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Wie auch Beckys geheime Pläne sein mochten, mit denen sie Dobbins treuer Liebe zum Erfolg verhelfen wollte, so glaubte die kleine Frau doch, daß sie das Geheimnis noch für sich behalten könnte. Da ihr das eigene Wohlergehen über alles ging, hatte sie noch eine ganze Menge zu bedenken, was sie selbst betraf und ihr weit wichtiger schien als Major Dobbins irdisches Glück ...
Sie fand sich plötzlich und unerwartet in einer bequemen, hübschen Wohnung, umgeben von Freunden, Güte und gutmütigen, einfachen Menschen, wie sie sie seit langem nicht getroffen hatte. Wenn sie auch aus Zwang und Neigung eine Wanderin war, so gab es doch Augenblicke, wo sie sich nach Ruhe sehnte. Auch der stärkste Araber, der je auf dem Rücken eines Dromedars die Wüste durchquerte, ruht zuweilen gern unter den Dattelpalmen am Wasser aus oder sucht gern Städte auf und wandert in den Basaren umher, erfrischt sich im Bade und sagt sein Gebet in der Moschee, ehe er wieder auf Raubzüge ausgeht. Josephs Zelte und Pilau gefielen der kleinen Ausgestoßenen. Sie band ihr Roß an, hängte ihre Waffen auf und wärmte sich an seinem Feuer. Der Halt in ihrem rastlosen Vagabundenleben war ihr unaussprechlich beruhigend und angenehm.
So mit sich selbst zufrieden, tat sie ihr möglichstes, auch alle anderen zufriedenzustellen. Wir wissen ja, daß sie in der Kunst des Freudespendens geschickt und erfolgreich war. Ein gut Teil des Wohlwollens von Joseph hatte sie schon während der kurzen Unterredung in der Dachkammer des »Elefanten« zurückzuerobern gewußt. Im Laufe einer Woche war der Zivilist ihr ergebener Sklave und rasender Bewunderer geworden. Er schlief nach dem Essen nicht mehr wie sonst in der weit weniger lebhaften Gesellschaft Amelias. Er fuhr im offenen Wagen mit Becky aus. Ihr zu Ehren lud er zu kleinen Gesellschaften ein und gab Feste.
Tapeworm, der Gesandtschaftssekretär, der sie so entsetzlich beschimpft hatte, kam zu Joseph zum Essen und dann täglich, um Becky seine Aufwartung zu machen. Die arme Emmy, die nie sehr redselig gewesen war, aber nun nach Dobbins Abreise ernster und schweigsamer war als je, geriet ganz in Vergessenheit, als dieser überragende Geist auftauchte. Der französische Gesandte war ebenso entzückt von ihr wie sein englischer Rivale. Die deutschen Damen, die in bezug auf Moral nie sehr bedenklich sind, vor allem nicht bei Engländern, waren von der Klugheit und dem Witz der bezaubernden Freundin von Mrs. Osborne entzückt, und obwohl sie nicht bei Hofe vorgestellt zu werden verlangte, so hörten doch sogar die erlauchten Persönlichkeiten dort von ihren Reizen und waren wirklich neugierig, sie kennenzulernen. Bald sprach es sich herum, sie sei von Adel, stamme aus einer alten englischen Familie, ihr Mann sei Oberst bei der Garde und Gouverneur einer Insel und lebe von seiner Frau getrennt wegen geringer Differenzen, die in einem Lande, wo man noch den »Werther« liest und wo man Goethes »Wahlverwandtschaften« für ein erbauliches und moralisches Buch hält, keine Rolle spielen. Es weigerte sich nun kein Mensch mehr, sie selbst in den höchsten Kreisen des kleinen Herzogtums zu empfangen, und die Damen waren sogar noch schneller bereit, sie zu duzen und ihr ewige Freundschaft zu schwören, als sie es früher bei Amelia gewesen waren, der sie die gleichen unschätzbaren Wohltaten erwiesen hatten. Die einfachen Deutschen legen Liebe und Freiheit in einer Weise aus, die die braven Leute in Yorkshire oder Somersetshire kaum verstehen würden, und in einigen philosophischen und zivilisierten Städten könnte eine Dame wer weiß wie oft von ihrem jeweiligen Mann geschieden sein und doch ihre Stellung in der Gesellschaft behaupten. Seit Joseph ein eigenes Haus hatte, war es nie so unterhaltsam gewesen, wie es jetzt durch Rebekka wurde; sie sang, sie spielte, sie lachte, sie unterhielt sich in mehreren Sprachen, sie schleppte allerlei Leute ins Haus und brachte Joseph zu dem Glauben, daß seine gesellschaftlichen Talente und sein Witz die große Gesellschaft des Ortes um ihn versammelte.
Emmy war überhaupt nicht mehr die Herrin ihres eigenen Hauses, außer wenn es Rechnungen zu bezahlen galt, aber Becky entdeckte bald, wie man sie besänftigen und sich ihr angenehm machen konnte. Sie plauderte ihr beständig etwas von Major Dobbin vor, den sie fortgeschickt hatte, und war skrupellos genug, ihre Bewunderung für diesen vortrefflichen hochherzigen Mann auszudrücken und Amelia zu zeigen, wie grausam sie ihn behandelt habe. Emmy verteidigte ihr Verhalten und erklärte, daß nur rein religiöse Grundsätze es ihr diktiert hatten, daß eine Frau nur einmal und so weiter und so fort, und wenn sie dann noch mit solch einem verheiratet gewesen sei, wie der, den das Glück ihr gegeben habe, dann sei sie verheiratet für ewig. Sie hatte aber nichts dagegen, daß Becky den Major pries, soviel sie Lust hatte, und brachte selbst das Gespräch täglich wohl zwanzigmal auf Dobbin.
Es gelang Becky leicht, die Gunst Georges und der Dienstboten zu gewinnen. Amelias Zofe war, wie schon erwähnt, dem großmütigen Major von ganzem Herzen zugetan; obgleich sie anfänglich Becky, als der Ursache seiner Trennung von ihrer Herrin, abgeneigt gewesen war, söhnte sie sich doch später wieder mit Mrs. Crawley aus, weil diese Dame Williams eifrigste Bewunderin und Verteidigerin wurde. In den wichtigen geheimen Beratungen, die die beiden Damen nach den Gesellschaftsabenden hielten, während Miss Payne ihnen die Haare bürstete, die gelben Locken der einen und die weichen braunen Flechten der anderen, legte das Mädchen stets ein Wort für den guten lieben Herrn, Major Dobbin, ein. Ihre Fürsprache machte Amelia ebensowenig zornig wie Rebekkas Bewunderung für ihn. Sie veranlaßte George, regelmäßig an ihn zu schreiben, und ließ in einer Nachschrift stets die freundlichen Grüße der Mama mitschicken. Und wenn sie abends das Bild ihres Mannes betrachtete, dann machte es ihr keine Vorwürfe mehr – vielleicht machte sie ihm nur Vorwürfe, da William fort war.
