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Am folgenden Tage begab ich mich zu Gertrud in's Zimmer, weil ich ihr die ersten Morgenstunden widmen wollte. Der Sarg war zugenagelt worden, und Gertrud saß daneben in dem Traueranzuge, den man ihr am Abend vorher gebracht hatte. Nachdem sie sich bei meinem Wiederanblick dem ersten Gefühl der Rührung hingegeben hatte, suchte sie diese zu bewältigen, um mir zu sagen, daß sie sich gelobt hätte, ihren Schmerz während dieses Tages der Bestattung zurückzuhalten. Dann öffnete sie ein Schubfach, woraus sie einen zusammengefalteten Brief nahm und mir ihn mit den Worten übergab: »Dies hat mir Rosa in der Nacht von Montag zum Dienstag in die Feder diktirt. Wenn ich dies Papier noch nicht vernichtet habe, wie ich es mit dem Trauringe gethan wünsche, so ist dies nur unterblieben, damit Ihnen die darin enthaltenen Zeilen bestätigen mögen, mit welcher Inbrunst Rosa denjenigen geliebt hat, der sie opferte, wie sie auch für uns die Bürgschaft sind, daß sie, fest überzeugt von seiner zärtlichen Liebe und daß er glücklich wäre, in das Grab gestiegen ist.« – Ich nahm den Brief, um ihn später zu lesen, indeß Gertrud fortfuhr: »Dieser Brief sollte, nach der Absicht Rosa's, von einer Locke ihrer Haare, die ich ihr auch wirklich abgeschnitten habe, begleitet werden. Aber sehen Sie, wie ich glaube darüber verfügen zu müssen: diesen Theil für Sie und für Ihren Sohn, mein theurer Herr Bernier; diesen hier, nicht stärker, nicht schwächer, für mich, und jenen dritten für ihre Mutter.« – Als ich diese schönen blonden Haare, noch vor kurzem der natürliche Schmuck des liebenswürdigsten Antlitzes, und heute eine dem Grabe im voraus entzogene Beute, wieder erblickte, konnte ich meine Bewegung nicht bemeistern, und jetzt war es an Gertruden, mir durch ihr gutes Beispiel wie durch ihre tröstenden Liebkosungen zu Hülfe zu kommen.
Unterdessen begannen sich gegen elf Uhr schon viele Leute an den Zugängen des Hauses zu versammeln, und von Augenblick zu Augenblick kamen aus verschiedenen Straßen meines Kirchspiels anständig gekleidete Menschen an, die sich einfanden, um das Geleit zu bilden. Da ich wünschte, daß sich das auffallende Schauspiel dieser sonst schätzenswerthen Kundgebung nicht in die Länge zöge, und Miller und Durand schon in meiner Behausung angekommen waren: so beschloß ich die Zeit abzukürzen und den Augenblick des Abganges etwas zu beeilen. Nachdem ich also die beiden eben genannten Personen, dann meinen Sohn, die Dame von Versoir, die mich hatte bitten lassen, Gertruden in diesem schmerzlichen Augenblicke beistehn zu dürfen, die Frau Miller und die alte Aufwärterin in das Zimmer hatte eintreten lassen, ordneten sie sich zu einem Kreis in einiger Entfernung von dem Sarge; worauf ich stehend und mich auf die Rücklehne eines Stuhles stützend, zum Eingang in folgender Ausdrucksweise die Stellen der heiligen Schrift las, mit welchen man in unserer Kirche den Leichengottesdienst eröffnet:
»Der Mensch, geboren vom Weibe, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe. Er gehet auf, wie eine Blume; dann schneidet man ihn ab, und er entfliehet wie ein Schatten, der nicht bleibt.
»Ewiger, du hast meine Tage auf das Maß von vier Spannen verkürzt, und die Dauer meines Lebens ist vor dir, wie nichts. Wahrlich, jeder Mensch, der da lebt, ist nur ein Eitles! O Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist hienieden Eitelkeit! Welches Vortheils genießt der Mensch von aller der Mühe, die er hat unter der Sonne?
»Ich habe den Bösen in seinem Schrecken und grünen gesehn, wie einen grünenden Lorbeer, aber ich bin vorübergegangen, und er war nicht mehr; ich habe nach ihm gesucht und habe ihn nicht gefunden.
»Du verwandelst den sterblichen Menschen zu Staub und sprichst: Sohn des Menschen, kehre zur Erde zurück! Denn tausend Jahre sind vor deinen Augen wie der gestrige Tag, der dahingegangen, oder wie eine Nachtwache, und du raffst sie hinweg wie das Wasser eines Regendaches.
»Die Jahre unseres Lebens belaufen sich auf siebenzig, und wenn es hoch kommt, auf achtzig, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es nur Mühe und Arbeit gewesen.
