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66. Kapitel

Amantium irae

Die Offenheit und die Güte Amelias mußten selbst eine so verstockte kleine Sünderin wie Becky rühren. Sie erwiderte Emmys Liebkosungen und freundliche Worte mit so etwas wie Dankbarkeit und einem Gefühl, das zwar nicht dauernd, aber doch einen Augenblick echt zu nennen war. Sie hatte mit dem »schreienden Kind, das man ihr aus den Armen gerissen hatte« eine glückliche Idee gehabt. Durch dieses herzzerreißende Unglück hatte Becky die Freundin wiedergewonnen, und ganz sicher war das auch eins der ersten Themen, über die unsere arme einfältige kleine Emmy mit ihrer wiedergefundenen Freundin sprach.

»Man hat dir also dein geliebtes Kind entrissen?« rief unser kleiner Einfaltspinsel aus. »O Rebekka, meine arme, liebe, gequälte Freundin. Ich weiß, was es heißt, einen Knaben zu verlieren, und ich fühle mit denen, die einen verloren haben. So der Himmel will, wird dir dein Sohn zurückgegeben werden, wie eine allzu gütige Vorsehung mir auch meinen zurückgegeben hat.«

»Das Kind, mein Kind? Ach ja, meine Qualen waren entsetzlich!« gestand Becky, vielleicht nicht ohne einen kleinen Gewissensbiß. Es beunruhigte sie, diesem schlichten Vertrauen sofort wieder mit Lügen begegnen zu müssen. Das ist eben das Unglück, wenn man erst einmal mit derartigen Unwahrheiten anfängt. Wenn eine Lüge gleichermaßen fällig wird, so muß man eine andere aussprechen, um die alte zu honorieren. Dadurch erhöht sich die Summe der zirkulierenden Lügen unvermeidlich, und die Gefahr der Entdeckung wächst täglich.

»Meine Qualen«, fuhr Becky fort, »waren schrecklich« (hoffentlich setzt sie sich nicht auf die Flasche), »als sie ihn mir entrissen; ich dachte, ich müsse sterben. Glücklicherweise bekam ich aber eine Gehirnhautentzündung, und die Ärzte gaben mich schon auf. Aber – aber ich genas, und –und hier bin ich, arm und verlassen.«

»Wie alt ist er?« fragte Emmy.

»Elf«, sagte Becky.

»Elf?« rief die andere. »Aber er ist doch im selben Jahr geboren wie Georgy, und der ist...«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Becky, die das Alter des kleinen Rawdon tatsächlich ganz vergessen hatte. »Durch den Kummer habe ich so manches vergessen, liebste Amelia. Ich bin sehr verändert, zuweilen halb wild. Er war elf, als sie ihn mir wegnahmen. Gott segne sein liebes Gesicht, ich habe es seitdem nicht wieder gesehen.«

»War er blond oder dunkel?« fragte die alberne kleine Amelia weiter. »Zeig mir doch sein Haar!«

Becky mußte über diese Einfalt fast lachen. »Heute nicht, Liebste – ein andermal, wenn meine Koffer von Leipzig ankommen, von wo ich hierhergereist bin. Auch eine kleine Zeichnung von ihm, die ich in glücklichen Tagen angefertigt habe.«

»Arme Becky, arme Becky!« sagte Amelia. »Wie dankbar, wie dankbar sollte ich sein.« (Ich bezweifle allerdings, daß die Dankbarkeit, die uns die Frauen in frühester Jugend einschärfen, nämlich dankbar zu sein, daß es uns besser geht als unseren Nächsten, ein sehr vernünftiges und religiöses Gefühl ist.) Hierauf verfiel Emmy wie üblich in den Gedanken, daß ihr Sohn der schönste, beste und klügste Knabe auf der ganzen Welt sei.

»Du wirst meinen Georgy sehen«, war der einzige Trost für Rebekka, der Emmy einfiel. Wenn irgend etwas ihr helfen konnte, dann das!

Die beiden Frauen unterhielten sich eine Stunde oder noch länger miteinander, und das gab Becky Gelegenheit, ihrer wiedergewonnenen Freundin eine vollständige Fassung ihrer Geschichte zu geben. Sie zeigte, daß ihre Heirat mit Rawdon Crawley von der Familie stets feindselig betrachtet worden sei und daß ihre Schwägerin – eine gerissene Frau – die Gefühle ihres Mannes gegen sie vergiftet habe. Außerdem habe er schlechte Bekanntschaften geschlossen, die seine Liebe zu ihr erkalten ließen. Sie habe Armut, Vernachlässigung, Kälte, alles von dem Wesen ertragen, das sie am meisten liebte, und alles nur um ihres Kindes willen. Schließlich sei sie durch die schändlichste Schmach dazu getrieben worden, die Trennung von ihrem Mann zu fordern. Der Elende sei darauf nicht zurückgeschreckt, von ihr zu fordern, ihren guten Ruf zu opfern, damit er durch Vermittlung eines sehr hochgestellten und mächtigen, aber charakterlosen Mannes – des Marquis von Steyne  – eine gute Stellung erlangen könne. Das grausame Ungeheuer!

Diesen Teil ihrer ereignisreichen Geschichte schilderte Becky mit sehr großem weiblichem Taktgefühl und der Miene entrüsteter Tugend. Durch diese Beleidigung sei sie gezwungen gewesen, das Haus ihres Mannes zu fliehen, und der Feigling hatte seine Rache weiterverfolgt, indem er ihr das Kind nahm. Und so sei sie ein armer, schutzloser, einsamer und unglücklicher Wanderer geworden, erklärte sie.