Emmy war nach ihrem heroischen Opfer nicht sonderlich glücklich. Sie war sehr zerstreut, nervös, still und unduldsam. Die Familie hatte sie nie so launisch gesehen, sie wurde blaß und kränklich. Sie sang ab und zu ganz bestimmte Lieder, zum Beispiel »Einsam bin ich, nicht allein«, jenes sanfte Liebeslied von Weber, das in der alten Zeit, als Sie, meine jungen Damen, kaum geboren waren, bewies, daß diejenigen, die vor Ihnen lebten, ebenfalls lieben und singen konnten, ganz bestimmte Lieder also, die der Major besonders gern gehabt. Wenn sie sie in der Dämmerung im Gesellschaftszimmer trillerte, brach sie häufig in der Mitte ab, begab sich in ihr angrenzendes Zimmer und nahm dort zweifellos Zuflucht zu dem Miniaturbild ihres Mannes.
Dobbin hatte bei seiner Abreise einige Bücher mit seinem Namen darin zurückgelassen, zum Beispiel ein deutsches Wörterbuch mit »William Dobbin ...tes Reg.« auf dem Vorsatzblatt, einen Reiseführer mit seinen Initialen und ein paar andere Bände, die dem Major gehörten. Emmy räumte sie weg und legte sie auf die Kommode, wo sie ihr Arbeitskästchen, ihr Schreibpult, ihre Bibel und ihr Gebetbuch hatte, unter die Bilder der beiden Georges. Der Major hatte beim Fortgehen auch seine Handschuhe dagelassen, und es ist tatsächlich geschehen, daß Georgy einige Zeit später beim Kramen im Pult seiner Mutter die Handschuhe, nett zusammengefaltet, im sogenannten Geheimfach fand.
Da sie an Gesellschaften kein Vergnügen fand und sich dort langweilte, war Emmys Hauptvergnügen, an Sommerabenden lange Spaziergänge mit Georgy zu machen. Rebekka –wurde in Mr. Josephs Gesellschaft zurückgelassen, und Mutter und Sohn sprachen dann von dem Major in einer Weise, daß selbst der Knabe lächeln mußte. Sie erzählte ihm, daß sie den Major für den besten, sanftesten und gütigsten, tapfersten und bescheidensten Menschen auf der Welt hielt; sie betonte immer wieder, daß sie alles, was sie auf der Welt besaß, der wohlwollenden Sorge dieses lieben Freundes verdanke, daß er sich ihrer in Armut und Unglück angenommen habe, über sie gewacht habe, als sich niemand um sie kümmerte, daß ihn all seine Kameraden bewunderten, obgleich er nie von seinen mutigen Taten sprach, daß Georges Vater ihm von allen am meisten vertraut habe und daß der gute William sich stets seiner angenommen habe. »Dein Papa hat mir oft erzählt«, sagte sie, »daß er als kleiner Junge in der Schule, in die sie beide gingen, von William gegen einen Tyrannen verteidigt wurde, und von diesem Tage an bis zu dem letzten, an dem dein lieber Vater fiel, hat ihre Freundschaft nie aufgehört.«
»Hat Dobbin den Mann getötet, der Papa getötet hat?« fragte Georgy. »Bestimmt hat er es, oder er hätte es getan, wenn er ihn erwischt hätte, nicht wahr, Mutter? Wenn ich erst bei den Soldaten bin, dann werde ich die Franzosen auch hassen, nicht wahr?«
Mit solchen Unterhaltungen verbrachten Mutter und Kind einen großen Teil ihrer Zeit gemeinsam. Die schlichte Frau hatte ihren Sohn zum Vertrauten gemacht. Er war Williams Freund, wie überhaupt alle, die ihn kannten.
Übrigens hatte Mrs. Becky, um Amelia an Sentimentalität nicht nachzustehen, ebenfalls ein Miniaturbild in ihrem Zimmer hängen, zur Überraschung und Belustigung der meisten und dem Entzücken des Originals, das kein anderer war als unser Freund Joseph. Als die kleine Frau Familie Sedley mit ihrem Besuch beehrte, schämte sie sich wahrscheinlich, daß sie weder mit großen Koffern noch Hutschachteln erschienen war, sondern nur mit einem auffallend schäbigen Holzköfferchen, und sprach achtungsvoll von ihrem in Leipzig zurückgebliebenem Gepäck, das sie sich kommen lassen müsse. Wenn dir ein Reisender ständig von seinem großartigen Gepäck erzählt, das er zufällig nur nicht bei sich hat, so hüte dich vor diesem Reisenden, mein Sohn! Er ist zehn gegen eins ein Betrüger.
Weder Joseph noch Emmy kannten diesen wichtigen Grundsatz. Es spielte für sie keine Rolle, ob Becky eine ganze Anzahl feiner Kleider in unsichtbaren Koffern besitze; da aber ihre gegenwärtige geringe Ausstattung sehr schäbig war, versorgte Emmy sie aus ihren eigenen Vorräten oder brachte sie zur besten Modistin in der Stadt und verschaffte ihr, was sie brauchte. Von nun an, das können Sie glauben, gab es keine zerrissenen Kragen und keine verblichene Seide mehr, die ihr von den Schultern herabhing. Mit ihrer Lebensstellung änderte Becky auch ihre Gewohnheiten. Der Schminktopf wurde beiseite gestellt – und auch ein anderes Reizmittel, an das sie sich gewöhnt hatte, oder sie frönte ihm jedenfalls nur insgeheim, zum Beispiel an Sommerabenden, wenn Emmy und ihr Knabe spazierengingen und Joseph sie bewog, einen kleinen Schnaps zu sich zu nehmen. Wenn sie auch nichts trank, der Reisediener trank jedenfalls. Der bübische Kirsch war nicht von der Flasche wegzubringen, und er konnte auch nie sagen, wieviel er getrunken hatte. Er war oft selbst darüber erstaunt, wie schnell Mr. Sedleys Kognak zur Neige ging. Nun, das ist ein peinliches Thema, aber Becky trank wahrscheinlich nicht mehr so viel wie früher, ehe sie in eine anständige Familie eintrat.
