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Nach den obenerwähnten Alltagsbegebenheiten waren ein paar Wochen vergangen. Das Parlament hatte Ferien, der Sommer war schon vorgerückt, und die bessere Gesellschaft Londons stand im Begriff, die Stadt zu verlassen und ihre jährliche Reise zum Vergnügen oder zur Erholung anzutreten. Eines schönen Morgens verließ der Dampfer »Batavier« mit einer zahlreichen Gesellschaft von Englandflüchtigen die Anlegestelle bei den Tower Stairs. Das Zelt über dem Achterdeck war gespannt, und auf den Bänken und in den Gangways tummelten sich Dutzende rosiger Kinder, geschäftige Kindermädchen, Damen in den hübschesten rosa Hauben und Sommerkleidern, Herren in Reisemützen und Leinenjacken und mit Schnurrbärten, die für die bevorstehende Tour gerade zu keimen anfingen, und mit gestärkten Halstüchern und säuberlich gebürsteten Hüten, dicke, nette, alte Veteranen, wie sie Europa seit Ende des letzten Krieges überschwemmten, um ihren Nationalpatriotismus in jede Stadt des Kontinents zu tragen. Die Ansammlung von Hutschachteln, verschließbaren Schreibpulten und Toilettenkästen war ungeheuer. Da waren elegante junge Studenten von Cambridge, die mit ihrem Tutor eine Studienreise nach Nonnenwerth oder Königswinter antraten. Da waren irische Herren mit prächtigen Backenbärten und Juwelen, die ununterbrochen von Pferden sprachen und ungeheuer höflich gegenüber den jungen Damen an Bord waren, die wiederum mit mädchenhafter Scham die Cambridger und ihren bleichgesichtigen Tutor mieden. Da waren Müßiggänger von der Pall Mall, die nach Ems oder Wiesbaden zu einer Brunnenkur fuhren, um die Diners der Saison hinwegzuspülen, und zu einem Spielchen Roulette oder Rot und Schwarz, um den Kreislauf zu beleben. Da war der alte Methusalem, der eine junge Frau geheiratet hatte, und Hauptmann Papillon von der Garde, der ihren Sonnenschirm und ihre Reiseführer trug. Da war der junge May, der mit seiner jungen Frau eine Vergnügungsreise machte (sie war eine ehemalige Mrs. Winter und mit Mays Großmutter zur Schule gegangen). Da waren Sir John und seine Lady mit einem Dutzend Kindern und den entsprechenden Kindermädchen, und da war die zahlreiche adlige Familie Bareacres, die ganz für sich in der Nähe des Steuerrades saß, alle anstarrte und mit niemandem sprach. Ihre Wagen mit den Grafenkronen, auf denen sich glänzende Gepäckkästen häuften, standen eingezwängt zwischen einem Dutzend anderer derartiger Fahrzeuge, so daß es schwer war, an sie heranzukommen, und die armen Insassen der Vorderdeckkabinen sich kaum rühren konnten. Dort wohnten einige prächtig gekleidete Herren aus Houndsditch, die ihren eigenen Proviant mitbrachten, doch die Hälfte der lustigen Menschen im großen Salon hätten auskaufen können; dann ein paar ehrliche Burschen mit Schnurrbärten und Mappen, die sich ans Skizzieren machten, noch ehe sie eine halbe Stunde an Bord waren. Es wohnten dort auch einige französische Zofen, die schon schrecklich seekrank waren, ehe der Dampfer Greenwich passiert hatte, und weiterhin zwei, drei Reitknechte, die sich in der Nähe der ihnen anvertrauten Pferde umhertrieben oder neben den Schaufelrädern über die Reling lehnten und besprachen, wer wohl beim Sankt-Leger-Pferderennen starten dürfe und was man beim Goodwood-Pokal gewinnen oder verlieren könnte.
