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64. Kapitel

Ein Vagabundenkapitel

Wir müssen über einen Teil von Mrs. Rebekka Crawleys Biographie mit der Leichtigkeit und dem Takt hinweggehen, die die Welt fordert – die moralische Welt, die zwar keinen besonderen Abscheu gegen das Laster hat, jedoch eine unüberwindliche Abneigung dagegen, das Laster beim rechten Namen genannt zu hören. Es gibt Dinge, die wir auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit tun und kennen, aber nie aussprechen. Wie die Teufelsanbeter den Teufel niemals erwähnen, so kann das gebildete Publikum es ebensowenig ertragen, eine wahrhafte Beschreibung des Lasters zu lesen, wie eine wirklich vornehme Engländerin oder Amerikanerin nicht gestatten wird, daß in Gegenwart ihrer keuschen Ohren das Wort »Hosen« ausgesprochen wird. Und doch, Madame, läuft beides täglich vor unseren Augen in der Welt herum, ohne uns sehr zu entsetzen. Was für einen Teint würden Sie bekommen, wenn Sie jedesmal erröten sollten, wenn eins davon an Ihnen vorübergeht! Nur wenn ihr leichtfertiger Name genannt wird, findet Ihre Sittsamkeit Gelegenheit, Bestürzung oder Empörung zu zeigen. Es ist daher auch in unserer Geschichte der Wunsch des Verfassers gewesen, sich dieser gegenwärtig herrschenden Mode ehrfurchtsvoll zu unterwerfen und die Existenz des Schlechten nur leicht und leise und gefällig anzudeuten, um niemandes Feingefühl zu verletzen. Ich behaupte, daß niemand sagen kann, unsere sicher nicht lasterfreie Becky sei dem Publikum auf unanständige und beleidigende Weise vorgestellt worden. Der Verfasser fragt mit bescheidenem Stolz alle seine Leser, ob er bei der Beschreibung dieser verführerischen, singenden und lächelnden Schmeichlerin auch nur einmal die Gesetze der Sittlichkeit vergessen und den gräßlichen Schweif des Ungeheuers über Wasser gezeigt hat? Nein! Diejenigen, die Lust haben, mögen in die recht durchsichtigen Wellen hinabblicken und können dann sehen, wie er in seiner teuflischen Häßlichkeit und Schlüpfrigkeit sich dreht und windet, gegen Gebeine anschlägt oder sich um Leichen schlingt; aber ich frage nochmals, ob über der Wasseroberfläche nicht alles anständig, angenehm und geziemend zugegangen ist oder ob der bedenklichste Moralist auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit das Recht hat, pfui zu schreien? Wenn allerdings die Sirene verschwindet und hinabtaucht, hinab zu den Toten, dann wird natürlich das Wasser über ihr trübe, und es ist verlorene Mühe, neugierig hinabzuschauen. Hübsch genug sehen sie ja aus, wenn sie auf einer Klippe sitzen, auf der Harfe klimpern, sich das Haar kämmen, singen und euch bedeuten, hinzukommen und ihnen die Spiegel zu halten. Versinken sie aber in ihrem heimischen Element, so verlaßt euch darauf, daß die Meermädchen nichts Gutes im Schilde führen, und wir täten am besten daran, diese teuflischen Meerkannibalen beim Verschmausen ihrer elenden, eingesalzenen Opfer nicht zu belauschen. Wenn wir also Becky aus den Augen gelassen haben, so könnt ihr euch darauf verlassen, daß sie nicht zum besten beschäftigt war und wir gut daran tun, sowenig wie möglich von ihren Taten zu berichten.

