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57.

Da nun auch für die Dame von Versoix die Zeit zur Abreise herangekommen war, so bat sie mich, indem sie zu dem Zwecke sehr annehmliche Gründe geltend machte, zu erlauben, daß Gertrud einige Tage mit ihr auf ihrem Landgute zubringen dürfe, in einem Aufenthalte, so abgeschieden, als sie es nur immer wünschen möchte. Was mich anbelangte, so hatte ich nichts dagegen einzuwenden, als die Betrübniß, mich von Gertrud getrennt zu wissen; diese aber gab ihr, indem sie der guten Dame ihren besten Dank bezeigte, zu erkennen, wie unmöglich es ihr wäre, ihr großmüthiges Anerbieten anzunehmen. Nicht ehe viele Tage verflossen wären, wolle sie ausgehen oder sich zerstreuen von dem ihr noch so gegenwärtigen Andenken an ihre Freundin, und jeder Gedanke, das Zimmer zu verlassen, wo sie beide, wo die Personen, die ihre gemeinschaftliche Familie geworden waren, zusammen gelebt hätten, wäre ihr für den Augenblick zu ertragen unmöglich. – »Zürnen Sie mir deshalb nicht, werthe Dame«, setzte sie hinzu, »und glauben Sie, daß, wenn bessere Tage wiederkommen sollten, Sie, nächst Herrn Bernier und seinem Sohne, diejenige Person sein werden, zu der ich am liebsten komme; denn, wie jene beiden, haben Sie meine Rosa geliebt, und kein falsches Gerücht, keine Verleumdung hat vermocht, Ihr gütiges Herz gegen sie zu erkälten.« – Hierauf umarmten sich Gertrud und die Dame zärtlich, und nachdem diese den Arm meines Sohnes angenommen, um die Treppe hinabzusteigen, die dunkel und unsicher zu betreten ist, gelangte sie bald auf die Straße, wo ihr Wagen sie erwartete.

In Folge dessen, was Gertrud gesagt hatte, und um ihr die Erfüllung des Wunsches, den sie soeben beiläufig ausgesprochen hatte, sagte ich ihr, daß sie bis zu ihrer Abreise durchaus keine andere Wohnung betreten sollte, als das Zimmer, worin ihre Freundin die letzten Wochen ihres Lebens zugebracht hatte. Aber anstatt durch diese Versicherung befriedigt zu erscheinen, bezeigte Gertrud, sich an das Wort Abreise haltend, jede Art von Betrübniß. – »Ich sollte abreisen?« sagte sie; »ich sollte diese Orte verlassen! Ach, bannen Sie, bannen Sie, bester Herr Bernier, diese grausame Verpflichtung, an die schon der Gedanke mich vor Schrecken eisig erstarren macht. Wo kann ich jetzt, wo anders als hier und bei Ihnen, eine Ruhe genießen, die nicht von bitterem Schmerz erfüllt wäre, beraubt der Erinnerung, eine furchtbare Abgeschiedenheit! ... Kann ich nicht eine Pension erhalten, wie die, welche man Rosa aussetzte, wenigstens für den Augenblick, und für so lange Zeit, als Sie leben werden, Ihnen noch angehören? ... Kann ich nicht als Ihre Tochter gelten, Ihre Wirthschafterin sein, und zwar gegen den einzigen Lohn, daß ich denjenigen nicht zu verlassen brauche, der unser liebevoller Vater gewesen ist, daß ich mich bestreben darf, dem Gedächtniß meiner Rosa genug zu thun, mein eigenes Herz zu befriedigen, Ihnen das Leben zu erleichtern und Ihre alten Tage zu verschönern!« – Durch diese so unbefangenen und rührenden Bitten sah ich mich einer gefährlichen Bestechung ausgesetzt. Doch trocknete ich mir die Thränen ab und widersprach wenigstens durch Stillschweigen diesen Bitten, deren Endergebnis wenn ich sie zugestanden hätte, gewesen sein würde, mich zum Herrn und Besitzer des Kindes zum Nachtheil der Rechte ihrer eigentlichen Eltern zu machen, im Widerspruch mit dem fünften Gebote, dessen heiliges und unwidersprechliches Ansehn ich noch unlängst Gertruden zu Herzen geführt hatte. »Erwarten wir die Zukunft«, sagte ich endlich zu ihr, »anstatt im voraus über sie zu bestimmen; in dieser Stunde sind wir ebensowenig im Stande, weder etwas mit Ruhe, noch auch vielleicht mit Klugheit zu entscheiden. Wer sagt Ihnen, daß Sie nicht bald den Wunsch empfinden werden, Ihre wahre Familie wiederzusehen und diejenige Rosa's zu trösten? ... Denken wir also nur an die Gegenwart, die uns einander wieder nähert, und im übrigen lassen Sie uns nichts weder in Betreff der Zeit, noch des Willens Anderer, den wir noch nicht kennen, voraus bestimmen.« – Ich hatte meinem Gewissen viele Gewalt anthun müssen, um in so unbestimmten Ausdrücken über jedenfalls strenge Pflichten sprechen zu können, und nichtsdestoweniger sah ich wohl, daß diese Ausdrücke immer noch nur zu klar und bestimmt für die arme Gertrud waren, so daß von diesem Augenblick an sich zu ihrem schon an sich so beklagenswerthen Schmerze noch eine düstere Entmuthigung gesellte, deren Ursache die Furcht war, nächstens mein Haus verlassen zu müssen.