Nachdem die Reisediener auf dem Schiff herumgeklettert waren und ihre verschiedenen Herren in den Kajüten oder auf dem Deck untergebracht hatten, versammelten sie sich und begannen zu schwatzen und zu rauchen. Die hebräischen Herren gesellten sich zu ihnen und sahen sich die Wagen an. Darunter befand sich Sir Johns große Kutsche, die dreizehn Personen aufnehmen konnte, Lord Methusalems Kutsche, drei verschiedene Wagen von Lord Bareacres, die bezahlen mochte, wer Lust hatte. Es war nur ein Wunder, wo Mylord das Bargeld hernahm, um seine Reisekosten zu bestreiten. Die hebräischen Herren wußten, wie er dazu gekommen war. Sie wußten, wieviel Geld der Lord in diesem Augenblick in der Tasche hatte und wieviel Zinsen er dafür bezahlte und wer es ihm gegeben hatte. Schließlich befand sich unter den Kutschen auch ein sehr hübscher Reisewagen, über den die Herren ihre Vermutungen austauschten.
»A qui cette voiture là?« fragte ein herrschaftlicher Diener mit einer großen Saffiangeldtasche und Ohrringen einen anderen, ebenfalls mit Ohrringen und einer großen Saffiangeldtasche.
»C'est à Kirsch je bense – je l'ai vu tout à l'heure – qui brenalt des sangviches dans la voiture«, erwiderte dieser im schönsten Sächsisch-Französisch.
Kirsch tauchte kurz darauf aus dem Schiffsraum auf, wo er den Matrosen, die das Reisegepäck verstauten, mit vielsprachigen Flüchen gewürzte Instruktionen gegeben hatte. Er gab nun seinen Dolmetscherkollegen selbst einen Bericht. Er sagte ihnen, der Wagen gehöre einem ungeheuer reichen Nabob aus Kalkutta und Jamaika, der ihn für die Reise angestellt habe. In diesem Augenblick erweckte ein junger Herr ihre Aufmerksamkeit. Er war von der Brücke zwischen den Schaufelrädern vertrieben worden und hatte sich von dort auf das Verdeck von Lord Methusalems Wagen herabgelassen. Von da aus kletterte er über die anderen Wagen und Gepäckkästen, bis er sich auf seine eigene Kutsche geschwungen hatte, und nun stieg er unter dem Beifall der zuschauenden Diener durch das Fenster in das Wageninnere.
»Nous allons avoir une belle traversée, Monsieur George«, sagte der Kurier mit einem Grinsen und lüftete seine goldbetreßte Mütze.
»Zum Teufel mit Ihrem Französisch«, erwiderte der junge Herr. »Wo ist denn der Zwieback, he?«, worauf ihm Kirsch auf englisch, oder jedenfalls in einer Nachahmung dieser Sprache, wie er gerade dazu fähig war, antwortete. Denn wenn Herr Kirsch auch mit allen Sprachen vertraut war, so beherrschte er doch keine einzige und sprach alle gleich geläufig und fehlerhaft.
Der herrschsüchtige junge Gentleman, der an seinen Zwiebäcken kaute (es war tatsächlich höchste Zeit, daß er sich etwas erquickte, denn er hatte vor nunmehr drei langen Stunden in Richmond gefrühstückt), war unser junger Freund George Osborne. Onkel Joseph und seine Mama saßen auf dem Achterdeck zusammen mit einem Herrn, den sie sehr häufig um sich hatten, und die vier hatten gerade eine Sommerreise angetreten.
Joseph saß in diesem Augenblick an Deck unter dem Zelt und ganz nahe dem Grafen Bareacres und seiner Familie, deren Tun und Treiben die Aufmerksamkeit des Bengalen fast völlig in Anspruch nahm. Das edle Paar sah bedeutend jünger aus als in dem ereignisreichen Jahre 1815, als Joseph sie in Brüssel gesehen hatte. (In Indien hatte er stets erzählt, er sei eng mit der Familie befreundet.) Lady Bareacres' Haar, damals dunkel, hatte jetzt eine schöne goldbraune Farbe, und Lord Bareacres' Backenbart, früher rot, war gegenwärtig schön schwarz und schimmerte purpurn und grün im Licht. Aber bei allen Veränderungen beschäftigte Joseph das Tun und Treiben des edlen Paares stark. Die Gegenwart eines Lords hielt ihn gefangen, und er konnte seine Blicke nicht abwenden.