Emmy nahm diese lange Geschichte auf, wie es bei ihrem Charakter zu erwarten war. Sie bebte vor Entrüstung über das Benehmen des erbärmlichen Rawdon und des lasterhaften Steyne; ihre Augen setzten das Ausrufezeichen hinter jeden Satz, in dem Rebekka ihre Verfolgung durch die aristokratischen Verwandten und den Abfall ihres Mannes beschrieb. (Becky beschimpfte ihn nicht, sie sprach von ihm mehr traurig als zornig. Sie hatte ihn nur zu zärtlich geliebt, und war er nicht der Vater ihres Sohnes?) Während Becky die Trennungsszene von dem Kind zitierte, zog sich Emmy ganz hinter ihr Taschentuch zurück, so daß die vollendete kleine Tragödienspielerin von der Wirkung ihrer Vorstellung auf das Publikum bezaubert gewesen sein muß.

Während die Damen ihr Gespräch fortsetzten, stieg Amelias ständige Begleitung, der Major, in das Erdgeschoß des Hauses hinab und begab sich in das große Gastzimmer. Er hatte die Unterredung nicht unterbrechen wollen, war es aber überdrüssig, auf dem engen Treppengang hin und her zu gehen und sich von den Dachsparren den Flor vom Hut fegen zu lassen. Dieser Raum steht allen Besuchern vom »Elefanten« zur Verfügung und ist stets in Rauchwolken gehüllt. Bier ist allenthalben verschüttet, und auf einem schmutzigen Tisch stehen Dutzende von ebenfalls schmutzigen Messingleuchtern mit Talgkerzen für die Bewohner des Hauses, deren Schlüssel in Reih und Glied über den Kerzen hängen. Emmy war errötend durch das Zimmer geeilt (von diesem Raum geht nämlich die Treppe aus), wo sich alle möglichen Leute zusammengefunden hatten: Tiroler Handschuhverkäufer und rumänische Leinwandkrämer mit ihren Packen; Studenten, die sich mit Butterbrot und Fleisch versahen; Müßiggänger, die an den schlüpfrigen biernassen Tischen Karten oder Domino spielten; Gaukler, die sich während ihrer Auftrittspausen erfrischten – kurz, der ganze Schall und Rauch eines deutschen Gasthauses zur Jahrmarktszeit. Der Kellner brachte dem Major wie selbstverständlich einen Krug Bier, und Dobbin zog eine Zigarre heraus und beschäftigte sich mit diesem schädlichen Gewächs und einer Zeitung, bis sein Schützling herabkommen und ihn wieder mit Beschlag belegen würde.

Bald darauf kamen auch Max und Fritz sporenklirrend die Treppe herab, die Mütze schief auf dem Kopf, mit ihren prächtig mit Wappen und Quasten verzierten Pfeifen. Sie hingen den Schlüssel von Nummer 90 ans Brett und riefen nach einer Portion Butterbrot und Bier. Sie ließen sich neben dem Major nieder und begannen ein Gespräch, das er gezwungenermaßen zum großen Teil mit anhören mußte. Es fielen hauptsächlich Worte wie »Fuchs« und »Philister«, und es drehte sich um Schlägereien und Trinkgelage in der benachbarten Universität von Schoppenhausen. Von diesem berühmten Sitz der Gelehrsamkeit waren sie gerade im Eilwagen gekommen, anscheinend in Gesellschaft Beckys, um den Vermählungsfeierlichkeiten von Pumpernickel beizuwohnen.

»Die kleine Engländerin scheint en bays de gonnaissance zu sein«, sagte Max, der Französisch konnte, zu seinem Kameraden Fritz. »Nachdem der fette Großvater fort war, kam eine hübsche kleine Landsmännin. Ich habe gehört, wie sie zusammen im Zimmer der kleinen Frau geschnattert und geheult haben.«

»Wir müssen noch Karten zu ihrem Konzert kaufen«, meinte Fritz. »Hast du Geld, Max?«

»Pah!« erwiderte der andere »Das Konzert ist ein Konzert in nubibus. Hans hat erzählt, sie habe schon einmal eins in Leipzig angekündigt, und die Burschen hätten viele Karten gekauft; aber sie ist abgereist ohne zu singen. Gestern im Wagen hat sie gesagt, ihr Pianist sei in Dresden krank geworden. Ich glaube nicht, daß sie überhaupt singen kann. Sie hat genauso eine krächzende Stimme wie du, du prahlerischer Säufer.«

»Sie ist krächzend, das stimmt; ich habe sie gehört, wie sie eine schreckliche englische Ballade aus dem Fenster gesungen hat, die ›Die Ros' an meinem Fensterlein‹ hieß.«

»Saufen und Singen verträgt sich nicht«, bemerkte Fritz mit der roten Nase, der offensichtlich den erstgenannten Zeitvertreib vorzog. »Nein, du sollst keine Karte von ihr kaufen, sie hat gestern abend Geld beim Trente-et-quarante gewonnen. Ich habe sie beobachtet. Sie hat einen kleinen englischen Jungen für sich spielen lassen. Wir wollen dein Geld lieber verspielen oder fürs Theater ausgeben oder ihr französischen Wein und Kognak im Aureliusgarten spendieren. Aber Karten wollen wir nicht kaufen. Was meinst du? – Noch einen Krug Bier!« Und nachdem sie nacheinander ihren blonden Schnurrbart in die schale Flüssigkeit getaucht hatten, zwirbelten sie ihn und stolzierten hinaus auf den Jahrmarkt.