Wenn wir einen ausführlichen Bericht ihres Schicksals in den wenigen Jahren nach der Katastrophe in der Curzon Street geben wollten, so könnte das Publikum wohl mit einigem Recht dieses Buch taktlos nennen. Die Handlungen eitler, herzloser und vergnügungssüchtiger Menschen sind oft sehr taktlos (wie manche von dir, mein Freund mit dem ernsten Gesicht und dem makellosen Ruf – aber das nur nebenbei), und wie sollen dann die Taten einer Frau ohne Redlichkeit, Liebe und Charakter aussehen? Ich bin zu der Ansicht geneigt, daß es eine Zeitspanne in Mrs. Beckys Leben gab, wo nicht Reue, aber eine Art Verzweiflung sie ergriff und sie ihre eigene Person völlig vernachlässigte und sich nicht einmal um ihren Ruf kümmerte.

Diese Niedergeschlagenheit und Erniedrigung setzte jedoch nicht mit einemmal ein. Es kam allmählich nach dem Unglücksfall und nach vielen Kämpfen, Oberwasser zu behalten. Einer, der über Bord gefallen ist, klammert sich ja auch an einen Balken, solange er noch Hoffnung hat, aber wenn er merkt, daß der Kampf vergeblich ist, wirft er ihn weg und geht unter.

Sie trieb sich in London herum, solange ihr Mann noch Vorbereitungen für die Abreise zu seinem Gouverneursposten traf. Wahrscheinlich versuchte sie immer wieder, ihren Schwager Sir Pitt Crawley zu sehen, um seine Gefühle zu bearbeiten, die sie ja schon fast für sich gewonnen hatte. Als Sir Pitt und Mr. Wenham zum Unterhaus gingen, erblickte Pitts Begleiter Mrs. Rebekka, in einen schwarzen Schleier gehüllt, wie sie in der Nähe des Parlamentsgebäudes umherschlich. Als ihre Augen denen Wenhams begegneten, machte sie sich davon, und ihr Anschlag auf den Baronet gelang niemals.

Wahrscheinlich legte sich Lady Jane ins Mittel. Ich habe gehört, daß sie ihren Gemahl durch den Mut, den sie in diesem Streit entwickelte, und ihre Entschlossenheit, sich von Mrs. Rawdon loszusagen, in Erstaunen setzte. Sie lud Rawdon aus eigenem Antrieb ein, bis zu seiner Abreise nach Coventry Island in der Gaunt Street zu wohnen, denn sie wußte, daß Mrs. Becky es nicht versuchen würde, sich Eingang zu verschaffen, wenn er als Wächter da war. Sie sah auch neugierig die Aufschriften aller an Sir Pitt gerichteten Briefe durch, damit er nicht etwa mit seiner Schwägerin korrespondierte. Nicht, daß Rebekka nicht hätte schreiben können, wenn sie die Absicht gehabt hätte, aber sie wollte Pitt nicht in seinem eigenen Haus sprechen oder dorthin schreiben, und nach ein paar Versuchen gab sie seiner Forderung nach, daß die Korrespondenz hinsichtlich ihrer Eheangelegenheiten nur von den Rechtsanwälten geführt werden solle.

Sir Pitts Ansicht über sie war nämlich tatsächlich vergiftet worden. Kurze Zeit nach Lord Steynes Unfall war Wenham beim Baronet gewesen und hatte ihm ein derartiges Lebensbild von Mrs. Becky gegeben, daß der Parlamentsabgeordnete für Queen's Crawley aus dem Staunen nicht herauskam. Er wußte alles über sie: wer ihr Vater war, in welchem Jahr ihre Mutter beim Ballett war, wie ihre Jugend verlief und wie sie sich im Eheleben benahm. Da aber unzweifelhaft der größte Teil der Geschichte erlogen und von Böswilligkeit diktiert war, so will ich sie hier nicht wiederholen. Becky geriet aber dadurch in schlechtes, sehr schlechtes Licht in den Augen des Landedelmannes und Verwandten, der ihr einst sehr zugetan war.