»Die Leute dort scheinen dich sehr zu interessieren«, meinte Dobbin, der ihn beobachtet hatte, lachend. Amelia lachte ebenfalls. Sie trug einen Strohhut mit schwarzen Bändern und war auch sonst in Trauer, aber die harmlose Geschäftigkeit und die Ferienstimmung während der Reise gefielen ihr und regten sie an, und sie sah sehr glücklich aus.
»Was für ein himmlischer Tag!« sagte Emmy und fügte etwas naiv hinzu: »Ich hoffe, wir werden eine ruhige Überfahrt haben.«
Joseph winkte verächtlich ab und warf einen verstohlenen Blick auf die vornehmen Leute ihm gegenüber. »Wenn du solche Seereisen mitgemacht hättest wie wir«, antwortete er, »dann würdest du dich nicht um das Wetter sorgen.« Aber trotz seiner großen Erfahrungen als Seereisender verbrachte er die Nacht, entsetzlich krank, in seinem Wagen, und sein Diener mußte ihn mit Kognak, Grog und anderen Delikatessen pflegen.
Zur festgesetzten Zeit landete die glückliche Gesellschaft im Hafen von Rotterdam, und von dort brachte sie ein anderer Dampfer nach Köln. Hier wurden Wagen und Familie an Land gebracht, und Joseph fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, seine Ankunft in den Kölner Zeitungen als »Herr Graf Lord von Sedley nebst Begleitung aus London« angezeigt zu sehen. Er hatte seinen Galaanzug mitgebracht und darauf bestanden, daß auch Dobbin seine Offiziersutensilien mitnehmen sollte. Er erklärte, er habe die Absicht, sich an einigen ausländischen Höfen vorstellen zu lassen und den Herrschern der Länder, die er mit seinem Besuch beehrte, seine Aufwartung zu machen.
Wo immer die Gesellschaft Aufenthalt hatte und sich eine Gelegenheit bot, gab Joseph seine und des Majors Visitenkarte bei »unserem Gesandten« ab. Es gelang nur mit großer Mühe, ihn davon abzubringen, dem englischen Botschafter in der Freien Stadt Judenstadt in Dreispitz und engen Beinkleidern seine Aufwartung zu machen, als dieser gastfreundliche Beamte unsere Reisenden zum Diner lud. Er schrieb ein Reisetagebuch, in dem er die Mängel oder Vorzüge der verschiedenen Gasthäuser, in denen er abstieg, und der Weine und Gerichte, die er genoß, sorgfältig aufzeichnete.
Emmy war sehr glücklich und vergnügt. Dobbin trug stets ihren Malerstuhl und ihr Skizzenbuch und bewunderte die Zeichnungen der gutmütigen kleinen Künstlerin, wie sie noch niemals bewundert worden waren. Sie saß auf Dampferdecks und zeichnete Felsen und Schlösser, oder sie bestieg Esel und ritt zu alten Raubritterburgen hinauf, und stets wurde sie von ihren beiden Adjutanten, Georgy und Dobbin, begleitet. Sie lachte über die drollige Figur, die der Major auf dem Esel abgab, wenn seine langen Beine die Erde berührten, und er stimmte ein. Er spielte den Dolmetscher für die Gesellschaft, da er vom Militär her gut Deutsch konnte, und kämpfte mit dem begeisterten George noch einmal die Feldzüge am Rhein und in der Pfalz. Im Laufe weniger Wochen machte Georgy durch beharrliche Unterhaltung mit Herrn Kirsch auf dem Kutschbock große Fortschritte im Deutschen, und er sprach mit den Kellnern und Postillionen in einer Weise, die seine Mutter entzückte und seinen Vormund amüsierte.
