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60.

Diese Seelenkämpfe übten außerdem eine nachtheilige Wirkung auf unser gewohntes Leben aus, und in der übrigen Zeit dieses Tages, wie auch an den beiden folgenden, herrschte ein trübseliger Zwang in unsern gegenseitigen Beziehungen und störte unsere Vertraulichkeit bei den Mahlzeiten. Mein Sohn beobachtete eine gezwungene Zurückhaltung; Gertrud hatte mit der Sicherheit des Gefühls die unbefangene Hingebung verloren, und ich selbst, zwischen beide gestellt, wußte nicht recht, was ich für eine Haltung annehmen sollte, um nicht verlegen zu erscheinen. Um die gewohnte Umgangsweise wiederzufinden, mußte ich gesondert mit ihnen verkehren, und selbst dann, weil ich bei beiden mancherlei Hoffnungen zu unterdrücken hatte, die ich mir selbst nur auf Kosten einer strengen Selbstbeherrschung untersagte, war ich genöthigt, die Unterhaltung weit eher abzukürzen, als sie wie sonst zu verlängern.

Dieser Zustand dauerte noch, als ich am dritten Tage, in dem Augenblicke, da ich soeben mein Haus verlassen hatte, einer Stadtkutsche vor meiner Allee begegnete, aus der ich, weil mich die Neugier bewog, mich umzuwenden, eine bejahrte Dame aussteigen sah, deren fremde Miene und ausgesuchter Anzug mich auf den Gedanken brachten, es möchte vielleicht Jemand von Gertrudens Familie sein. Ich bemühte mich, meine innere Bewegung zu bemeistern und eilte herbei, und da die Dame nicht ganz sicher schien, welches das Haus sei, das sie suchte, so fragte ich sie, ob sie einer Auskunft bedürfe. – »Wohnt hier Herr Bernier?« fragte sie. – »Ich bin es selbst«, antwortete ich. – Hierauf drückte sie mit großer Höflichkeit das Vergnügen aus, das sie empfände, mir in so gelegenem Augenblicke zu begegnen, und indem sie dazu überging, sich selbst mir vorzustellen, sagte sie mir, daß sie die Tante Gertrudens sei und von deren Eltern beauftragt, mir für die Mühe, die ich mir um dieses unvorsichtige Kind gegeben hätte, zu danken, und sie auf's eheste nach Bremen zurückzubringen. »Der Tod Rosa's«, fügte sie mit einem so gleichgültigen Tone hinzu, daß er mich lebhaft verletzte, »hat die Strenge meines Bruders entwaffnet und eine Wiederannäherung gestattet, die ohne jenen schwerlich mehr stattgefunden hätte. Wollten Sie wohl die Gefälligkeit haben, mich zu meiner Nichte zu führen?« – »Das soll sogleich geschehen«, erwiederte ich ihr. »Doch zu Gunsten des Auftrages selbst, den Sie auszurichten kommen, wage ich die Bitte, von vornherein gefälligst auf die Trauer Rücksicht zu nehmen, welche Gertrud über den Verlust ihrer Freundin empfindet und auch später nur mit gebührender Schonung den ihr noch neuen Gedanken einer nahen Abreise beizubringen.« –

