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So bedrohten, trotz aller meiner Vorkehrungen, Gefahr und Demüthigung meine beiden Schützlinge immer mehr und immer näher. Ohne Zweifel konnte ich mich freuen, daß ich ihnen auf ihrem Wege begegnet war, um ihnen Beistand zu leisten und ich sah es als eine große Gunst des Himmels an, daß ich sie soeben, gerade in dieser Stunde, vor der drohendsten Gefahr, die sie noch je betroffen, hatte bewahren können. Wenn ich aber andrerseits sah, von welcher Art von Verfolgung sie der Gegenstand, und wie vieler Bösartigkeit, Hinterlist und hartnäckigem Verrath sie ausgesetzt waren, so verzweifelte ich daran, daß es mir immer so glücken würde, und es überfiel mich Mutlosigkeit. Aber der Gedanke, in einem Werke, das so klar als eines der ersten Gebote der christlichen Liebe ausgesprochen ist, zu erlahmen, bewirkte in mir eine lebhafte Scham, und als ich dann gar an das göttliche Vorbild unsers Erlösers Jesu Christi dachte, so erröthete ich mit Zerknirschung, daß ich auf meinem Pfade solcherweise bedenklich sein konnte, und faßte neuen Muth, um ihn wieder zu verfolgen. Dennoch waren es hier vielmehr die Schwächen des Fleisches, welches, bald ermattet, Nachsicht und Ruhe verlangt, als es die wahren Eingebungen meines Herzens sein konnten; denn ich fühlte mich an diese beiden Unglücklichen in dem Maße immer mehr gefesselt, je mehr ich mich mit ihnen beschäftigt hatte, und da ich sie bei mancher Gelegenheit so von ihrer Höhe gesunken und verlassen sah, so hatte das Mitleiden mein innerstes Herz ergriffen. Das Alter macht uns geneigter zur väterlichen Zärtlichkeit gegen die zutrauliche Jugend, und wenn in Wahrheit auch die Prüfung der beiden Freundinnen eine verdiente war, weil sie, in Rücksicht auf ihre Familien, das heiligste der Gebote verletzt hatten: so besaßen sie doch demungeachtet sonst jede Art vortrefflicher Eigenschaften, und es begegnete mir oft, wenn ich sah, wie sie so leicht an das Gute und Rechtschaffene glaubten, so dankbar für erwiesenes Wohlwollen oder Schutz waren, daß ich mir einbildete, sie wären grade ebenso sehr durch ihre Unschuld, als dadurch, daß sie sich dem göttlichen Gesetze entzogen, in die Irre gerathen. Rosa zeigte alle die Uebereilungen, aber auch all das Wunderbare einer empfindungsvollen, leicht vertrauenden, leidenschaftlichen Seele, all den Mangel an Erfahrung eines jugendlichen, glühenden, leicht entflammten Herzens; aber auch alle die Vorzüge eines sich gern mittheilenden, zärtlichen Naturells, das voll offener Lebhaftigkeit ist. Was Gertrud anbelangt, welche mir anfangs in jedem Punkte Rosa gleich erschienen war, so hatte ich in ihr nach und nach erkannt, daß sie weit eher begeistert, als von Natur glühenden Herzens war, und daß man der Macht ihres mehr überlegten Charakters, so wie ihres gebildeteren Verstandes die Herrschaft zuschreiben mußte, die sie über ihre Freundin ausübte. Ein gewisser Hang zu nachdenklicher Schwermuth, der Trieb zur Fürsorge, der Drang zur Aufopferung schienen mir die entscheidenden Grundzüge ihrer Seele zu sein, und wenn sie übrigens ebenso aufrichtig, so offenherzig, so gradsinnig wie Rosa war, so war dies bei ihr weit mehr das Ergebniß einer ernsten Erhabenheit als, wie bei Rosa, die unmittelbare Wirkung eines Naturells, das irgend einer Verstellung unfähig war und in Folge seiner Aufrichtigkeit sich vollkommen durchschauen ließ.
Uebrigens traten diese früher verhüllten Verschiedenheiten unter meinen Augen täglich in dem Maße mehr hervor, als die Lage der beiden Freundinnen drückender und ihr Schicksal bedenklicher wurde. Rosa, in den ersten Tagen so strahlend von Heiterkeit und Glücksgefühl, hatte sich bald, weniger noch kummervoll, als vielmehr bestürzt, aufgeregt, leidenschaftlich gezeigt, und es waren weit mehr die Erschütterungen als die Betrübnisse ihrer Seele, die schon zweimal ihren Körper niedergeworfen, ihr Blut entzündet und ihre frische Gesundheit durch die Anfälle eines hitzigen Fiebers gebrochen hatten. Gertrud dagegen, viel eher angegriffen als ihre Freundin durch die Vorgefühle der Enttäuschung und der Unruhe, aber weit schneller als diese Herrin ihrer Eindrücke, hatte sich in einer Art von Leiden durch Muth aufrecht erhalten und durch ihre Aufopferungsliebe zerstreut, so daß sie, trotz der eifrigsten Sorgfalt, die sie Tag und Nacht an ihre Freundin wandte, deren Zustand ihr große Beunruhigung verursachte, doch nicht allein ihre Gesundheit behalten, sondern ihr Gesicht trug auch, außer einer mehr als sonst an ihr gewohnten Blässe, durchaus noch keine Spuren nagender Schmerzen oder krankhafter Abzehrung.