Endlich trafen die vielgerühmten Koffer aus Leipzig ein – es waren drei, und sie waren weder groß noch prächtig. Becky schien auch weder Kleider noch Schmuck herauszunehmen, als sie endlich angekommen waren. Aus dem einen, der ihre ganzen Papiere enthielt (es war derselbe, den Rawdon Crawley auf seiner wütenden Jagd nach Rebekkas verstecktem Geld geplündert hatte), holte sie strahlend ein Bild, das sie in ihrem Zimmer aufhängte und Joseph zeigte. Es war eine Bleistiftzeichnung von einem Herrn, und sein Gesicht war sehr vorteilhaft rosa getönt. Er ritt auf einem Elefanten vor ein paar Kokospalmen und einer Pagode im Hintergrund. Der Schauplatz war eine orientalische Landschaft.
»Gott behüte mich! Das ist ja mein Porträt!« rief Joseph. Er war es tatsächlich in der Blüte seiner Jugend und Schönheit und in einer Nankingjacke nach der Mode von 1804. Es war das alte Bild, das am Russell Square gehangen hatte.
»Ich habe es gekauft«, sagte Becky mit vor Bewegung zitternder Stimme. »Ich ging damals hin und wollte sehen, ob ich meinen gütigen Freunden irgendwie behilflich sein könnte. Ich habe mich von dem Bild nie getrennt und werde es auch niemals tun.«
»Tatsache?« rief Joseph mit einem Blick der Genugtuung und des unaussprechlichen Entzückens. »Schätzen Sie es wirklich um – um – um meinetwillen?«
»Das wissen Sie ja«, antwortete Becky. »Warum aber jetzt davon reden – warum daran denken – warum zurückblicken? Nun ist es zu spät!«
Die Unterhaltung dieses Abends war für Joseph köstlich. Emmy kam nur herein, um zu sagen, daß sie müde sei und sich nicht wohl fühle und zu Bett gehe. Joseph und sein schöner Gast hatten ein bezauberndes Tête-à-tête, und seine Schwester, die im angrenzenden Zimmer wach lag, konnte hören, wie Rebekka Joseph die alten Lieder von 1815 vorsang. In dieser Nacht konnte er merkwürdigerweise ebensowenig schlafen wie Amelia.
Es war Juni und demnach Hochsaison in London. Joseph, der täglich den unvergleichlichen »Galignani«, den besten Freund im Exil, las, erfreute die Damen beim Frühstück mit Auszügen aus seiner Zeitung. Einmal wöchentlich bringt dieses Blatt einen vollständigen Bericht über Truppenbewegungen, für den Joseph als Mann, der auch Pulver gerochen hatte, sich besonders interessierte. Eines Tages las er vor: »Ankunft des ...ten Regiments. – Gravesend, den 20. Juni. Der Ostindienfahrer ›Ramchunder' lief heute früh mit vierzehn Offizieren und 132 Soldaten dieses tapferen Regiments an Bord in die Themse ein. Sie waren vierzehn Jahre von England abwesend. Sie spielten eine aktive Rolle in der glorreichen Schlacht bei Waterloo und wurden im darauffolgenden Jahr nach Indien eingeschifft. Später haben sie sich im burmesischen Krieg ausgezeichnet. Gestern landeten hier der altgediente Oberst Sir Michael O'Dowd, Träger des Bath-Ordens, mit seiner Gemahlin und seiner Schwester sowie die Hauptleute Posky, Stubble, Macraw, Malony, die Leutnants Smith, Jones, Thompson, F. Thomson und die Fähnriche Hicks und Grady. Das Musikkorps auf der Mole spielte die Nationalhymne, und die Menge ließ die tapferen Veteranen hochleben, als sie zu Waytes Hotel gingen, wo ein prächtiges Bankett die Verteidiger des guten alten Englands erwartete. Während des Festmahls, das selbstverständlich im besten Wayteschen Stil vor sich ging, dauerten die begeisterten Hochrufe immer noch an, so daß Lady O'Dowd und der Oberst auf den Balkon heraustraten und die Gesundheit ihrer Landsleute mit einem Glas von Waytes bestem Rotwein ausbrachten.
Bei anderer Gelegenheit las Joseph eine kurze Mitteilung: »Major Dobbin hat sich dem ...ten Regiment in Chatham angeschlossen.« Und etwas später verlas er die Berichte über die Vorstellung bei Hofe, und zwar von Oberst Sir Michael O'Dowd, Lady O'Dowd (durch Mrs. Molloy Malony von Ballymalony) und Miss Glorvina O'Dowd (durch Lady O'Dowd). Kurze Zeit danach erschien Dobbins Name unter den Oberstleutnants. Der alte Marschall Tiptoff war während der Überfahrt des ...ten Regiments von Madras gestorben, und der König hatte geruht, Oberst Sir Michael O'Dowd bei seiner Rückkehr nach England zum Generalmajor zu befördern. Er sollte aber weiterhin das Kommando seines tapferen Regiments, das er so lange geführt hatte, behalten.
Amelia hatte einige dieser Ereignisse schon gewußt. Die Korrespondenz zwischen George und seinem Vormund war keineswegs eingeschlafen, und William hatte auch seit seiner Abreise ein paarmal ihr selbst geschrieben, aber in einem so ungezwungenen kühlen Ton, daß die arme Frau nun fühlte, wie sie die Herrschaft über ihn verloren hatte, und daß er, wie er selbst gesagt hatte, frei war. Er hatte sie verlassen, und sie war unglücklich. Seine unzähligen Dienste und seine liebevolle Verehrung standen ihr vor Augen und machten ihr Tag und Nacht Vorwürfe. Sie brütete nach ihrer Gewohnheit über diesen Erinnerungen, erkannte die Reinheit und Schönheit seiner Liebe, mit der sie gespielt hatte, und tadelte sich, einen solchen Schatz weggeworfen zu haben.