Joseph nahm an den Nachmittagsausflügen seiner Reisegefährten kaum teil. Nach dem Essen schlief er viel oder sonnte sich in den schönen Wirtshausgärten. Oh, die herrlichen Rheingärten. Liebliche Bilder des Friedens und Sonnenscheins! Ihr majestätischen rotglühenden Berge, deren Gipfel sich in dem prächtigen Strom spiegeln – wer hat euch je gesehen und bewahrte nicht ein dankbares Andenken an diese Szenen freundlicher Ruhe und Harmonie? Die Feder niederzulegen und nur an das schöne Rheinland zu denken macht schon glücklich. An diesen Sommerabenden kommen die Kühe in Scharen mit Gebrüll und Glockengeschepper von den Bergen in die alte Stadt mit ihren alten Gräben und Toren und Türmen und den Kastanienbäumen, die lange blaue Schatten über das Gras werfen. Der Himmel und der Fluß zu unseren Füßen flammen goldrot, und der Mond steht bereits am Himmel und blickt blaß auf den Sonnenuntergang. Die Sonne versinkt hinter den hohen burggekrönten Bergen, und plötzlich bricht die Nacht herein; der Fluß wird dunkler und dunkler, Lichterschein aus den Fenstern in den alten Wällen fällt zitternd aufs Wasser, und friedliches Licht schimmert auch in den Dörfern am Fuße des Berges am anderen Ufer.
Joseph schlief also viel, sein indisches Taschentuch über das Gesicht gebreitet, und ließ es sich gut gehen. Er las alle Neuigkeiten aus England und jedes Wort in Galignanis bewundernswerter Zeitschrift (möge der Segen aller Engländer, die je im Ausland gewesen sind, mit den Gründern und Eigentümern dieses Raubdrucks sein!). Er wurde weder wach noch schlafend von seinen Freunden sehr vermißt. Ja, sie waren sehr glücklich. Abends gingen sie oft in die Oper – in die schmucken, anspruchslosen lieben alten Opernhäuser in den deutschen Städten, wo auf der einen Seite der Adel weinend und strümpfestrickend sitzt und die Bürgerschaft auf der anderen und wo Seine Durchlaucht der Herzog und die durchlauchtige Familie, alle sehr dick und gutmütig, die große Loge in der Mitte einnehmen und wo das Parkett voll ist von den elegantesten Offizieren mit schlanker Taille und strohgelben Schnurrbärten und einer Tagesgage von siebzehn Pfennig bei vollem Sold. Die Oper bereitete Emmy besonderes Entzücken, und hier wurde sie zum erstenmal in die Wunderwelt Mozarts und Cimarosas eingeweiht. Wir haben schon früher die Vorliebe des Majors für die Musik erwähnt und sein Flötenspiel gerühmt. Sein größtes Vergnügen in der Oper bestand jedoch darin, zu beobachten, wie Emmy von den Klängen hingerissen wurde. Eine neue Welt der Liebe und Schönheit brach über sie herein, als sie diesen göttlichen Kompositionen lauschte. Sie besaß ein feines, empfindliches Gefühl, wie konnte sie daher gleichgültig bleiben, wenn sie Mozart hörte? Die zärtlichen Stellen im »Don Giovanni« riefen eine so heftige Begeisterung in ihr hervor, daß sie sich beim Abendgebet fragte, ob es nicht gottlos sei, so viel Freude zu spüren, wie sie »Vedrai carino« und »Batti, batti« in ihrem sanften kleinen Herzen erweckten. Der Major, den sie als ihren theologischen Ratgeber darüber befragte und der selbst eine fromme und ergebene Seele besaß, erklärte ihr jedoch, daß ihn selbst alles Schöne in der Kunst und in der Natur dankbar und glücklich mache und daß das Vergnügen, das wir empfinden, wenn wir gute Musik hören, die Sterne am Himmel betrachten oder eine schöne Landschaft oder ein wertvolles Bild, eine Gnade sei, für die wir dem Himmel ebenso dankbar sein müßten wie für jede andere weltliche Segnung. Mrs. Amelia erhob einige schwache