Dem Major, der sah, wie der Schlüssel von Nummer 90 an den Nagel gehängt wurde, und der die Unterredung der beiden jungen Universitätsburschen gehört hatte, fiel es nicht schwer, zu begreifen, daß sich ihr Gespräch um Becky drehte. Der kleine Satan arbeitet wieder mit den alten Tricks, dachte er lächelnd. Er rief sich die vergangenen Zeiten ins Gedächtnis zurück, wo er ihren verzweifelten Flirt mit Joseph und das komische Ende dieses Abenteuers miterlebt hatte. Er hatte später mit George oft darüber gelacht, bis wenige Wochen nach seiner Heirat, als der junge Osborne sich ebenfalls in den Netzen der kleinen Circe verfangen zu haben schien und sich in einer Weise mit ihr einließ, die der andere zwar argwöhnte, aber lieber übersehen wollte. Es war am Morgen von Waterloo, als die jungen Männer im Regen in vorderster Linie beisammenstanden und auf die dunkle Masse der Franzosen blickten, die auf den gegenüberliegenden Höhen lagen. »Ich bin in eine dumme Geschichte mit einer Frau geraten«, sagte George. »Ich bin froh, daß wir abmarschiert sind. Wenn ich falle, hoffe ich, daß Emmy nie etwas von der Sache erfährt. Bei Gott, ich wünschte, ich hätte niemals damit angefangen.« William freute sich darüber und besänftigte auch die Witwe des armen George häufig damit, daß Osborne am Tage, nachdem er seine Frau zurückgelassen hatte, gleich nach dem Gefecht von Quatre-Bras mit seinem Kameraden ernst und liebevoll von seinem Vater und seiner Frau gesprochen habe. Das hatte William auch immer wieder in seinen Gesprächen mit dem älteren Osborne betont, und deshalb war es ihm wohl auch gelungen, den Alten noch kurz vor seinem Ende mit dem Andenken seines Sohnes zu versöhnen.

So betreibt diese Teufelin also immer noch ihre Machenschaften, dachte William, wäre sie doch nur hundert Meilen weit weg. Wohin sie auch kommt – sie bringt nur Unheil mit. Er brütete noch weiter über diesen Ahnungen und unangenehmen Gedanken, den Kopf zwischen den Händen und die »Pumpernickeler Zeitung« von der vergangenen Woche ungelesen vor der Nase, als jemand ihm mit dem Sonnenschirm an die Schulter tippte. Er sah auf und erblickte Mrs. Amelia.

Mrs. Osborne tyrannisierte Dobbin auf ihre Weise, denn auch die Schwächsten beherrschen gern andere. Sie kommandierte ihn herum, gab ihm einen Klaps und ließ ihn apportieren, gerade als ob er ein großer Neufundländer wäre. Wenn sie nach ihm rief, so sprang er sozusagen gern ins Wasser und trottete mit ihrem Strickbeutel im Maul hinter ihr her. Diese Geschichte hat ihren Zweck fast verfehlt, wenn der Leser noch nicht gemerkt hat, daß der Major ein verliebter Tropf war.

»Warum haben Sie nicht auf mich gewartet und mich die Treppe hinabbegleitet?« fragte sie, warf das Köpfchen in den Nacken und machte einen höchst spöttischen Knicks.

»Ich konnte in dem Gang nicht aufrecht stehen«, erwiderte er mit komisch-bittendem Blick, und erfreut, ihr den Arm reichen und sie aus dem dumpfen, verqualmten Raum fortführen zu können, wäre er ohne einen Gedanken an den Kellner davongegangen, aber der junge Bursche lief ihm nach und hielt ihn auf der Schwelle vom »Elefanten« zurück, um ihn zur Bezahlung des Biers aufzufordern, das er gar nicht getrunken hatte. Emmy lachte. Sie nannte ihn einen bösen Mann und machte noch ein paar Witze, die zu der Gelegenheit und zu dem Dünnbier paßten. Sie war bester Laune und trippelte eiligst über den Marktplatz. Sie sagte, sie müsse Joseph augenblicklich sehen. Der Major lachte über die ungestüme Liebe von Mrs. Amelia, da es sonst nicht oft vorkam, daß sie ihren Bruder »augenblicklich« sehen mußte. Sie fanden den Zivilisten in seinem Salon im ersten Stock. Während der letzten Stunde war er mindestens hundertmal in seinem Zimmer auf und ab gegangen, hatte an den Nägeln gekaut und über den Marktplatz zum »Elefanten« geblickt, zur gleichen Zeit, als Emmy mit ihrer Freundin in der Dachkammer die Unterredung hatte und der Major unten im Gastzimmer auf dem schmutzigen Tisch herumtrommelte. Auch er war sehr begierig, Mrs. Osborne zu sehen.

»Nun?« meinte er.

»Das arme gute Geschöpf! Wie hat sie gelitten!« sagte Emmy.

»Gott behüte mich, jawohl«, sagte Joseph und wackelte mit dem Kopf, daß seine Wangen wie Gelee zitterten.

»Sie kann das Zimmer der Payne haben, die muß dann höher hinaufziehen«, fuhr Emmy fort. Die Payne war eine gesetzte englische Zofe und Mrs. Osbornes persönliche Dienerin. Der Reisediener machte ihr den Hof, wie es seine Stellung verlangte, und Georgy trieb seinen Schabernack mit ihr und erzählte ihr von deutschen Räubern und Gespenstern. Sie verbrachte ihre Zeit hauptsächlich damit, zu murren, ihre Herrin herumzukommandieren und ihre Absicht kundzutun, am nächsten Morgen in ihr Heimatdorf, nach Clapham, zurückzukehren. »Sie kann das Zimmer der Payne haben«, sagte Emmy.

»Wie, Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß Sie das Weib im Hause haben wollen?« platzte der Major heraus und sprang auf.

»Natürlich, das wollen wir«, entgegnete Amelia mit der unschuldigsten Miene der Welt. »Bitte, regen Sie sich nicht auf und machen die Möbel kaputt, Major Dobbin. Natürlich soll sie hierherkommen.«

»Natürlich, meine Liebe!« bestätigte Joseph.

