, noch über und über zitternd bei dem Gedanken an die Gefahr, der sie hätten anheimfallen können, gleichsam wie durch einen geheimen Zug sich mir näherten, als man an die Thür des Zimmers klopfte. Kaum hatten sie dies gehört, als sie einen Schrei ausstießen, sich vor mir auf die Kniee warfen und mich beschworen, nicht zu öffnen. Aber ich nahm auf ihre inständigen Bitten keine Rücksicht, und nachdem ich im Gegentheil auf der Stelle geöffnet hatte, sah ich in der Küche eines der Millerschen Kinder und auf der Thürschwelle des Zimmers selbst einen Mann, den ich an seinen Abzeichen als einen Polizeibeamten erkannte. – »Entschuldigen Sie«, sagte dieser, indem er seine Kopfbedeckung abnahm; »auf die Anzeige eines Frauenzimmers, welche, wie sie sagt, gelegentlich den Aufenthaltsort dieser Damen entdeckt hat, bin ich beauftragt worden, diesen ihre Papiere abzufordern, um ihre gegenwärtige Stellung in Ordnung zu bringen.« – Mehr todt als lebendig bei dieser demüthigenden Aufforderung, beobachteten die beiden Freundinnen tiefes Stillschweigen. Endlich wandte sich Gertrud an mich und sagte: »Alles, was ich von unserer gegenwärtigen Stellung weiß, lieber Herr Bernier, ist, daß wir alle beide auf den Paß des Grafen hierher gereist sind, so daß wir bis zu dessen Rückkunft durchaus keine Papiere zu übergeben haben.« – »Statten Sie also ganz einfach diese Erklärung ab«, sagte ich hierauf zu dem Manne, in der Absicht, daß dadurch sein Besuch abgekürzt würde, »und fügen Sie hinzu, daß ich, der Prediger Bernier, auf dem Polizeibureau erscheinen würde, um Bürgschaft dafür zu leisten und um mich in Betreff der Maßregeln zu verständigen, die man treffen muß, um die Stellung dieser Damen zu regularisiren.« – Der Mann entfernte sich hierauf sogleich, um seinen Bericht abzustatten, und nachdem ich noch eine Stunde bei Rosa und Gertrud geblieben war, um ihnen einige Ruhe und Unbesorgtheit wiederzugeben, mußte ich, ehe ich noch die Genugtuung hatte, diesen Zweck erreicht zu haben, sie verlassen, um an die Erfüllung meiner Obliegenheiten zu gehen.