Einwände, die aus gewissen theologischen Werken wie die »Apfelfrau von Finchley« und anderen dieser Geistesrichtung stammten, mit denen sie während ihres Lebens in Brompton versorgt worden war. Als Antwort erzählte ihr der Major die orientalische Fabel von der Eule, die glaubte, der Sonnenschein sei unerträglich für die Augen und die Nachtigall werde von allen überschätzt. »Es liegt eben in der Natur des einen, zu singen, und in der des anderen, zu heulen«, sagte er lachend. »Bei der süßen Stimme, die Sie selbst haben, müssen Sie ja zur Partei der Nachtigallen gehören.«
Ich verweile gern bei diesem Lebensabschnitt Amelias und freue mich, daß sie heiter und glücklich war. Bekanntlich hatte sie bisher noch nicht viel von diesem Leben gespürt und noch keine Mittel und Wege gefunden, ihren Geschmack oder Verstand zu bilden. Bis jetzt wurde sie von kleinen Geistern beherrscht. Das ist das Los mancher Frau, und da jede vom schönen Geschlecht die Rivalin ihrer Artgenossinnen ist, so gilt Schüchternheit als Torheit in ihrem barmherzigen Urteil und Sanftmut als Dummheit, und besonders Schweigsamkeit findet keine Gnade in den Augen der weiblichen Inquisition, denn diese Eigenschaft ist doch die schüchterne Absage an die lästige Anmaßung der Herrschenden und ein stummer Protest. Wenn also, mein lieber gesitteter Leser, du und ich heute abend in eine Gesellschaft von Grünkramhändlern gerieten, so würde unsere Unterhaltung wahrscheinlich kaum brillant werden. Wenn sich andererseits ein Gemüsehändler in deiner gebildeten, eleganten Teetischrunde einfinden würde, wo jedermann geistreich redet und alle die angesehenen Leute von Welt ihre Freunde auf reizende Art in Stücke zerreißen, so wäre der Fremde möglicherweise auch nicht sehr gesprächig und würde weder interessiert noch interessant scheinen.
Wir müssen auch bedenken, daß die arme Dame bis zum Augenblick noch keinem wahren Gentleman begegnet war. Wahrscheinlich findet man die seltener, als mancher von uns annimmt. Wer von uns kann in seinem Kreis viele davon aufweisen? Männer, die nur edle Ziele verfolgen, Männer, die standhaft, aufrichtig und treu sind, Männer, die schlicht und einfach sind, weil ihnen alles Gemeine fremd ist, und die der Welt ehrlich ins Angesicht blicken, mit gleicher männlicher Sympathie für das Große wie für das Kleine. Wir alle kennen hundert, die gutgearbeitete Kleider tragen, und ein Dutzend mit ausgezeichneten Manieren und ein paar Glückliche, die sich in den sogenannten innersten Kreisen bewegen und in der vornehmen Welt das Zentrum der Scheibe getroffen, ins Schwarze geschossen haben. Aber wie viele wahre Gentlemen sind darunter? Nehmen wir jeder ein Stückchen Papier und schreiben wir eine Liste.
Meinen Freund, den Major, setze ich ohne Zögern auf meine. Er hatte sehr lange Beine, ein gelbes Gesicht und lispelte ein wenig, was ihn auf den ersten Blick etwas lächerlich erscheinen ließ. Seine Gedanken aber waren rechtschaffen, sein Verstand klar, sein Leben ehrlich und lauter und sein Herz warm und bescheiden. Sicher, er hatte sehr große Hände und Füße, die die beiden George Osbornes verspottet und belacht hatten, und vielleicht lenkten auch ihre Neckereien und ihr Lachen die kleine Emmy von seinen wahren Werten ab. Sind wir aber nicht schon alle hinsichtlich unserer Helden irregeführt worden, und haben wir nicht unsere Ansichten hundertmal geändert? Emmy stellte in dieser glücklichen Zeit fest, daß ihre Meinung über die Verdienste des Majors eine gründliche Änderung erfuhr.