»Das arme Geschöpf! Nach allem, was sie durchgemacht hat«, fuhr Emmy fort. »Ihr schurkischer Bankier hat Bankrott gemacht und ist durchgegangen, ihr Mann – der gottlose Bösewicht – hat sie verlassen und ihr das Kind entrissen.« (Bei diesen Worten ballte sie die kleinen Fäuste und hielt sie drohend vor sich hin, so daß der Major bezaubert war, eine so kühne Amazone zu sehen.) »Das arme liebe Ding! Ganz allein und gezwungen, Gesangunterricht zu geben, um sich ihr Brot zu verdienen – und nun sollen wir sie nicht ins Haus nehmen.«

»Lassen Sie sich Gesangstunden geben, meine liebe Mrs. Osborne«, rief der Major, »aber nehmen Sie sie nicht ins Haus; ich flehe Sie an, tun Sie es nicht.«

»Pah!« sagte Joseph.

»Sie, der Sie immer gut und freundlich sind, zumindest waren – ich bin erstaunt über Sie, Major William«, rief Amelia. »Wann, wenn nicht jetzt, wo es ihr so schlecht geht, soll man ihr denn helfen? Jetzt ist die Zeit, um ihr nützlich zu sein. Meine älteste Freundin, und nicht...«

»Sie ist nicht immer Ihre Freundin gewesen, Amelia«, sagte der Major, der jetzt wirklich ärgerlich wurde. Diese Andeutung war zuviel für Emmy. Beinahe wütend blickte sie dem Major ins Gesicht und sagte: »Schämen Sie sich, Major Dobbin!« Nachdem sie diesen Schuß abgefeuert hatte, schritt sie majestätisch aus dem Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich und ihrer beleidigten Würde zu.

»Darauf anzuspielen«, sagte sie, nachdem die Tür zu war. »Oh, es war grausam von ihm, mich daran zu erinnern.« Und sie sah auf Georges Bild, das zusammen mit dem Porträt des Knaben an seinem gewöhnlichen Platz hing. »Das war grausam von ihm; durfte er davon sprechen, da ich doch verziehen habe? – Nein! Und von seinen eigenen Lippen weiß ich, wie schlecht und grundlos meine Eifersucht war und daß du rein warst. Ja, du warst rein, mein Heiliger im Himmel!«

Zitternd und entrüstet durchschritt sie das Zimmer. Sie lehnte sich auf die Kommode, über der das Bild hing, und sah es lange an. Seine Augen schienen sie mit einem Vorwurf anzublicken, der immer deutlicher wurde, je länger sie hinaufschaute. Die teure, teure Erinnerung an die frühe kurze Liebe drängte sich ihr wieder auf. Die Wunde, die durch lange Jahre hindurch kaum vernarbt war, blutete von neuem, und – ach, wie schmerzlich! Sie konnte die Vorwürfe ihres Mannes da vor ihr nicht ertragen. Es konnte nicht sein. Nie, niemals!

Armer Dobbin, armer alter William. Dieses unglückselige Wort hat das Werk vieler Jahre vernichtet – das lange mühsame Gebäude eines Lebens voller Liebe und Treue, errichtet auf geheimem verborgenem Grund, in dem Leidenschaften, ungezählte Kämpfe, unbekannte Opfer begraben lagen. Ein kleines Wort war gesprochen worden, und der schöne Hoffnungspalast stürzte zusammen – ein Wort, und der Vogel, den er sein ganzes Leben hindurch anzulocken versucht hatte, flog davon.

Obwohl William aus Amelias Blick ersehen hatte, daß eine große Krisis eingetreten war, fuhr er doch fort, Sedley mit energischen Worten zu bitten, sich vor Rebekka zu hüten. Er beschwor ihn eifrig, ja fast leidenschaftlich, sie nicht aufzunehmen. Er bat Joseph, doch wenigstens erst Erkundigungen über sie einzuziehen. Er erzählte, er habe gehört, sie befinde sich in Gesellschaft von Spielern und Leuten von schlechtem Ruf. Er machte ihn auf das Unheil aufmerksam, das sie in früheren Tagen gestiftet habe, daß sie und Crawley den armen George ruiniert hätten und daß sie, wie sie selbst zugab, jetzt von ihrem Mann geschieden sei, und vielleicht aus gutem Grund. Er erklärte, was für eine gefährliche Gesellschaft sie für seine Schwester sein werde, die doch die Welt nicht kenne! William flehte Joseph mit aller Beredsamkeit an, die ihm zu Gebote stand, und mit bedeutend mehr Energie, als der ruhige Herr sonst zeigte, Rebekka von seinem Haus fernzuhalten.

Wäre er weniger heftig oder etwas geschickter gewesen, so hätten seine Bitten bei Joseph vielleicht Gehör gefunden; der Zivilist war jedoch nicht wenig eifersüchtig auf die überlegene Miene, die der Major seiner Ansicht nach gegen ihn aufsetzte. Er hatte seine Meinung schon dem Reisediener, Herrn Kirsch, mitgeteilt, und da Major Dobbin auf dieser Reise Kirschs Rechnungen kontrollierte, schlug er sich völlig auf die Seite seines Herrn. So begann Joseph jedoch mit einer schwülstigen Rede, des Inhalts, daß er imstande sei, seine Ehre selbst zu verteidigen, daß er keine Einmischung in seine Angelegenheiten wünsche, kurz, daß er beabsichtige, sich gegen den Major aufzulehnen – als der langen und stürmischen Unterredung in der einfachsten Weise ein Ende bereitet wurde – nämlich durch die Ankunft von Mrs. Becky in Begleitung eines Hausknechts vom »Elefanten«, der ihr mageres Gepäck trug.

Sie begrüßte ihren Gastgeber mit wohlwollender Höflichkeit und begrüßte Major Dobbin freundschaftlich, aber zurückhaltend. Ihr Instinkt sagte ihr sofort, daß er ihr Feind sei und gegen sie gesprochen habe. Die mit ihrer Ankunft verbundene lärmende Geschäftigkeit rief Amelia aus ihrem Zimmer hervor. Sie kam herbei und umarmte ihren Gast mit großer Wärme. Von dem Major nahm sie weiter keine Notiz. Sie warf ihm nur einen zornigen Blick zu – wahrscheinlich den ungerechtesten und verächtlichsten Blick, der seit ihrer Geburt auf dem Gesicht der armen kleinen Frau erschienen war. Sie hatte dazu jedoch ihre geheimen Gründe und hatte sich vorgenommen, auf ihn zornig zu sein. Dobbin dagegen, aufgebracht nicht über seine Niederlage, sondern über ihre Ungerechtigkeit, entfernte sich mit einer Verbeugung, die ebenso hochmütig war wie der Knicks, mit dem die kleine Frau ihn verabschiedete.