Noch an demselben Tage begab ich mich, nachdem ich meine Angelegenheiten besorgt hatte, auf das Polizeibureau. Die Beschaffenheit der Anzeige, welche Marie daselbst gemacht hatte, wie auch die Thatsache, daß diese Anzeige durch deren Vermittlung dahin gelangt war, hatte natürlich auf die Auffassungsweise der Beamten Einfluß ausgeübt, und ich mußte dort, in Betreff der Lage der Damen und ihrer Unterhaltsmittel, auf solche Fragen Antwort ertheilen, deren am wenigsten herabwürdigende sogar, wenn sie sie vernommen hätten, in ihre schamhafte Seele das unbekannte Entsetzen eines unheilbaren Schreckens gebracht haben würde. Mich selbst verletzte es im tiefsten Herzen, mich ihnen unterziehen müssen, und ich hatte nöthig, den Ausbruch meiner empörten Gefühle mit aller Kraft der Klugheit niederzuhalten, damit sie sich nicht unter allen den Leuten dort in bittern Klagen Luft machten gegen die Annahme der Angebereien eines verworfenen Geschöpfes, welches keinen andern Beweggrund dazu hatte, als den, eine niedrige Rache zu üben; ferner gegen die geschäftliche Gleichgültigkeit, welche, die Zeugnisse abweisend, die Keuschheit selbst vor sich berief, um sich über ein regelwidriges Leben zu rechtfertigen, welches sie gar nicht kannte; endlich gegen die persönliche Neugierde der Anwesenden, welche, um sich zu befriedigen, einen alten Prediger, dessen Erscheinung allein schon hätte genügen sollen, um von seinen Schützlingen allen beleidigenden Verdacht zu entfernen, gleichsam auf dem Armensünderstühlchen festhielt. Aber ähnliche Auslassungen, wie sie mir auf der Zunge lagen, hätten nur ein an sich schon hinreichend betrübendes Aergerniß ohne Nutzen ruchbar gemacht, so daß ich es dabei bewenden ließ, die Lage der Damen zu erörtern, mich als Bürgen für ihre untadelige Aufführung zu erklären und zu versprechen, daß ich innerhalb weniger Wochen ihre Papiere geordnet vorzeigen würde. Hierauf allein erwies mir der Vorsteher der Beamten, ohne Zweifel durch ein Gefühl des Bedauerns wie der Gerechtigkeit bewogen, die Rücksichten, auf die ich von Anfang an ein Recht zu haben glaubte, und indem er mir seinen guten Willen darthun wollte, forderte er mich auf, mit nach dem Paßbureau zu kommen, um nachzusehen, ob der Paß des Grafen dort unter dem betreffenden Datum einregistrirt worden sei, in welchem Falle die Lage der Damen sich auf der Stelle hinreichend in der Ordnung erwiese, und man würde ihnen dann mit Vergnügen eine Aufenthaltskarte einhändigen. Er begleitete mich selbst nach jenem Bureau, wo ich, während er das Nachsuchen im Register vornahm, unter andern auf einem Pulte durcheinander liegenden Papieren den Paß des jungen Herrn erblickte, der soeben nach Basel, unter dem Datum des gestrigen Tages, visirt worden war. Dies gab mir einigen Trost, und ganz sicher, daß ich diesmal in diesem besondern Falle die Wahrheit gefunden hätte, schöpfte ich daraus die Hoffnung, daß meine jungen Damen in sehr naher Zeit von den Fallstricken und Nachstellungen dieses verwegenen Lüstlings befreit sein würden, und wir von nun an gemeinschaftlich und mit Erfolg an ihrer Wiederaussöhnung mit den Ihrigen würden thätig sein können. Uebrigens aber fand sich nichts in dem Register, und die Herren wußten sich selbst diese Lücke nur durch das zu erklären, was ich ihnen in Betreff des Grafen berichtete, der, auf die Nachricht von dem Tode seines Vaters, in höchster Eile nach Hamburg hatte zurückreisen und sogar geflissentlich Förmlichkeiten vermeiden müssen, die nur zur Folge gehabt hätten, seinen Aufenthalt in Genf um einige Stunden zu verlängern.