Vielleicht war es die glücklichste Zeit im Leben beider, wenn sie es nur gewußt hätten – aber wer weiß das schon? Wer von uns kann mit dem Finger darauf deuten und sagen: Dies war der Höhepunkt, der Gipfel menschlicher Freude? Auf jeden Fall war aber das Paar ganz zufrieden und genoß eine so angenehme Sommerreise wie nur irgendein Paar, das England in diesem Jahre verließ. George war immer mit im Theater, aber es war der Major, der Emmy hinterher den Schal umlegte, und bei den Spaziergängen und Ausflügen eilte der kleine Bursche stets voraus und kletterte auf einer Turmtreppe herum oder saß auf einem Baum, während das gesetztere Paar unten blieb, der Major beharrlich und seelenruhig seine Zigarre rauchte und Amelia die Landschaft oder die Ruine zeichnete. Es geschah auf dieser Reise, daß ich, der Verfasser dieser wortwörtlich wahren Geschichte, das Vergnügen hatte, sie zum erstenmal zu sehen und ihre Bekanntschaft zu machen.
In der kleinen gemütlichen großherzoglichen Stadt Pumpernickel (derselben, in der sich Sir Pitt Crawley als Attache ausgezeichnet hatte; das war aber lange, lange vorher, noch ehe die Nachricht von der Schlacht bei Austerlitz eintraf und als alle englischen Diplomaten in Deutschland rechtsum kehrtmachen mußten) sah ich Oberst Dobbin und seine Gesellschaft zum erstenmal. Sie waren mit dem Wagen und dem Reisediener angekommen und im »Erbprinz«, dem besten Hotel der Stadt, abgestiegen, und die ganze Gesellschaft speiste an der Table d'hôte. Alle bemerkten sofort das majestätische Wesen Josephs und die Kennermiene, mit der er den Johannisberger, den er zum Diner bestellt hatte, schlürfte oder vielmehr einsaugte. Auch der kleine Knabe bezeigte einen guten Appetit und verspeiste Schinken und Braten und Kartoffeln und Preiselbeermarmelade und Salat und Pudding und gebratenes Huhn und Zuckerwerk mit einer Tapferkeit, die seiner Nation alle Ehre machte. Nach etwa fünfzehn Gängen beendigte er das Mahl mit dem Dessert, von dem er sogar noch etwas mit hinausnahm. Einige junge Herren am Tisch hatten ihn nämlich veranlaßt, von seiner Kaltblütigkeit und seinem unbekümmerten Wesen amüsiert, eine Handvoll Makronen in die Tasche zu stecken, die er dann auf dem Wege zum Theater verspeiste. Dahin gingen alle in dem heiteren, geselligen deutschen Städtchen. Die Dame in Schwarz, die Mama des Knaben, lachte und errötete und blickte abwechselnd erfreut und betreten drein, als das Diner immer weiterging und ihr Sohn seine verschiedenen Heldenstückchen und Eulenspiegeleien verübte. Ich erinnere mich noch, wie der Oberst – denn das wurde er bald darauf – den Knaben mit ernsthaftem Gesicht aufzog, ihm Gerichte zeigte, die er noch nicht gekostet hatte, und ihn bat, seinem Appetit keine Zügel anzulegen, sondern von diesem oder jenem noch einmal zu nehmen.
Es gab einen sogenannten Gastrollenabend im Königlich-Großherzoglichen Hoftheater zu Pumpernickel, und Madame Schröder-Devrient, damals in der Blüte ihrer Schönheit und Kunst, spielte die Heldin in der wundervollen Oper »Fidelio«. Von unseren Sperrsitzplätzen aus konnten wir unsere vier Freunde von der Table d'hôte in der Loge sehen, die Schwendler, der Wirt vom »Erbprinz«, für seine besten Gäste gemietet hatte, und mir fiel sofort ins Auge, wie die herrliche Sängerin und die Musik auf Mrs. Osborne wirkten (so hatten wir den korpulenten Herrn mit Schnurrbart die Dame nennen hören). Während des wunderbaren Gefangenenchores, über den sich die prachtvolle Stimme der Sängerin in hinreißenden Harmonien erhob, nahm ihr Gesicht solch einen Ausdruck staunenden Entzückens an, daß es selbst dem kleinen Fipps, dem blasierten Attaché, auffiel und er, sein Theaterglas auf sie gerichtet, näselte: »Boi Gott, ös tut oinem wörklich wohl, oin Woib zu sehen, das oiner solchen Begoisterung fähig öst.« In der Gefängnisszene, wo Fidelio auf ihren Gatten zustürzt und ruft: »Nichts, nichts, mein Florestan!«, verlor sie die Beherrschung und bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch. Sämtliche Damen im Hause schnüffelten bei dieser Szene, und ich nehme an, daß sie mir nur deshalb besonders auffiel, weil es mir bestimmt war, ihre Memoiren zu schreiben.