Nachdem er fort war, war Emmy besonders munter und liebevoll zu Rebekka. Sie machte sich in der Wohnung zu schaffen und richtete das Zimmer für ihren Gast mit einer Geschäftigkeit, die man bei unserer ruhigen kleinen Freundin sonst selten bemerkte. Wenn aber schon eine Ungerechtigkeit verübt werden soll, besonders von schwachen Menschen, dann sollte sie am besten schnell getan werden, und Emmy glaubte, ihr gegenwärtiges Benehmen beweise große Standhaftigkeit, schöne Gefühle und Verehrung für das Andenken des seligen Hauptmanns Osborne.

Georgy kam zum Essen von den Festlichkeiten nach Hause und fand vier Gedecke wie gewöhnlich, aber den einen Platz nahm eine Dame ein statt Major Dobbin. »Holla, wo ist Dob?« fragte der junge Herr in seiner gewöhnlichen schlichten Sprechweise. »Ich nehme an, Major Dobbin speist auswärts«, sagte seine Mutter. Sie zog den Knaben an sich, bedeckte ihn mit Küssen, strich ihm das Haar aus der Stirn und stellte ihn Mrs. Crawley vor. »Dies ist mein Junge, Rebekka«, sagte Mrs. Osborne. Was soviel heißen sollte wie: Gibt es auf der ganzen Welt noch einen wie diesen? Becky blickte ihn entzückt an und drückte ihm zärtlich die Hand. »Der liebe Junge«, sagte sie. »Er ist gerade wie mein...« Ihre Erregung erstickte jedes weitere Wort, aber Amelia verstand so gut, als ob sie selbst gesprochen hätte, daß Becky an ihr eigenes teures Kind dachte. Die Gesellschaft ihrer Freundin tröstete Mrs. Crawley jedoch, und sie aß mit gutem Appetit.

Während des Mahles sprach sie verschiedentlich, und jedesmal blickte Georgy sie scharf an und lauschte ihrer Stimme. Beim Dessert ging Emmy einmal hinaus, um weitere Haushaltsanordnungen zu treffen. Joseph saß in seinem Lehnstuhl und döste über dem »Galignani«, und Georgy und der Neuankömmling saßen nebeneinander. Er hatte sie mehrere Male mit wissender Miene angesehen, und schließlich legte er den Nußknacker nieder.

»Hören Sie mal!« sagte Georgy.

»Was willst du sagen?« fragte Becky lachend.

»Sie sind die Dame mit der Maske, die ich beim Rouge et noir gesehen habe.«

»Pst, du kleiner Schlauberger«, sagte Becky, ergriff seine Hand und küßte sie. »Dein Onkel ist ja auch dort gewesen, aber Mama braucht es nicht zu wissen.«

»O nein, auf keinen Fall!« erwiderte der kleine Bursche.

»Du siehst, wir sind bereits gute Freunde«, sagte Rebekka zu Emmy, die gerade wieder hereinkam. Wir müssen schon sagen, daß Mrs. Osborne eine verständige und reizende Genossin in ihrem Haus aufgenommen hatte.

William durchstreifte die Stadt in wilder Aufregung kreuz und quer, obwohl ihm der bevorstehende Verrat noch unbekannt war, bis er auf den Gesandtschaftssekretär Tapeworm stieß, der ihn zum Essen einlud. Während des Essens benutzte er die Gelegenheit, den Sekretär zu fragen, ob er etwas über eine gewisse Mrs. Rawdon Crawley wisse, die seines Erachtens in London einigen Staub aufgewirbelt habe. Tapeworm, der natürlich allen Londoner Klatsch kannte und außerdem ein Verwandter von Lady Gaunt war, erzählte nun dem erstaunten Major eine Geschichte von Becky und ihrem Mann, daß dem Frager der Mund vor Erstaunen offenblieb und der gegenwärtige Geschichtenschreiber alle Einzelheiten für seine Erzählung erfuhr, denn an dieser Tafel hatte der Verfasser vor vielen Jahren die Freude, die Geschichte zu hören. Tufto, Steyne, die Crawleys und ihre Geschichte – alles, was Becky und ihr früheres Leben betraf, tischte der unfreundliche Diplomat auf. Er wußte alles und noch viel mehr von der Welt – mit einem Wort, er machte dem guten Major die überraschendsten Enthüllungen. Als Dobbin erzählte, daß Mrs. Osborne und Mr. Sedley sie ins Haus genommen hätten, brach er in ein Gelächter aus, das den Major sehr erschreckte, und fragte, ob sie nicht lieber nach dem Gefängnis schicken und ein paar von den Herren mit den geschorenen Köpfen und gelben Jacken, die paarweise zusammengekettet die Straßen von Pumpernickel kehrten, in Kost und Logis aufnehmen und als Hauslehrer für den kleinen Taugenichts Georgy anstellen wollten.

Diese Nachricht nahm der Major mit staunendem Entsetzen auf. Am Morgen (vor dem Zusammentreffen mit Rebekka) war beschlossen worden, daß Amelia an diesem Abend zum Hofball gehen sollte. Dobbin glaubte, das werde der geeignete Ort sein, um ihr alles zu sagen. Er ging also nach Hause, legte seine Uniform an und begab sich, in der Hoffnung, Mrs. Osborne zu sehen, zum Hof. Sie erschien nicht. Als er in seine Wohnung zurückkehrte, war schon alles Licht im Sedleyschen Haus verlöscht. Er konnte sie also erst am nächsten Morgen sprechen. Ich weiß nicht, wie seine Nachtruhe mit diesem furchtbaren Geheimnis als Bettgenossen war.