»Alles Fleisch ist wie das Gras, und der Ruhm des Menschen wie die Blume des Grases. Das Gras ist verdorrt, und seine Blume ist dahingesunken, aber das Wort des Herrn bleibet ewiglich!«
Nachdem ich diese Worte verlesen hatte, fügte ich hinzu: »Dies sind die mit Wahrheit treffenden und mit Schwermuth ergreifenden Bilder, in welchen uns die heilige Schrift zugleich die Kürze unseres Lebens und das unvermeidliche Elend unseres kurzen Daseins vorstellt, und jenes unumstößliche Wort ist das einzige Brett der Rettung inmitten eines Oceans von Schmerzen. Empfindet ihr es nicht auch mit mir, meine geliebten Brüder, als eine Fülle von Wahrheit und Trost, zumal in dieser Stunde, wo wir für einige Augenblicke frei von unfern Sorgen und irdischen Geschäften, unsere Aufmerksamkeit ungetheilt auf das Schicksal einer jungen Dame richten, welche, plötzlich ergriffen in der Blüthe ihrer neunzehn Jahre, sich dennoch fest gegen den Stachel des Todes hat finden lassen, lächelnd bei dem Ruf des Höchsten und bereit vor ihm zu erscheinen! Ach, das ist hier Wohl ohne Zweifel die Blume, welche dahingesunken ist, aber nur dahingesunken auf dem Felde dieses Lebens, um dort für ewig wieder zu erblühen!
»Auch will ich, meine geliebten Brüder, selbst an diesem traurigen Sarge, selbst angesichts der zärtlichen Freundin der Entschlafenen und auf die Gefahr hin, die eigenen Schmerzen wieder zu erwecken – denn ich habe diese junge Dame geliebt wie mein eigenes Kind – mich nicht betrüben, noch mich beklagen, sondern vielmehr mich darüber freuen, daß Rosa jetzt und auf immer diesem Thal der Thränen entflohen ist, versöhnt mit ihrem Gott und eine unsterbliche Bewohnerin des Aufenthalts der Seligen! Es ist wahr, wir haben sie verloren, aber es ist eben so wahr, daß, wenn wir das Murren des Fleisches bemeistern wollen, um durch die Augen des Geistes sehen zu können, wir nicht allein dazu genöthigt sein werden, den Wegen dessen, der sie zu sich gerufen hat, Beifall zu zollen, sondern wir werden auch von nun an eifriger darin sein, uns zum Sterben bereit zu halten, wie sie, um von heut ab zu Hoffnung und Frieden zu gelangen, die wir doch jetzt darüber in Verzweiflung sind, daß sie nicht mehr ist, oder in der Furcht schweben, ihr in kurzem zu folgen.
»Flöße du selbst uns diese Neigungen ein, gütiger Gott; denn diese allein sind es, die dem Menschen, vom Weibe geboren, ziemen, ihm, dessen Dauer so kurz ist und der das Nahen des Todes nicht vernimmt. Möge diese Betrübniß uns nicht taub gefunden haben, noch diese Prüfung ungelehrig; möge insbesondere diejenige, welche hier unter uns, nach der Meinung der Welt, den größten Verlust erfahren hat, ihn sich nach deinem Worte zum größten Gewinne machen, indem sie sich durch das Andenken an ihre Freundin heiligt und mit festem Schritt auf dem Pfade wandelt, auf dem ihr jene vorausgegangen ist! Amen!«
Als ich diese Anrede beendet hatte, näherten wir Alle uns Gertruden, um ihr unser liebevolles Mitleid zu bezeigen. Dann ließen wir sie mit der Frau Miller, der Alten und der guten Dame von Versoix zurück und begleiteten den Sarg, welchen wegzutragen nun die Träger kamen. Mein Sohn und ich gingen zuerst hinter ihm her; Durand und Miller folgten uns, und als wir die Allee durchschritten hatten, bildete sich hinter uns der Zug. Mit Dankgefühl erblickte ich darin den Polizeikommissär, viele meiner Amtsbrüder und fast die Gesammtheit meiner Pfarrkinder. Dieses ansehnliche Geleit reihte sich mit ebensoviel Anstand als in guter Ordnung zu einem langen Zuge, und das Ende desselben bewegte sich noch im Schatten der Häuser, als wir schon außerhalb der Thore der Stadt und unter den sengenden Strahlen der Sonne auf jene letzte Allee gelbwerdender Buchen zuschritten, welche nach dem Friedhofe führt. Bei der Rückkehr zog dieses ganze Grabgeleit an uns vieren vorbei, worauf wir uns zu der armen Gertrud hinauf begaben; und nach einer halben Stunde empfahlen sich Durand und Miller, um zu ihren Geschäften zurückzukehren.