Am nächsten Tage führte man ein anderes Werk von Beethoven, »Die Schlacht bei Vitoria«, auf. Es fängt mit dem Spottlied auf Marlborough an, um das schnelle Vorrücken des französischen Heeres anzudeuten. Dann kommen Trommeln, Trompeten, Kanonendonner und das Ächzen der Sterbenden und schließlich in einem großartigen anschwellenden Schluß die englische Nationalhymne »Gott schütz den König«.
Es mochte ein reichliches Dutzend Engländer im Theater sein, und beim Erklingen dieser geliebten und bekannten Musik erhoben sich alle Briten, wir jungen Burschen im Parkett, Sir John und Lady Bullminster (die in Pumpernickel ein Haus gemietet hatten, um ihre neun Kinder zu erziehen), der dicke Herr mit dem Schnurrbart, der lange Major in den weißen Leinenhosen und die Dame mit dem kleinen Knaben, denen er soviel Aufmerksamkeit bewies, ja selbst der Diener Kirsch auf der Galerie, von ihren Plätzen und bekannten sich als Angehörige der guten alten britischen Nation. Tapeworm, der Legationssekretär, stand ebenfalls in seiner Loge auf und verbeugte sich und lächelte geziert, als ob er das ganze Königreich repräsentieren wollte. Tapeworm war der Neffe und Erbe des alten Marschalls Tiptoff, der in dieser Geschichte als General Tiptoff kurz vor Waterloo erwähnt worden ist. Er war Oberst des ...ten Regiments, in dem Major Dobbin diente, und starb in diesem Jahr ehrenvoll an einem Gericht von Kiebitzeiern in Aspik. Daraufhin übergab Seine Majestät das Regiment gnädig dem Befehl von Oberst Sir Michael O'Dowd, Komtur des Bath-Ordens, der es durch viele ruhmvolle Schlachten geführt hatte.
Tapeworm mußte Major Dobbin im Hause des Vorgesetzten des Obersten, des Marschalls, getroffen haben, denn er erkannte ihn an diesem Abend im Theater, und der Gesandte Seiner Majestät kam mit der größten Herablassung aus seiner Loge und drückte dem neuen Freund öffentlich die Hand.
»Seht nur den verteufelten Schlauberger von Tapeworm an«, flüsterte Fipps, als er seinen Vorgesetzten vom Parkett aus beobachtete. »Wo sich eine hübsche Frau zeigt, da schleicht er sich sofort ein.« Nun, ich möchte wissen, wozu denn Diplomaten da sind, wenn nicht dafür.
»Habe ich die Ehre, mit Mrs. Dobbin zu sprechen?« fragte der Sekretär mit schmeichlerischem Grinsen.
George brach in lautes Gelächter aus und sagte: »Beim Zeus, das ist ein guter Witz.« Emmy und der Major erröteten; wir beobachteten sie von unseren Plätzen aus.
»Diese Dame ist Mrs. George Osborne«, sagte der Major, »und dies ist ihr Bruder, Mr. Sedley, ein hervorragender Beamter im bengalischen Zivildienst. Erlauben Sie mir, ihn Eurer Lordschaft vorzustellen.«
Bei dem bezaubernden Lächeln des Lords verlor Joseph beinahe das Gleichgewicht. »Wollen Sie sich längere Zeit in Pumpernickel aufhalten?« fragte der Lord. »Es ist ein langweiliges Nest, und wir brauchen nette Leute. Wir werden versuchen, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen. Mr. – ehem – Mrs. – oho – ich werde die Ehre haben, Ihnen morgen in Ihrem Hotel meine Aufwartung zu machen.« Er ging weg mit einem sieghaften Lächeln und einem Blick, der Mrs. Osborne seiner Meinung nach völlig erledigen mußte.