Während dieses Gespräches waren wir bis zu meiner Wohnung gelangt, deren dunkler Zugang und mehr als bescheidenes Aussehn der Dame das Mißgefühl einer Verrechnung zu verursachen schienen, was sie verhinderte, mich aufmerksam anzuhören. Andreas öffnete uns. – »Wer ist dieser junge Mann?« fragte sie. – »Mein Sohn, Madam«, antwortete ich. – Dann führte ich sie in das Zimmer Gertrudens. Als diese ihre Tante erkannte, eilte sie herbei, um sie in ihre Arme zu schließen, doch nicht ohne daß sie sich zwang, eine schmerzliche Beklemmung zu verbergen, die sich fast gleichzeitig durch Schluchzen verrieth. Inzwischen sagte die Dame, wenig zufrieden mit diesem Empfang, und auf welche überdies der Anblick dieses altvaterischen Gemaches und der ausnehmend einfache Anzug Gertrudens einen ziemlich verstimmenden Eindruck zu machen schienen, mit dem gezwungenen Tone beschützerischer Freundlichkeit: »Ich erblicke, mein liebes Kind, in diesen Thränen die Reue, die dir eine Aufführung auspreßt, welche uns vergessen zu lassen von jetzt an nur an dir liegen wird. Ein wenig mehr, in der That, und die Folgen von Rosa's Vergehen würden auch dich ebenso wie sie in das Verderben gezogen haben. Laß uns glücklich sein darüber, daß es nicht so weit gekommen ist, und bereite dich vor, nächstens mit allen guten Vorsätzen, die man von dir zu erwarten berechtigt ist, wieder in den Schooß einer Familie einzutreten, die mich beauftragt hat, dir ihre Verzeihung anzukündigen.« – Diese Worte, wovon ein jedes mein Herz verwundete, durchfuhren schmerzlich das der armen Gertrud, so daß sie, als ob es sich darum gehandelt hätte, sie auf der Stelle unserer Liebe zu entreißen, ihre Arme um meinen Nacken warf, um daran, durch und durch vor Furcht erschaudernd, hängen zu bleiben, indem sie sich an mich, als an ihre letzte und Ungewisse Hoffnung klammerte. Gerührt über ihr unaussprechliches Weh, sagte ich zu ihrer Tante: »Madam, was Gertrud fürchtet, ist sicherlich nicht, daß sie mit Ihnen gehen soll, um die Verzeihung einer Familie zu erlangen, welche sie liebt und der sie ihr Gefühl der Reue zu erkennen gegeben hat: es ist der Schmerz, so plötzlich Orte zu verlassen, die für sie noch mit dem frischen Andenken an ihre sterbende Freundin erfüllt sind, und sich von den letzten Spuren zu trennen, welche sie an jene erinnern. Wenn Sie also belieben wollten, entweder Ihre Abreise etwas zu verzögern, oder noch besser, wenn Sie es auf sich nehmen wollten, die Wein Gertrudens um den Aufschub derselben für einige Monate zu bitten, während deren sich die Bande, welche sie noch an diesen Ort knüpfen, gelind lösen könnten, so würden Sie, wie ich glaube, Gertrudens höchste Wünsche erfüllen, ohne Ihrer Sendung etwas vergeben zu haben,« – Hier warf sich Gertrud ihrer Tante zu Füßen und beschwor sie, ihr diese Gunst, um welche ich jene soeben für sie angefleht hatte, zu gewähren. Doch jene versetzte: »Das ist nutzlos, meine Liebe; denn der Vorschlag, den mir der Herr Prediger thut, zeugt mehr für seine gütige Gesinnung gegen dich, als für eine richtige Kenntniß deiner Stellung. Deine Empfindungen, muß ich gestehen, sind wider meine Erwartung, und ich komme dahin, an den guten Vorsätzen einer jungen Person zu zweifeln, welche die Vergebung ihrer Eltern mit einer solchen Miene aufnimmt, wie sie deren Fluch aufnehmen würde. Du hast lange genug zu Gunsten einer kleinen Romanheldin, die ein übles Ende genommen hat, alle deine Pflichten geopfert. Jetzt ist die Stunde gekommen, sie so schnell als möglich zu vergessen, und damit ich nur beginne, dich auf die Probe zu stellen, so benachrichtige ich dich hiermit, daß mein Zweck ist, dich sogleich morgen von hier mit mir zu nehmen!« – »Nun gut!« sagte Gertrud, indem sie stolz ihr Haupt aufrichtete: »Ich werde Ihnen gehorchen, Tante; auch werde ich meinen Eltern gehorchen, und zwar in Allem, wie mich Herr Bernier dazu verpflichtet hat. Aber merken Sie es sich wohl: weder von jenen, noch von Ihnen, noch von irgend Jemandem sonst, werde ich ohne gerechten Abscheu meiner empörten Seele Reden anhören, wie die, welche Sie mich soeben haben vernehmen lassen. Wie! man achtet also nicht einmal das Grab meiner Rosa! Man will mir auferlegen, sie zu vergessen! mir, die ich nur von der Erinnerung an sie lebe! Ach, wenn ich dazu bestimmt sein soll, dergleichen Reden in Zukunft zu hören, warum führt man mich denn in den Schooß meiner Familie zurück? Warum will man diese räumliche Entfernung, die mich davon trennt, aufheben, da mein Herz, unaufhörlich verwundet, sich unaufhörlich eine weit schmerzlichere Entfernung der Zuneigung schaffen wird, die weit mehr zu fürchten ist!« – Nachdem Gertrud sich so ausgesprochen hatte, überließ sie sich ohne Rückhalt ihrer Betrübniß, worauf sich ihre Tante sogleich erhob und sagte: »Ich darf mich, meine Liebe, auf diese unbedachten Reden, die dir ein übertriebener Schmerz eingibt, nicht einlassen; wir wollen also hiervon abbrechen. Morgen wird man gegen zwei Uhr Nachmittags deine Sachen und gegen drei Uhr eine Kutsche dich abholen.« – Dann wandte sie sich gegen mich und sagte: »Kann ich Sie, mein Herr, einen Augenblick allein sprechen? denn unstreitig habe ich Ihnen noch außer der Dankbarkeit, die ich Ihnen für die Sorgfalt, die Sie meiner Nichte gewidmet haben, noch schuldig bleiben muß, die Auslagen zurückzuerstatten, die sie Ihnen verursacht hat.« – »Wenn unsere Unterhaltung nur diesen Punkt betreffen soll«, antwortete ich ihr, »so versichere ich Sie im voraus, Madam, daß sie nicht stattzufinden braucht, und ich erlaube mir, von Ihrem Feingefühl die Hoffnung zu hegen, daß Sie nicht auf der Annahme eines Geldersatzes für das bestehen werden, was meinerseits nur die einfache That freier Zuneigung gewesen ist.« – Nichtsdestoweniger bestand die Dame auf ihrem Antrage. Als ich ihr aber rund heraus erklärt hatte, daß ich unter keiner Bedingung ein Wort weiter über diesen Gegenstand hören wolle, beschrankte sie sich endlich darauf, mir von neuem, sowohl in ihrem eignen Namen wie im Namen der Eltern Gertrudens, die Gefühle einer hohen Erkenntlichkeit auszudrücken. Dann, nachdem sie ihrer Nichte einen Kuß gegeben, empfahl sie sich.


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