So früh es der Anstand erlaubte, schickte er am nächsten Morgen seinen Diener mit einem Billett hinüber, in dem er ihr schrieb, daß er Wichtiges mit ihr zu besprechen habe. Als Antwort erhielt er die Botschaft, daß Mrs. Osborne sich nicht wohl fühle und ihr Zimmer hüte.

Auch sie hatte die ganze Nacht über wach gelegen. Sie hatte sich mit einem Gedanken beschäftigt, der ihr Gemüt schon hundertmal erregt hatte. Schon hundertmal auf dem Punkt, nachzugeben, war sie doch stets wieder vor einem Opfer zurückgewichen, das nach ihrem Gefühl zu groß für sie war. Sie konnte einfach nicht, trotz seiner Liebe und Treue und ihrer eigenen anerkannten Neigung, Achtung und Dankbarkeit. Was sind schon Wohltaten, Treue und Verdienste? Eine einzige Locke vom Haar eines Mädchens, ein einziges Barthaar gibt sofort den Ausschlag gegen sie. Bei Emmy wogen die drei Dinge ebensoviel wie bei anderen Frauen. Sie hatte sie ausprobiert, hatte versucht, sie gelten zu lassen. Es ging nicht, und nun hatte die unbarmherzige kleine Frau einen Vorwand gefunden und beschlossen, frei zu bleiben.

Als am Nachmittag der Major endlich Zutritt zu Amelia erhielt, empfing er statt des herzlichen, liebevollen Grußes, an den er jetzt seit langem gewöhnt war, einen Knicks und eine kleine behandschuhte Hand, die sich nach der Begrüßung augenblicklich wieder zurückzog.

Rebekka befand sich ebenfalls im Zimmer und ging ihm lächelnd mit ausgestreckter Hand entgegen. Dobbin trat etwas verwirrt zurück. »Ich – ich bitte um Verzeihung, Madame«, sagte er. »Aber ich muß Ihnen leider sagen, daß ich nicht als Ihr Freund hierhergekommen bin.«

»Dummes Zeug, verdammt noch mal, komm doch jetzt nicht mit so was!« rief Joseph unruhig, in dem Verlangen, eine Szene zu vermeiden.

»Ich möchte wissen, was Major Dobbin gegen Rebekka vorzubringen hat«, sprach Amelia mit leiser, deutlicher, etwas zitternder Stimme und entschlossenem Blick.

»Ich will in meinem Haus nichts davon hören«, sagte Joseph. »Ich wiederhole, ich will nichts davon hören, und Dobbin – ich bitte dich, hör auf damit.« Er blickte sich zitternd um, wurde sehr rot und ging schnaufend zur Tür.

»Lieber Freund«, sagte Rebekka mit engelhafter Milde, »hören Sie doch, was Major Dobbin gegen mich vorzubringen hat.«

»Ich will es nicht hören!« kreischte Joseph in den höchsten Tönen, raffte seinen Schlafrock und verließ das Zimmer.

»Wir sind nur zwei Frauen«, meinte Amelia. »Sie können jetzt sprechen, Sir!«

»Dieses Benehmen gegen mich kommt Ihnen kaum zu, Amelia«, antwortete der Major hochmütig. »Ich glaube auch nicht, mich je einer Unhöflichkeit gegenüber Frauen schuldig gemacht zu haben. Es ist nicht angenehm für mich, mich der Pflicht zu entledigen, derentwegen ich hierherkam.«

»Ich bitte Sie, schnell damit fertig zu werden, Major Dobbin«, sagte Amelia, die immer ärgerlicher wurde. Wenn sie so herrisch sprach, war Dobbins Gesichtsausdruck nicht sehr angenehm.

»Ich komme, um zu sagen – und da Sie bleiben, Mrs. Crawley, muß ich es in Ihrer Gegenwart sagen –, daß Sie meiner Ansicht nach sich nicht in die Familie meiner Freunde drängen sollten. Eine Dame, die von ihrem Mann geschieden ist, die unter falschem Namen reist, die öffentliche Spiellokale besucht...«

»Ich war doch beim Ball!« rief Becky.

»...ist keine passende Gesellschaft für Mrs. Osborne und ihren Sohn«, fuhr Dobbin fort. »Und ich kann hinzufügen, daß es hier Leute gibt, die Sie kennen und über Sie Sachen wissen, die ich vor – vor Mrs. Osborne nicht einmal erwähnen möchte.«

»Ihre Anschuldigungen, Major Dobbin, sind sehr bescheiden und schicklich«, sagte Rebekka. »Sie lassen mich unter der Wucht einer Anklage, die nach alledem nicht einmal ausgesprochen wird. Was ist es? – Ist es Untreue gegenüber meinem Mann? Ich verachte es und möchte den sehen, der etwas beweisen kann, ja, das möchte ich. Meine Ehre ist makellos wie die des bittersten Feindes, der mich je verleumdet hat. Klagen Sie mich der Armut, Verlassenheit und des Elends an? – Ja, dieser Vergehen bin ich schuldig und werde täglich dafür bestraft. Laß mich gehen, Emmy. Ich brauche bloß anzunehmen, daß ich dich nicht getroffen hätte, dann geht es mir heute nicht schlimmer als gestern. Ich muß mir nur vorstellen, daß die Nacht vorüber und der arme Wanderer wieder unterwegs ist. Erinnerst du dich noch an das Lied, das wir in der alten, in der guten alten Zeit gesungen haben? Ich bin seitdem stets auf der Wanderschaft gewesen – eine arme Ausgestoßene, verachtet wegen ihres Elends, beleidigt wegen ihrer Einsamkeit. Laß mich gehen; mein Aufenthalt in diesem Haus stört die Pläne dieses Herrn.«

»Jawohl, das stimmt, Madame«, sagte der Major. »Wenn ich in diesem Haus auch nur etwas zu sagen habe...«

»Zu sagen habe? Nichts!« stieß Amelia hervor. »Rebekka, du bleibst. Ich werde dich nicht allein lassen, weil du verfolgt bist, und dich nicht verletzen, weil – weil Major Dobbin es tut. Komm, meine Liebe!« Und die beiden Frauen wandten sich zur Tür.