Nach Schluß der Vorstellung trieben sich die jungen Leute im Foyer herum, und wir sahen die höheren Gesellschaften aufbrechen. Die Herzoginwitwe fuhr in ihrer klappernden alten Kutsche ab, begleitet von zwei treuen, verwelkten alten Hofdamen und einem kleinen, verdrießlichen, dürrbeinigen Kammerherrn in einer braunen Perücke und einem grünen, ordenbedeckten Rock, auf dem der Stern und das gelbe Band des Sankt-Michaels-Ordens von Pumpernickel besonders ins Auge fielen. Die Trommeln wirbelten, die Wache präsentierte, und die alte Kutsche fuhr ab.
Dann kam Seine Durchlaucht der Herzog mit der durchlauchtigen Familie nebst seinen hohen Staats- und Hofbeamten. Er verbeugte sich gelassen gegen jedermann, und inmitten der salutierenden Wachen und der flackernden Fackeln, die von purpurgekleideten Lakaien getragen wurden, fuhren die durchlauchtigen Kutschen nach dem alten Herzogschloß mit seinen Türmen und Zinnen auf dem Schloßberg. In Pumpernickel kannte jeder jeden. Kaum war ein Fremder aufgetaucht, so begab sich auch schon der Minister des Auswärtigen oder auch irgendein hoher oder niedriger Staatsbeamter zum »Erbprinzen« und erkundigte sich nach dem Namen des Neuankömmlings.
Wir sahen auch sie das Theater verlassen. Tapeworm war gerade fortgegangen. Er war in seinen Mantel gehüllt, mit dem ihn sein riesiger Diener stets erwartete, und glich, soweit es ihm möglich war, Don Juan. Die Gemahlin des Ministerpräsidenten hatte sich soeben in ihre Sänfte gequetscht, und ihre Tochter, die bezaubernde Ida, hatte Kapuze und Galoschen angelegt, als die Engländer herauskamen. Der Knabe gähnte entsetzlich, der Major gab sich die größte Mühe, den Schal über Mrs. Osbornes Kopf am Rutschen zu hindern, und Mr. Sedley sah großartig aus mit dem Klapphut auf einem Ohr und der Hand in der Tasche seiner umfangreichen weißen Weste. Wir zogen den Hut vor unseren Bekannten von der Table d'hôte, und die Dame dankte uns mit einem Lächeln und einem kleinen Knicks. Jeder von uns konnte froh darüber sein. Die Kutsche des Gasthofs, unter der Aufsicht des geschäftigen Herrn Kirsch, stand bereit, um die Gesellschaft fortzubringen. Der dicke Herr erklärte jedoch, er wolle zu Fuß gehen und auf dem Heimweg seine Zigarre rauchen; so fuhren die anderen drei mit einem Kopfnicken und Lächeln für uns ohne Mr. Sedley ab, und Kirsch folgte mit dem Zigarrenetui der Spur seines Herrn.
Wir gingen miteinander und erzählten dem dicken Herrn von den Vergnügungen des Ortes. Das Leben war sehr angenehm für Engländer. Es gab Jagden und ganz speziell Treibjagden und eine Menge von Bällen und Unterhaltungen an dem gastfreien Hof. Die Gesellschaft war im allgemeinen gut, das Theater vortrefflich und das Leben nicht teuer.
»Und unser Gesandter scheint ein sehr angenehmer und leutseliger Mensch zu sein«, meinte unser neuer Freund. »Bei so einem Repräsentanten und – und einem tüchtigen Arzt stelle ich mir vor, daß es sich in dieser Stadt gut leben läßt. Gute Nacht, meine Herren.« Und damit stieg Joseph die knarrende Treppe hinauf, in Richtung auf sein Bett, gefolgt von Kirsch mit dem Leuchter. Wir hofften, daß sich die hübsche Frau bewegen lassen würde, einige Zeit in der Stadt zu verweilen.