Diese Liebe war tatsächlich verschwunden. William hatte sie gänzlich aufgebraucht. Er glaubte sie nicht mehr so zu lieben, wie er sie geliebt hatte. Er würde sie auch nie wieder so lieben können. Eine Zuneigung dieser Art, die er ihr so viele Jahre hindurch treu entgegengebracht hatte, kann nicht weggeworfen und zerbrochen und dann wieder ausgebessert werden, ohne daß man die Spuren bemerkt. Die kleine unbekümmerte Tyrannin hatte sie auf diese Weise zerstört. William dachte immer wieder: Ich habe mich selbst betrügerischen Illusionen hingegeben. Wäre sie meiner Liebe würdig gewesen, sie hätte sie schon längst erwidert. Es war ein teurer Irrtum. Besteht aber nicht das ganze Leben aus solchen Irrtümern, und angenommen, ich hätte sie errungen – wäre ich nicht am Tage nach meinem Sieg entzaubert worden? Warum sollte ich mich meiner Niederlage schämen oder über sie bekümmert sein? Je mehr er diese lange Periode seines Lebens überdachte, desto klarer wurde ihm, daß er sich getäuscht hatte. »Ich will die Uniform wieder anziehen«, sagte er, »und meine Pflicht dort tun, wo der Himmel mich hingestellt hat. Ich werde aufpassen, daß die Knöpfe der Rekruten gehörig geputzt sind und die Unteroffiziere in ihren Berichten keine Fehler machen. Ich werde in der Offiziersmesse speisen und mir die Geschichten des schottischen Regimentsarztes anhören. Wenn ich alt und gebrechlich bin, werde ich mich auf Halbsold setzen lassen, und meine alten Schwestern werden mich ausschelten. ›Ich habe gelebt und geliebet‹, wie das Mädchen im›Wallenstein‹ sagt. Ich bin fertig. – Bezahl die Rechnung und bringe mir eine Zigarre, Francis, und sieh nach, was heute im Theater gespielt: wird. Morgen fahren wir mit der›Batavier‹ rüber.« Diese Rede, von der Francis nur die beiden letzten Zeilen hörte, hielt er, während er die Boompjes in Rotterdam auf und ab ging. Die »Batavier« lag im Hafen. Er konnte die Stelle auf dem Achterdeck sehen, wo er und Emmy auf der glücklichen Hinfahrt gesessen hatten. Was hatte ihm die kleine Mrs. Crawley nur zu sagen? – Pah, morgen stechen wir in See und kehren nach England zurück – zur Heimat und zur Pflicht!
Anfang Juli zerstreute sich die ganze kleine Hofgesellschaft von Pumpernickel nach deutscher Sitte in hundert verschiedene Badeorte, wo sie tranken, auf Eseln ritten, in den Kursälen spielten, wenn sie Geld und Lust hatten, mit Hunderten ihres Standes zu ihren Schlemmermahlen an die Table d'hôte eilten und den Sommer im Müßiggang verbrachten. Die englischen Diplomaten gingen nach Teplitz und Kissingen, ihre französischen Nebenbuhler schlossen ihre Kanzlei und eilten zu ihrem geliebten Boulevard de Gand. Die regierende durchlauchtige Familie fuhr ebenfalls in die Bäder oder zog sich auf ihre Jagdschlösser zurück. Jeder, der Ansprüche erhob, zur großen Welt gerechnet zu werden, verreiste, und unter ihnen natürlich auch der Hofarzt Doktor von Glauber und seine Baronin. Die Badesaison war stets die einträglichste Periode in des Doktors Praxis – er vereinigte das Geschäftliche mit dem Vergnügen und ging gewöhnlich nach Ostende, das sehr viel von Deutschen besucht wird, und dort behandelte der Doktor sich und sein Ehegespons mit »Seewasserspülungen«, wie er es nannte.
Sein interessanter Patient Joseph war eine regelrechte Milchkuh für den Doktor, und es fiel ihm nicht schwer, den Zivilisten zu überreden, um seiner selbst willen und wegen der erschütterten Gesundheit seiner reizenden Schwester den Sommer in dieser häßlichen Hafenstadt zu verbringen. Emmy war es gleichgültig, wohin sie ging. Georgy machte Freudensprünge bei dem Gedanken an eine Veränderung. Für Becky verstand es sich von selbst, daß sie den vierten Platz in der schönen Reisekutsche einnahm, die Mr. Joseph gekauft hatte, während die beiden Diener vorn auf dem Bock saßen. Vielleicht hegte sie einige Befürchtungen, daß sie dort Freunde treffen würde, die möglicherweise häßliche Geschichten erzählen könnten, – doch pah! sie war stark genug, sich zu behaupten. Sie war jetzt so fest bei Joseph verankert, daß schon ein schwerer Sturm kommen mußte, um sie zu erschüttern. Der Vorfall mit dem Bild hatte ihm den Rest gegeben. Becky nahm ihren Elefanten von der Wand und legte ihn in die kleine Kiste, die sie vor langen Jahren von Amelia bekommen hatte. Auch Emmy nahm ihre Hausgötter – die beiden Gemälde – mit, und schließlich quartierte sich die Gesellschaft in einem außerordentlich teuren und unbequemen Haus in Ostende ein.
Hier nun begann Amelia Bäder zu nehmen und das Beste daraus zu machen. Obwohl Dutzende Bekannte an Rebekka vorübergingen und sie schnitten, erfuhr Mrs. Osborne, die mit ihr ging, aber keinen Menschen kannte, nichts davon, wie die Freundin, die sie sich so verständig zur Gefährtin erwählt hatte, behandelt wurde. Becky hielt es auch für angemessen, ihr nicht mitzuteilen, was unter ihren unschuldigen Augen vorging.
Einige Bekannte schlossen sich Mrs. Rawdon Crawley jedoch bereitwillig an – bereitwilliger vielleicht, als es ihr wünschenswert erschien. Zu diesen gehörte Major Loder (ohne Anstellung) und Hauptmann Rook (früher bei den Schützen), die täglich auf dem Seedamm zu sehen waren, wo sie rauchten und den Frauen nachstarrten. Sie fanden schnell Zutritt zu der gastfreien Tafel und dem auserlesenen Kreis von Mr. Joseph Sedley und ließen sich in keiner Weise abschütteln. Sie brachen ins Haus ein, ganz gleich, ob Becky daheim war oder nicht, gingen in Mrs. Osbornes Salon, den sie mit dem Duft ihrer Röcke und Schnurrbarte parfümierten, nannten Joseph »alter Bursche«, stürzten sich auf seine Mittagstafel und lachten und tranken dort stundenlang.
»Was meinen sie nur?« fragte Georgy, der diese Herren nicht leiden mochte. »Ich hörte gestern, wie der Major zu Mrs. Crawley sagte: Nein, nein, Becky, den alten Burschen sollen Sie nicht für sich allein bekommen. Wir wollen da auch ein bißchen mitmischen, oder, verdammt noch mal, ich beichte. Was meinte der Major bloß damit, Mama?«
»Major! Nenn den bitte nicht Major!« sagte Emmy. »Ich weiß wirklich nicht, was er meinte.« Seine und seines Freundes Gegenwart flößten der kleinen Frau Abneigung und unerträgliches Entsetzen ein. Sie machten ihr trunkene Komplimente und beäugelten sie bei Tisch lüstern. Der Hauptmann machte ihr Anträge, die sie mit gräßlichem Schrecken erfüllten, und sie ging ihm aus dem Wege, wenn sie nicht gerade George bei sich hatte.
Auch Rebekka wollte nicht, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß einer von diesen Männern allein bei Amelia blieb. Der Major hatte ebenfalls Absichten und schwor, er werde sie gewinnen. Zwei Wüstlinge kämpften um dieses unschuldige Geschöpf und spielten an ihrem eigenen Tisch um sie. Wenn sie auch nicht wußte, was für Absichten die Schurken auf sie hatten, so fühlte sie doch in ihrer Gegenwart Unruhe und Schrecken und wäre gern geflüchtet.