William öffnete ihnen. Als sie hinausgingen, ergriff er jedoch Amelias Hand und sagte: »Wollen Sie noch einen Augenblick bleiben und mich anhören?«

»Er will allein mit dir sprechen«, sagte Becky mit Märtyrermiene. Amelia drückte ihr zur Antwort die Hand.

»Auf meine Ehre, ich will nicht über Sie sprechen«, sagte Dobbin. »Kommen Sie zurück, Amelia.« Und sie kam. Dobbin verbeugte sich gegen Mrs. Crawley, als er die Tür hinter ihr schloß. Amelia lehnte am Spiegel und blickte ihn an; Gesicht und Lippen waren sehr blaß.

»Ich war etwas durcheinander, als ich eben sprach«, sagte der Major nach einer Pause. »Ich habe es falsch ausgedrückt, als ich eben davon sprach, wer in diesem Haus etwas zu sagen hat.«

»Ja, das haben Sie«, sagte Amelia zähneklappernd.

»Zumindest habe ich Anspruch darauf, daß man mich anhört«, fuhr Dobbin fort.

»Es ist sehr großzügig, mich daran zu erinnern, wie wir Ihnen verpflichtet sind«, erwiderte die Frau.

»Der Anspruch, den ich meine, wurde mir von Georges Vater hinterlassen«, sagte William.

»Ja, und Sie haben sein Andenken beleidigt. Gestern haben Sie es getan. Das wissen Sie. Und ich werde Ihnen nie verzeihen. Niemals!« rief Amelia. Jedes Wort schoß sie bebend vor Zorn und Erregung hervor.

»Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Amelia?« fragte William trübe. »Sie meinen doch nicht, daß diese in Übereilung geäußerten Worte ein ganzes Leben voller Hingabe aufwiegen können? Ich glaube, ich habe Georges Andenken so, wie ich gesprochen habe, nicht beleidigt, und wenn wir Vorwürfe miteinander austauschen wollen, so verdiene ich zumindest keine von seiner Witwe und der Mutter seines Sohnes. Denken Sie darüber nach, später, wenn – wenn Sie Zeit haben, und Ihr Gewissen wird diese Anklage zurückziehen. Das tut es übrigens schon jetzt.« Amelia senkte den Kopf.

»Es sind nicht die gestrigen Worte«, fuhr er fort, »die Sie dazu veranlassen. Das ist bloß ein Vorwand, Amelia, oder ich habe Sie fünfzehn Jahre lang umsonst geliebt und beobachtet. Habe ich nicht in dieser Zeit gelernt, in Ihren Gefühlen und Gedanken zu lesen? Ich weiß, wozu Ihr Herz fähig ist; es kann sich treu an eine Erinnerung hängen und ein Phantasiegebilde hegen, kann aber nicht die Neigung fühlen, mit der meine erwidert zu werden verdient und die ich von einer großherzigen Frau auch erlangt hätte. Nein, Sie verdienen die Liebe nicht, die ich Ihnen geweiht habe. Ich weiß schon lange, daß der Preis, auf den ich mein Leben gesetzt habe, des Gewinnes nicht wert war, daß ich ein Tor war, als ich mit liebevoller Einbildung meine ganze Treue und glühende Leidenschaft gegen Ihr schwaches Restchen Liebe eintauschte. Mein Handel ist beendet, ich ziehe mich zurück. Ich tadle Sie nicht, Sie sind sehr gutmütig und haben Ihr Bestes getan, aber Sie konnten – Sie konnten sich nicht zu den Höhen der Liebe aufschwingen, die ich Ihnen entgegengebracht und die eine erhabenere Seele als Ihre zu erwidern wohl stolz gewesen wäre. Leben Sie wohl, Amelia! Ich habe Ihren Kampf beobachtet. Beenden Sie ihn. Wir sind beide seiner müde.«

Amelia stand niedergeschlagen und schweigend da, als William so plötzlich die Kette zerriß, an der sie ihn festhielt, und seine Unabhängigkeit und Überlegenheit erklärte. Er hatte so lange zu ihren Füßen gelegen, daß sich die arme kleine Frau daran gewöhnt hatte, auf ihm herumzutreten. Sie wollte ihn zwar nicht heiraten, aber festhalten wollte sie ihn. Sie wollte ihm nichts geben, aber sie wollte, daß er ihr alles gab. Dies ist ein Handel, wie er in der Liebe nicht selten vorkommt.

Williams Ausbruch hatte sie völlig geschlagen und zerschmettert. Ihr Angriff war schon längst vorüber und zurückgeschlagen.

»Muß ich aus Ihren Worten entnehmen – daß Sie weg –gehen – William?« fragte sie.

Er lachte traurig auf. »Ich bin schon einmal fortgegangen«, sagte er, »und nach zwölf Jahren zurückgekommen. Wir waren damals jung, Amelia. Leben Sie wohl! Ich habe genug von meinem Leben für dieses Spiel geopfert.«

Während sie sprachen, hatte sich die Tür von Mrs. Osbornes Zimmer ein wenig geöffnet, denn Rebekka hatte die Klinke in der Hand behalten und in dem Augenblick, als Dobbin sie losließ, herumgedreht. Nun hörte sie jedes Wort von der Unterhaltung zwischen den beiden. Was für ein edles Herz hat doch dieser Mann, dachte sie, und wie schändlich die Frau damit spielt. Sie bewunderte Dobbin, sie hegte keinen Groll gegen ihn wegen der Rolle, die er gegen sie gespielt hatte. Er hatte offen und ehrlich gespielt. Ach! dachte sie, wenn ich doch auch solch einen Mann gehabt hätte – einen Mann mit Herz und Verstand. Dann hätte ich auch nichts gegen seine großen Füße gesagt. Sie eilte auf ihr Zimmer, überlegte etwas und schrieb ihm ein Billett, worin sie ihn ersuchte, noch ein paar Tage zu bleiben und noch nicht ans Weggehen zu denken. Sie könne ihm in bezug auf Amelia behilflich sein.