Die Einnahmen eines Gouverneurs von Coventry Island sind nicht hoch. Einen Teil davon legte Seine Exzellenz zur Bezahlung gewisser Schulden und Verbindlichkeiten beiseite; die Spesen seiner hohen Stellung verschluckten beträchtliche Summen, und schließlich stellte es sich heraus, daß er für seine Frau nicht mehr als hundert Pfund jährlich erübrigen konnte, die er ihr unter der Bedingung zahlen wollte, daß sie sich verpflichtete, ihn nicht weiter zu behelligen. Sonst würden Skandal, Scheidung und das Gericht folgen. Es war aber Wenhams Anliegen, Lord Steynes Anliegen, Rawdons Anliegen, jedermanns Anliegen, sie aus dem Lande zu schaffen und diese höchst unangenehme Affäre zu vertuschen.

Wahrscheinlich war sie vom Ordnen dieser Geschäftsangelegenheiten mit den Anwälten ihres Mannes so sehr in Anspruch genommen, daß sie vergaß, auch nur das geringste in bezug auf ihren Sohn, den kleinen Rawdon, zu unternehmen, und es kam ihr nicht ein einziges Mal in den Sinn, ihn zu besuchen. Der junge Herr wurde nun völlig der Obhut von Tante und Onkel übergeben; Lady Jane hatte ja stets einen großen Teil seiner kindlichen Liebe besessen. Als seine Mama England verlassen hatte, schrieb sie ihm einen netten Brief aus Boulogne, worin sie ihn aufforderte, hübsch zu lernen, und erklärte, sie wolle eine Reise auf dem Kontinent unternehmen und sie werde das Vergnügen haben, ihm wieder zu schreiben. Ein ganzes Jahr lang jedoch ließ sie nichts von sich hören und schrieb erst wieder, als Sir Pitts einziger Junge, der schon immer kränklich war, an Keuchhusten und Masern starb. Nun schickte Rawdons Mama ihrem geliebten Sohn ein sehr zärtliches Schreiben. Rawdon war nämlich durch dieses Ereignis Erbe von Queen's Crawley geworden und kam der gütigen Dame, deren zärtliches Herz ihn bereits an Kindes Statt angenommen hatte, näher denn je. Rawdon Crawley, nun schon ein hübscher schlanker Bursche, errötete, als er den Brief erhielt. »Oh, Tante Jane«, sagte er, »du bist meine Mutter und nicht – nicht die da.« Trotzdem schrieb er einen freundlichen respektvollen Antwortbrief an Mrs. Rebekka, die damals in einer Pension in Florenz lebte. Aber wir greifen unserer Geschichte vor.

Der erste Flug trug unsere geliebte Becky nicht sehr weit. Sie ließ sich an der französischen Küste in Boulogne, diesem Zufluchtsort so mancher verbannten englischen Unschuld, nieder. Dort bewohnte sie mit einer Zofe ein paar Zimmer in einem Hotel und trat wie eine vornehme Witwe auf. Sie speiste an der Table d'hôte, und man fand sie sehr angenehm. Sie unterhielt ihre Tischnachbarn mit Geschichten von ihrem Schwager Sir Pitt und ihrem großen Londoner Bekanntenkreis. Dieses seichte Geschwätz über die feine Welt findet bei einer gewissen Schicht ungebildeter Leute stets ein Ohr. Viele hielten sie für eine bedeutende Persönlichkeit. Sie gab kleine Teegesellschaften in ihren Privaträumen und nahm teil an den unschuldigen Belustigungen des Ortes: sie badete im Meer, unternahm Ausflüge im offenen Wagen, ging am Strand spazieren und besuchte das Theater. Mrs. Burjoice, die Buchdruckersfrau, die mit ihrer Familie den Sommer im Hotel verlebte und die jedes Wochenende von ihrem Burjoice besucht wurde, nannte sie bezaubernd, bis dieser kleine Schurke von einem Burjoice begann, ihr zuviel Aufmerksamkeit zu bezeigen. Es war aber wirklich nichts an der Sache. Becky war nun eben stets umgänglich, munter und gutherzig – besonders Männern gegenüber.