Sie bat, sie flehte Joseph an, nach Hause zurückzukehren. Er wollte aber nicht. Er war langsam in Gang zu bringen und an seinen Arzt gekettet, und dann war er wohl auch an einem anderen Gängelband. Becky wenigstens war nicht darauf erpicht, nach England zu gehen.
Endlich faßte Amelia einen großen Entschluß und tat den entscheidenden Schritt. Sie schrieb einem Freund auf der anderen Seite des Wassers einen Brief. Keinem Menschen sagte sie ein Sterbenswörtchen davon und trug ihn selbst unter ihrem Schal zur Post. Niemand bemerkte etwas davon, nur sah sie sehr rot und aufgeregt aus, als Georgy sie sah, und küßte ihn an jenem Abend viele Male. Nach der Rückkehr von ihrem Spaziergang kam sie nicht wieder aus ihrem Zimmer hervor, und Becky glaubte, sie fürchte sich vor Major Loder und dem Hauptmann.
Hier darf sie nicht bleiben, sagte sich Becky; sie muß fort, das dumme Närrchen, sie weint immer noch um ihren Einfaltspinsel von Mann, der nun schon fünfzehn Jahre tot ist. Geschah ihm ganz recht. Sie soll keinen von diesen Männern heiraten. Es ist gemein von Loder; nein, sie soll den Bambusstock heiraten. Das werde ich noch heute abend in Ordnung bringen!
Becky brachte also Amelia eine Tasse Tee in ihr Zimmer, wo sie die Dame melancholisch und nervös in Gesellschaft ihrer Miniaturbilder vorfand. Sie setzte die Teetasse vor sie hin.
»Danke schön!« sagte Amelia.
»Hör mal, Amelia«, sagte Becky und ging vor Emmy im Zimmer auf und ab, dabei betrachtete sie die andere mit einer gewissen verächtlichen Freundlichkeit. »Ich muß mit dir sprechen, du mußt weg von hier, weg von der Unverschämtheit dieser Männer. Ich will nicht, daß sie dich belästigen, und wenn du hierbleibst, dann werden sie dich beleidigen. Ich sage dir, es sind Schurken, Männer, die man eigentlich ins Gefängnis stecken sollte. Kümmere dich nicht darum, woher ich sie kenne. Ich kenne alle Welt. Joseph kann dich nicht beschützen, er ist zu dick und schwach und braucht selbst einen Beschützer. Du bist ebenso untauglich für das Leben in dieser Welt wie ein Säugling. Du mußt heiraten, oder du und dein Prachtjunge werden zugrunde gehen. Du mußt einen Mann haben, du Närrchen, und einer der besten Männer, die ich je sah, hat schon hundertmal um dich geworben, und du hast ihn abgewiesen, du einfältiges, herzloses, undankbares kleines Geschöpf.«
»Ich habe – ich habe mein möglichstes versucht, wirklich, Rebekka«, erwiderte Amelia eindringlich. »Aber ich konnte nicht vergessen, daß...«, und sie beendete den Satz mit einem Augenaufschlag zu dem Porträt.
»Konntest den da nicht vergessen?« rief Becky. »Diesen egoistischen Aufschneider, diesen ungebildeten, ordinären Stutzer, diesen auswattierten Tölpel, der weder Witz noch Benehmen, noch Herz besaß und der mit deinem Freund mit dem Rohrstock ebensowenig zu vergleichen ist wie du mit der Königin Elisabeth. Hach, der Mann hatte dich längst satt und hätte dich sitzenlassen, wenn Dobbin ihn nicht gezwungen hätte, sein Wort zu halten. Er hat es mir selbst gestanden. Er hat sich nie etwas aus dir gemacht. Er hat sich soundso oft bei mir über dich lustig gemacht, und schon eine Woche nachdem er dich geheiratet hatte, hat er mit mir geflirtet.«
»Das ist Lüge, das ist Lüge, Rebekka!« rief Amelia und sprang auf.
»Sieh dir doch das einmal an, du Närrin«, sagte Becky, noch immer aufreizend gut gelaunt, und holte ein Zettelchen aus ihrem Gürtel. Sie öffnete es und warf es Emmy in den Schoß. »Du kennst seine Handschrift. Das hat er mir geschrieben, er hat gewollt, daß ich mit ihm durchbrennen sollte. Vor deinen Augen hat er es mir gegeben, einen Tag bevor er fiel – das geschah ihm ganz recht«, wiederholte Becky.
Emmy hörte sie nicht. Sie sah den Brief an. Es war derjenige, den George in das Bukett gesteckt und Becky in der Ballnacht beim Herzog von Richmond gegeben hatte. Es war, wie sie sagte. Der törichte junge Mann hatte sie aufgefordert, mit ihm zu fliehen.
Emmy ließ den Kopf sinken, und zum letzten Male in dieser Geschichte soll sie mit dem Weinen beschäftigt werden. Der Kopf sank ihr auf die Brust, die Hände fuhren an die Augen, und so gab sie sich eine Zeitlang ihrer Bewegung hin, während Becky dabeistand und sie anblickte. Wer könnte sagen, ob diese Tränen süß oder bitter waren? War sie sehr betrübt, weil das Götzenbild ihres Lebens gestürzt und zerschmettert vor ihren Füßen lag, oder entrüstet, daß ihre Liebe so geringgeschätzt worden war, oder froh, weil die Schranke der Schamhaftigkeit zwischen ihr und einer neuen, einer wahren Liebe gefallen war? Nichts kann mich jetzt mehr hindern, dachte sie, nun darf ich ihn von ganzem Herzen lieben. Oh, ich will, ich will, wenn er es mir nur erlaubt und mir vergibt. Ich glaube, dieses Gefühl stürzte sich vor allen anderen in die sanfte kleine Brust.
Sie weinte nicht so sehr, wie Becky erwartete. Rebekka beruhigte und küßte sie – ein seltsames Zeichen der Sympathie bei Mrs. Rebekka. Sie behandelte Emmy wie ein Kind und streichelte ihr das Haar. »Und nun wollen wir Feder und Tinte nehmen und ihm schreiben, daß er sofort kommen soll«, sagte sie.
»Ich – ich habe heute morgen schon an ihn geschrieben«, sagte Emmy und wurde sehr rot. Becky schrie vor Lachen. – »Un biglietto!« sang sie mit Rosina, »eccolo quà!« Ihr schriller Gesang schallte durch das ganze Haus.