Als ich mich noch bei Gertrud aufhielt, kam die Alte herein und übergab mir ein kleines Paket mit meiner Adresse, welches ich sogleich entsiegelte. Es enthielt die Ketten. Als sie Gertrud wieder erblickte, empfand sie jenes Gewirr süßer und schrecklicher Rückerinnerungen, die sich im Nu feindlich kreuzen, und indem sie eine der Ketten aufnahm, während ich das Billet las, das die Sendung begleitete, betrachtete sie dieselbe mit gerührtem Blicke. – »Gertrud«, sagte ich zu ihr, »ich war zu meinem großen Bedauern genöthigt gewesen, diese Ketten zu veräußern, um den dafür erhaltenen Preis dazu anzuwenden, die Kaufleute zu befriedigen, die einen Gerichtsbeamten beauftragt hatten, Sie zu belangen, und hier werden sie mir wieder zugestellt! ... Sie werden also, theures Kind, jene, die Sie eben in der Hand halten, für sich aufbewahren, diese hier soll dagegen in unsern Händen bleiben; und so hat sich denn das Sinnbild der Freundschaft, die uns mit einander und mit Rosa vereinigt, wiedergefunden.« – Darauf theilte ich ihr das Billet Durand's mit. Dieser ehrenwerthe Mann sagte darin in Ausdrücken, die ebenso zart empfunden waren, wie sein ganzes Verfahren von Großmuth zeugte, daß es ihm stets widerstrebt hatte, diese Ketten aus der Hand zu geben, und er den Grad meines Wohlwollens gegen ihn daran erkennen würde, wenn ich sie ohne alle Weigerung unter dem Namen eines kleinen Geschenkes zurücknehmen wollte. Ich konnte das Billet nicht zu Ende lesen, ohne daß mir die Stimme vor Rührung versagte, und Gertrud selbst zeigte Regungen einer sehr lebhaften Dankbarkeit. Hierauf sagte sie mir, daß sie schon am Morgen wohlthuende Zeichen einer aufrichtigen Theilnahme und unerkünstelten Empfindung in dem Wesen des Herrn Durand wahrgenommen hätte. Und als ich ihr dann auch sein ganz gleiches Benehmen mittheilte, dessen Gegenstand sie und Rosa ohne es zu wissen waren, so wie alles, was sonst noch den edlen Charakter, das gesunde Urtheil und das menschenfreundliche Gemüth des Herrn Durand in's rechte Licht stellte: sprach sie den Wunsch aus, ihn wieder zu sehen, um ihm selbst die Gefühle, von denen sie gegen ihn durchdrungen war, auszudrücken. – »Den ersten besten Tag«, antwortete ich, »ja sogar diesen Abend noch, mein Kind, denn wir sind ihm diese Aufmerksamkeit schuldig, werde ich ihn bitten lassen, uns seine Gegenwart zu schenken.«

Gertrud äußerte hierauf das Verlangen, ein Marmordenkmal auf das Grab ihrer Freundin setzen zu lassen, theils um die Befriedigung zu empfinden, ihr eine Huldigung solcher Art darzubringen, theils weil sie den Ort stets wiedererkennen wollte, wenn sie ihn zu besuchen wiederkäme. Dieser Wunsch Gertrudens verursachte mir weniger Vergnügen an sich selbst, als weil er mir den Gedanken eingab, für die Errichtung dieses Grabdenkmals die dreihundert Franken zu verwenden, welche die Mutter Rosa's an mich überwiesen hatte, begleitet von einem Ansinnen, das nur dazu geeignet sein konnte, meinen Absichten in Betreff einer liebreichen Gastfreundschaft auf eine peinliche Weise hinderlich zu sein. Ich faßte also den Gedanken eines bescheidenen Denkmals eifrig auf und machte gegen Gertrud die Bemerkung, daß wir ja diese Summe von dreihundert Franken darauf zu verwenden hätten. Bei dieser Gelegenheit wurde ich zufälliger Weise, aber mit großem Vergnügen gewahr, daß in Gertrudens Seele das Verhältniß zu mir ganz wie zu einem Vater und so unbetheiligt von den Beziehungen, die mich an ihre Freundin und sie selbst geknüpft hatten, war, daß es ihr gar nicht einfiel sich vorzustellen, wie irgend eine Art von Entschädigung nothwendig die Reinheit desselben trüben und seinen Charakter verfälschen müßte. So sehr trug in dieser wohlgearteten Seele Alles den Stempel höherer Anschauung und den seinen Sinn angeborenen Zartgefühls.

Am Abend kam wirklich Herr Durand, unser kleines Mahl mit uns zu theilen, und ich bemerkte wohl, wie er, gerührt von diesem Zeichen unserer Achtung, sich hier einer jener Genugthuungen erfreute, deren Reiz für bescheidene und zugleich doch nach gerechter Schätzung strebende Herzen so viel Werth hat. Wahr ist es, daß Gertrud nicht weniger als wir ihn als anerkannten Freund des Hauses behandelte, so daß seine Gegenwart nichts an der Unterhaltung änderte, in der wir uns durchweg über die herrlichen Eigenschaften wie über das beklagenswerthe Schicksal der armen Rosa ergingen.


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