Der Abschied war vorüber. Wieder ging der arme William zur Tür und war fort. Die kleine Witwe, die Urheberin des Ganzen, hatte ihren Willen durchgesetzt, den Sieg errungen und konnte sich nun nach Herzenslust daran freuen. Mögen die Damen sie um ihren Triumph beneiden.

Zur romantischen Essensstunde erschien Mr. Georgy und bemerkte wiederum die Abwesenheit des »alten Dob«. Die Gesellschaft nahm das Mahl schweigend ein, Josephs Appetit hatte nicht gelitten, aber Emmy rührte nichts an.

Nach dem Essen lehnte sich George auf einem Kissen in das alte Fenster, ein großes Erkerfenster, das auf einer Seite den Marktplatz mit dem »Elefanten« überschaute und gegenüber »die andere Seite der Goswell Street«, wie das unsterbliche Fenster des Mr. Pickwick. Georgy sah also hinaus, während sich seine Mutter dicht neben ihm zu schaffen machte, und plötzlich bemerkte er Zeichen einer Bewegung im Hause des Majors.

»Holla!« rief er. »Das ist ja Dobbins Mausefalle – sie holen sie aus dem Hof heraus.« Die besagte »Mausefalle« war ein Wagen, den der Major für sechs Pfund gekauft hatte und dessentwegen man ihn allenthalben aufzog.

Emmy fuhr ein wenig zusammen, sagte aber nichts.

»Holla!« fuhr George fort. »Da kommt ja Francis mit den Reisetaschen heraus, und Kunz, der einäugige Postillion, kommt mit drei Schimmeln über den Markt. Seht nur mal seine Stiefel und die gelbe Jacke; ist er nicht ein komischer Kauz? – Aber was denn – die spannen die Pferde ja vor Dobs Wagen. Verreist er denn?«

»Ja«, antwortete Emmy. »Er fährt weg.«

»Aha, und wann kommt er zurück?«

»Er kommt – nicht zurück!« antwortete Emmy.

»Kommt nicht zurück?« schrie Georgy und sprang auf. »Bleib hier!« rief Joseph. »Bleib, Georgy!« sagte seine Mutter mit sehr traurigem Gesicht. Der Knabe blieb, lief im Zimmer umher, kniete sich auf das Fensterbrett, sprang wieder herunter und zeigte alle Symptome von Unruhe und Neugier.

Die Pferde waren angespannt, das Gepäck festgeschnallt. Francis kam mit dem Degen seines Herrn und dem zusammengebundenen Stock und Schirm und steckte sie in das Flaschenfutter und mit seinem Schreibpult und der alten zinnernen Dreispitzschachtel, die er unter den Sitz stellte. Francis brachte auch den mit rotem Wollstoff gefütterten, fleckigen blauen Mantel heraus, der den Besitzer seit fünfzehn Jahren stets umhüllt und »so manchen Sturm erlebt« hatte, wie es in einem bekannten Lied jener Tage heißt. Er war vor der Schlacht bei Waterloo neu gewesen und hatte ihn und George in der Nacht nach Quatre-Bras zugedeckt.

Der alte Burcke, der Hauswirt, kam heraus, dann Francis mit mehr Gepäck – dem letzten –, dann Major William selbst. Burcke wollte ihn küssen. Alle Leute, mit denen der Major zu tun hatte, vergötterten ihn, und er konnte sich nur schwer diesen Liebesbeweisen entziehen.

»Beim Zeus, ich will gehen!« schrie George. »Bring ihm das«, sagte Becky teilnahmsvoll und gab dem Knaben einen Zettel in die Hand. Binnen einer Minute war er die Treppe hinabgestürzt und über die Straße geeilt. Der gelbe Postillion knallte leise mit der Peitsche.

William war von den Umarmungen seines Wirtes losgekommen und in den Wagen gestiegen. George sprang nach und schlang die Arme um den Hals des Majors (das konnten sie vom Fenster aus beobachten) und stellte ihm Fragen über Fragen. Dann faßte er in die Westentasche und gab ihm das Billett. William griff begierig danach und öffnete es zitternd. Aber sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck, er zerriß das Papier und ließ es aus dem Wagen flattern. Er küßte Georgy auf das Haar, und der Knabe stieg mit Francis' Hilfe aus, beide Fäuste vor die Augen gepreßt. Zögernd hielt er sich noch mit einer Hand am Schlag fest. »Fort, Schwager!« Der gelbe Postillion knallte ungestüm mit der Peitsche, Francis sprang auf den Bock, die Schimmel zogen an, und Dobbin ließ den Kopf auf die Brust sinken. Er blickte nicht auf, als sie unter Amelias Fenster vorbeikamen, und Georgy, allein auf der Straße zurückgeblieben, brach vor der versammelten Menge in Tränen aus.

Emmys Zofe hörte ihn in der Nacht erneut schluchzen und brachte ihm eingemachte Aprikosen, um ihn zu trösten. Sie vermischte ihre Klagen mit seinen. Alle armen, alle niedrigen, alle ehrlichen Leute, alle guten Menschen, die ihn kannten, liebten den freundlichen, schlichten Herrn.

Und Emmy? Hatte sie nicht ihre Pflicht getan? Sie konnte sich ja mit ihrem Bild von George trösten.


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