Zwei Tage nach dieser kleinen Szene stand Amelia zeitig auf. Obwohl es regnerisch und windig war und obwohl sie eine unruhige Nacht verbracht hatte, dem Brausen des Windes gelauscht und alle Reisenden zu Lande und zu Wasser bemitleidet hatte, bestand sie darauf, mit Georgy einen Spaziergang auf dem Seedamm zu machen. Dort ging sie auf und ab, während ihr der Regen ins Gesicht schlug, und sie blickte westwärts über die hohen Wogen, die schäumend auf die Küste zustürzten, zu dem dunklen Horizont. Keiner der beiden sprach viel, nur ab und zu richtete der Knabe einige teilnehmende und ermutigende Worte an seine ängstliche Begleiterin.
»Ich hoffe, er wird bei diesem Wetter die Überfahrt nicht wagen«, meinte Emmy.
»Ich wette zehn gegen eins, daß er es doch tut«, antwortete der Knabe. »Sieh mal, Mutter, dort ist der Rauch vom Dampfer.« Ganz sicher, es war das erste Anzeichen.
Zwar war der Dampfer unterwegs, aber er brauchte deshalb doch nicht an Bord zu sein. Vielleicht hatte er den Brief nicht erhalten, vielleicht wollte er nicht kommen. Hundert Befürchtungen stürzten sich auf das kleine Herz ebenso schnell wie die Wellen auf den Seedamm.
Nach dem Rauch kam bald der Dampfer in Sicht. Georgy besaß ein hübsches Fernrohr, und geschickt bekam er das Schiff ins Blickfeld und gab nun passende seemännische Kommentare darüber, in welcher Weise sich der Dampfer näherte, der sich im Wasser hob und senkte. Das Signal »Englischer Dampfer in Sicht« stieg flatternd an dem Mast auf der Mole hoch. Ich glaube, Mrs. Amelias Herz flatterte ähnlich.
Emmy versuchte über Georges Schulter durch das Fernrohr zu blicken, konnte aber nichts erkennen. Sie sah nur etwas Dunkles vor ihren Augen auf und nieder tanzen.
George ergriff das Glas von neuem und bestrich damit das Schiff. »Wie es stampft«, sagte er. »Da, gerade klatscht wieder eine Welle über den Bug. Außer dem Steuermann sind nur zwei Leute auf Deck. Ein Mann liegt auf den Planken, und der andere – ein Kerl in einem – Mantel, mit einem... Hurra! Es ist Dobbin! Tatsache.« Er schob das Fernrohr zusammen und schlang die Arme um seine Mutter. Was sie tat, können wir mit den Worten eines beliebten Dichters sagen: δακρυοεν γελασασα. Sie war sicher, daß es William war. Ein anderer konnte es nicht sein. Als sie ihre Hoffnung ausdrückte, er werde nicht kommen, hatte sie geheuchelt. Natürlich würde er kommen, konnte er denn anders? Sie wußte, daß er kommen würde.
Das Schiff näherte sich schnell. Als sie zum Ländeplatz am Kai hinübergingen, zitterten Emmy die Knie, und sie konnte kaum gehen. Sie hätte sich gern niedergekniet und ein Dankgebet gesprochen. Oh, dachte sie, mein ganzes Leben soll ein Dankgebet sein.
Als das Schiff einlief, hatten sich wegen des schlechten Wetters keine müßigen Zuschauer eingefunden, und kaum ein Zollbeamter kümmerte sich um die wenigen Schiffspassagiere. Der kleine Taugenichts George hatte sich ebenfalls aus dem Staube gemacht, und als der Herr in dem alten, rotgefütterten Mantel das Ufer betrat, war dort kaum ein Mensch, der Zeuge des folgenden geworden wäre:
Eine Dame mit triefendem weißem Hut und Schal lief ihm mit ausgestreckten Händchen entgegen und war im nächsten Augenblick gänzlich unter den Falten des alten Mantels verschwunden. Sie küßte aus Leibeskräften seine eine Hand, während die andere wahrscheinlich damit beschäftigt war, sie ans Herz zu drücken (ihr Kopf reichte gerade bis da hinauf) und sie am Fallen zu hindern. Sie murmelte allerlei, etwa: vergib ... lieber William ... lieber, lieber, liebster Freund ... küß ... küß ... küß ... und so weiter, und redete noch viel mehr solche albernen Dinge unter dem Mantel.
Als Emmy wieder auftauchte, hielt sie noch immer eine Hand von William fest und blickte ihm ins Gesicht. Es war voller Traurigkeit, zärtlicher Liebe und Mitleid. Sie verstand seinen Vorwurf und ließ den Kopf hängen.
»Es war höchste Zeit, daß du mich geholt hast, liebe Amelia«, sagte er.
»Und du wirst nie wieder fortgehen, William?«
»Nein, niemals!« erwiderte er und drückte das liebe Seelchen noch einmal ans Herz.
Als sie aus dem Zollhaus traten, stürzte ihnen Georgy, das Fernrohr vor dem Auge, entgegen. Er tanzte um das Paar herum und schnitt allerlei possierliche Grimassen, während er sie nach Hause geleitete. Joseph war noch nicht aufgestanden, Becky nicht sichtbar (obwohl sie die drei durch die Fenstervorhänge beobachtete). Georgy lief fort, um nach dem Frühstück zu sehen, Emmy, der Miss Payne im Hausflur schon Schal und Hut abgenommen hatte, nestelte jetzt die Schnallen an Dobbins Mantel auf und ... gehen wir, wenn es recht ist, mit George mit und sehen nach dem Frühstück für den Oberst. Das Schiff liegt im Hafen. Er hat den Preis errungen, den er sein ganzes Leben lang erstrebt hat. Endlich ist der Vogel gefangen. Da ist er, hat den Kopf an Dobbins Schulter gelehnt und schnäbelt und girrt dicht an seinem Herzen mit ausgestreckten, weichen, flatternden Schwingen. Das hat er achtzehn Jahre lang täglich und stündlich erhofft. Das ist es, wonach er sich sehnte. Das ist es nun, das Ende, der Höhepunkt – die letzte Seite des zweiten Bandes. Leb wohl, Oberst – Gott behüte dich, ehrlicher William – auf Wiedersehen, liebe Amelia. Grüne von neuem, zarte kleine Schlingpflanze, rund um die rauhe alte Eiche, an welche du dich schmiegst!
Vielleicht war es Zerknirschung gegenüber dem gütigen, einfachen Geschöpf, das das erste in ihrem Leben gewesen war, das sie beschützt hatte, oder auch Abneigung gegen sentimentale Szenen – jedenfalls begnügte sich Rebekka mit ihrem Anteil an dem Geschehenen und zeigte sich nicht wieder vor Oberst Dobbin und der Dame, die er heiratete. »Spezielle Geschäfte« riefen sie nach Brügge, erklärte sie. Dorthin ging sie auch, und bei den Hochzeitsfeierlichkeiten waren nur Georgy und sein Onkel anwesend. Als das vorüber war und Georgy mit seinen Eltern abgefahren war, kehrte Rebekka (nur auf ein paar Tage) zurück, um den einsamen Junggesellen, Joseph Sedley, zu trösten. Er zog vor, wie er sagte, auf dem Kontinent zu leben, und lehnte es ab, mit seiner Schwester und ihrem Mann zusammen zu wohnen.
Emmy war von Herzen froh bei dem Gedanken, daß sie an ihren Mann geschrieben hatte, bevor sie den Brief von George gelesen oder etwas davon erfahren hatte. »Ich wußte es die ganze Zeit über«, sagte William, »aber konnte ich denn diese Waffe gegen das Andenken des armen Burschen gebrauchen? Das ist der Grund, weshalb es mir so weh tat, als du ...«
»Sprich nie wieder von diesem Tag«, rief Emmy so demütig und reuevoll, daß William das Gespräch auf ein anderes Thema brachte und von Glorvina und der lieben alten Peggy O'Dowd erzählte, bei denen er gerade saß, als der Brief eintraf, mit dem sie ihn rief. »Wenn du mich nicht geholt hättest«, fügte er lachend hinzu, »wer weiß, wie Glorvina dann jetzt heißen würde.«
Gegenwärtig heißt sie Glorvina Posky (jetzt Frau Majorin Posky). Sie nahm ihn nach dem Tode seiner ersten Frau, da sie beschlossen hatte, nie jemanden zu heiraten, der nicht zum Regiment gehörte. Lady O'Dowd liebt es ebenfalls so sehr, daß sie sagt, wenn ihrem Michael etwas zustoßen sollte, dann würde sie ganz bestimmt zum Regiment zurückkehren und einen von dort heiraten. Dem Generalmajor geht es jedoch blendend, er lebt glanzvoll in O'Dowdstown, hält ein Rudel Jagdhunde und ist (vielleicht nur mit Ausnahme seines Nachbars Hoggarty von Schloß Hoggarty) der erste Mann der Grafschaft. Seine Lady tanzt noch immer Gigue, und sie bestand beim letzten Ball des Gouverneurs darauf, es mit dem Stallmeister aufzunehmen. Sie und Glorvina erklärten, daß sich Dobbin schändlich benommen habe; als aber Posky frei wurde, tröstete sich Glorvina bald, und ein schöner Turban von Paris besänftigte Lady O'Dowds Zorn.
Oberst Dobbin hängte unmittelbar nach der Hochzeit den Dienst an den Nagel und mietete sich einen hübschen kleinen Landsitz in Hampshire, nicht weit von Queen's Crawley, wo Sir Pitt und seine Familie nach der Annahme des Reformgesetzes ständig lebten. Von einem Aufstieg in den höheren Adel konnte jetzt keine Rede mehr sein, nachdem der Baronet seine beiden Parlamentssitze eingebüßt hatte. Durch diese Katastrophe hatte sein Geldbeutel wie auch sein Lebensmut gelitten. Er kränkelte und prophezeite den baldigen Untergang des Königreiches.
Lady Jane und Mrs. Dobbin wurden gute Freundinnen. Es gab ein ständiges Hin und Her in der Ponykutsche zwischen dem Schloß und »Haus Immergrün«, dem Landsitz des Obersten (er hatte ihn von seinem Freund Major Ponto gemietet, der sich mit seiner Familie im Ausland befand). Die Lady stand bei Mrs. Dobbins Kind Pate, das ihren Namen erhielt. Getauft wurde es von Ehrwürden James Crawley, der die Pfründe von seinem Vater übernahm. Zwischen den beiden jungen Burschen George und Rawdon bestand eine enge Freundschaft. Sie jagten und schossen in den Ferien zusammen, besuchten beide dasselbe College in Cambridge und stritten sich um Lady Janes Tochter, in die natürlich beide verliebt waren. Eine Verbindung zwischen George und der jungen Dame war lange der Lieblingsplan der beiden Mütter, obgleich ich gehört habe, daß Miss Crawley mehr ihrem Cousin gewogen war.
Keine der beiden Familien erwähnte jemals Mrs. Rawdon Crawleys Namen. Es gab Gründe genug, weshalb man lieber über sie schwieg, denn wohin auch Mr. Joseph Sedley reiste, sie ging stets mit, und der betörte Mann schien völlig ihr Sklave geworden zu sein. Dem Oberst wurde von seinem Rechtsanwalt mitgeteilt, daß sein Schwager eine sehr hohe Lebensversicherung abgeschlossen habe. Das deutete darauf hin, daß er Geld aufgenommen hatte, um Schulden zu bezahlen. Er ließ seinen Urlaub von der Ostindischen Kompanie verlängern, und tatsächlich verschlechterte sich seine Gesundheit täglich.
Als Amelia von der Lebensversicherung erfuhr, flehte sie in großer Bestürzung ihren Mann an, nach Brüssel zu gehen, wo sich Joseph gerade aufhielt, und Nachforschungen über seine Lage anzustellen. Der Oberst verließ sein Haus nur widerwillig (er war nämlich eifrig in eine »Geschichte des Pandschab« vertieft, mit der er noch heute beschäftigt ist, und außerdem war er sehr in Sorge um sein Töchterchen, das eben die Windpocken überstanden hatte und das er sehr vergötterte). Er fuhr also nach Brüssel und fand Joseph in einem der riesigen Hotels dieser Stadt. Mrs. Crawley, die einen Wagen hielt, Gesellschaften gab und sehr vornehm auftrat, bewohnte eine andere Zimmerflucht in demselben Hotel.
Der Oberst hatte natürlich kein Bedürfnis, diese Dame zu sehen, und hielt es auch nicht für angemessen, seine Ankunft in Brüssel anzumelden. Er ließ Joseph nur ganz heimlich durch seinen Diener melden, daß er kommen werde. Joseph bat den Oberst, ihn am Abend zu besuchen, da Mrs. Crawley bei einer Gesellschaft sein würde und sie sich allein sprechen könnten. Er fand seinen Schwager wirklich in einem bemitleidenswerten Zustand vor. Joseph hatte entsetzliche Angst vor Rebekka, obwohl er ihres Lobes voll war. Sie hatte ihn während einiger unerhörter Krankheiten mit bewunderungswürdiger Ausdauer gepflegt. Sie war ihm wie eine Tochter gewesen. »Aber – aber – oh, um Gottes willen, kommt und wohnt in meiner Nähe, und – und – besucht mich ab und zu«, wimmerte der Unglückliche.
Die Stirn des Obersten verdüsterte sich bei diesen Worten. »Wir können nicht, Joseph«, sagte er. »Wenn man die Umstände berücksichtigt, kann Amelia dich nicht besuchen.«
»Ich schwöre dir – ich schwöre dir auf die Bibel«, keuchte Joseph und versuchte das Buch zu küssen, »daß sie so unschuldig ist wie ein Kind, so makellos wie deine eigene Frau.«
»Das mag sein«, sagte der Oberst düster. »Aber Emmy kann nicht zu dir kommen. Sei ein Mann, Joseph, brich diese schimpfliche Verbindung ab. Komm zu deiner Familie nach Hause. Wir haben gehört, daß du in Geldverlegenheiten bist.«
»Ich?« rief Joseph. »Wer hat dir solche Lügen erzählt? Mein ganzes Vermögen ist äußerst vorteilhaft angelegt. Mrs. Crawley ... das heißt... ich meine ... es ist zu den besten Zinsen angelegt.«
»So hast du also keine Schulden? Warum hast du dann eine Lebensversicherung abgeschlossen?«
»Ich dachte – ein kleines Geschenk für sie – falls mir etwas zustößt, weißt du, meine Gesundheit ist so angegriffen – bloße Dankbarkeit, weißt du! Ich beabsichtige, euch mein ganzes Vermögen zu hinterlassen – und ich kann es von meinem Einkommen ersparen, wirklich, das kann ich!« rief Williams schwacher Schwager.
Der Oberst bat Joseph, sofort zu fliehen – nach Indien zurückzugehen, wohin ihm Mrs. Crawley nicht folgen könnte, alles zu tun, um ein Verhältnis abzubrechen, das verhängnisvolle Folgen für ihn haben könne.
Joseph faltete die Hände und rief, er wolle nach Indien zurückkehren, er wolle alles tun, er müsse nur Zeit haben. »Du darfst bloß Mrs. Crawley nichts sagen – sie – sie würde mich umbringen, wenn sie es wüßte. Du hast keine Ahnung, was für eine schreckliche Frau sie ist«, sagte der arme Kerl.
»Warum willst du dann nicht mit mir gehen?« entgegnete Dobbin, aber Joseph hatte nicht den Mut dazu. Dobbin solle am nächsten Morgen noch einmal wiederkommen, er dürfe aber auf keinen Fall erzählen, daß er dagewesen sei; er müsse nun gehen. Becky könne jeden Augenblick zurückkommen. Dobbin verließ ihn mit trüben Ahnungen.
Er sah Joe nie wieder. Joseph Sedley starb drei Monate später in Aachen. Es stellte sich heraus, daß sein ganzes Vermögen in Spekulationen vertan worden war und in unzähligen wertlosen Aktien verschiedener Schwindelgesellschaften vorlag. Sein ganzer Nachlaß bestand in den zweitausend Pfund aus seiner Lebensversicherung, die er zu gleichen Teilen seiner »geliebten Schwester Amelia, Frau des... und so weiter, und seiner Freundin und unschätzbaren Krankenpflegerin Rebekka, Frau von Oberstleutnant Rawdon Crawley« hinterlassen hatte. Becky war zur Testamentsvollstreckerin ernannt.
Der Rechtsanwalt der Versicherungsgesellschaft schwor, es sei der dunkelste Fall, der je vor ihn gekommen sei. Er sprach davon, eine Kommission nach Aachen zu schicken, um den Todesfall genau zu untersuchen, und die Gesellschaft weigerte sich, die Police zu bezahlen. Mrs. oder Lady Crawley, wie sie sich nannte, kam jedoch sofort nach London, begleitet von ihren Anwälten, den Herren Burke, Thurtell und Hayes von Thavies Inn, und drohte der Gesellschaft, sie solle nur wagen, ihr die Zahlung zu verweigern. Sie forderte sie auf, Untersuchungen anzustellen, erklärte, daß sie das Opfer einer infamen Verschwörung, die sie ihr ganzes Leben lang verfolgt habe, sei, und trug schließlich den Sieg davon. Das Geld wurde ausgezahlt und ihr guter Ruf wiederhergestellt. Oberst Dobbin schickte aber seinen Anteil der Versicherungsgesellschaft zurück und lehnte es entschieden ab, irgendwelche Verbindung mit Rebekka aufrechtzuerhalten.
Sie wurde nie Lady Crawley, obwohl sie sich weiterhin so nannte. Seine Exzellenz Oberst Rawdon Crawley starb am gelben Fieber auf Coventry Island, allgemein beliebt und betrauert, sechs Wochen vor dem Tode seines Bruders Pitt. Das Vermögen ging daher auf den gegenwärtigen Sir Rawdon Crawley, Baronet, über.
Auch er hat es abgelehnt, seine Mutter zu sehen. Er hat ihr jedoch eine auskömmliche Jahresrente ausgesetzt, aber sie schien auch so ganz wohlhabend zu sein. Der Baronet lebt ständig mit Lady Jane und ihrer Tochter in Queen's Crawley, während sich Rebekka, Lady Crawley, hauptsächlich in Bath oder Cheltenham aufhält; eine einflußreiche Partei vortrefflicher Leute hält sie für eine Frau, der man Unrecht getan hat. Sie hat auch ihre Feinde. Wer hätte die nicht? Mit ihrem Leben gibt sie denen eine Antwort. Sie beschäftigt sich mit frommen Werken. Sie geht in die Kirche, aber nie ohne Lakaien. Ihr Name ist auf allen Wohltätigkeitslisten zu finden. Das notleidende Apfelsinenmädchen, die vernachlässigte Waschfrau, der arme Brezelmann finden in ihr eine treue, großzügige Freundin. Auf Wohltätigkeitsbasaren hat sie stets einen Stand, um diesen unglücklichen Wesen zu helfen. Emmy, ihre Kinder und der Oberst waren vor einiger Zeit in London und sahen sich ihr auf einem dieser Basare plötzlich gegenüber. Sie schlug bescheiden die Augen nieder und lächelte, als sie zurückfuhren. Emmy eilte am Arm Georges (er ist jetzt ein eleganter junger Herr geworden) davon, und der Oberst hob seine kleine Jane auf, die er mehr liebt als alles auf der Welt, mehr sogar als seine »Geschichte des Pandschab«.
Mehr sogar als mich! denkt Emmy seufzend, aber er hat nur freundliche und sanfte Worte für sie und versucht, ihr alle Wünsche zu erfüllen.
Ach, vanitas vanitatum! Wer von uns ist glücklich auf dieser Welt? Wer von uns hat alles, was er wünscht, oder ist zufrieden, wenn er es hat? Kommt, Kinder, wir wollen die Puppen wegpacken und die Kiste schließen, denn unser Spiel ist zu Ende.