Am Ende der Saison gingen viele wie gewöhnlich ins Ausland, und Becky fand reichlich Gelegenheit, im Benehmen ihrer Bekannten aus der vornehmen Welt Londons abzulesen, wie die »Gesellschaft« über sie urteilte. Eines Tages ging sie sittsam an der Mole von Boulogne spazieren, und die Klippen Albions leuchteten aus der Ferne über das tiefblaue Meer herüber, Da stand sie plötzlich Lady Partlet und ihren Töchtern gegenüber. Mit einem Schwenk ihres Sonnenschirms versammelte die Lady alle ihre Töchter um sich und zog sich mit wütenden Blicken auf die arme Becky, die allein dort stand, von der Mole zurück.

An einem anderen Tage kam das Paketboot an. Es hatte ein frischer Wind geweht, und Becky fand immer besonderen Spaß daran, die drolligen leidenden Gesichter der Leute zu beobachten, wenn sie das Schiff verließen. Zufälligerweise war an diesem Tage Lady Slingstone an Bord. Der Dame war es in ihrem Wagen sehr schlecht ergangen, sie war sehr erschöpft und kaum imstande, auf dem Schiffssteg zum Land hinüberzugehen. Aber in dem Augenblick, als sie Becky unter einem rosa Hut schalkhaft hervorlächeln sah, kehrte all ihre Energie zurück; sie warf ihr einen verächtlichen Blick zu, der jede andere Frau vernichtet hätte, und ging ohne alle Unterstützung in das Zollhaus. Rebekka lachte nur, ich glaube aber nicht, daß es ihr sehr wohl dabei war. Sie fühlte, daß sie allein, mutterseelenallein war, und die in der Ferne leuchtenden Klippen Englands waren für sie unüberwindlich.

Auch das Benehmen der Männer hatte sich Gott weiß wie verändert. Grinstone entblößte die Zähne und lachte ihr unangenehm vertraulich ins Gesicht. Der kleine Bob Suckling, der ihr vor drei Monaten noch so ergeben war und der eine Meile weit im Regen gelaufen wäre, um ihre Kutsche vor dem Gaunt-Haus zu sehen, unterhielt sich eines Tages auf dem Landungsplatz mit Fitzoof von der Garde (Lord Heehaws Sohn), als Becky dort ihren gewohnten Spaziergang machte. Der kleine Bob nickte ihr über die Schulter zu, ohne den Hut zu berühren, und fuhr in seiner Unterredung mit dem Erben von Heehaw fort. Tom Raikes versuchte, ihr Wohnzimmer im Gasthof mit der Zigarre im Mund zu betreten, aber sie machte ihm die Tür vor der Nase zu und hätte sie verschlossen, wenn er nicht seine Finger dazwischen gehabt hätte. Sie begann zu fühlen, daß sie wirklich sehr allein war. »Wenn er hiergewesen wäre«, sagte sie, »dann hätten es diese Feiglinge nie gewagt, mich zu beleidigen.« Sie dachte traurig und vielleicht auch sehnsüchtig an »ihn« – an seine ehrliche, dumme, beständige Güte und Treue, seinen unendlichen Gehorsam, seine gute Laune, seine Tapferkeit und seinen Mut. Wahrscheinlich weinte sie sogar, denn als sie zum Essen herabkam, war sie besonders lebhaft und hatte etwas mehr Rouge aufgelegt als sonst. Sie schminkte sich jetzt regelmäßig, und – und sie ließ sich von ihrem Mädchen Kognak besorgen, außer dem noch, der auf die Hotelrechnung gesetzt wurde.

Vielleicht waren ihr die Beleidigungen der Männer nicht so unerträglich wie die Sympathie gewisser Frauen. Lady Crackenbury und Mrs. Washington White kamen auf ihrem Wege zur Schweiz durch Boulogne. Die Gesellschaft stand unter dem Schutz von Oberst Horner, dem jungen Beaumoris und natürlich dem alten Crackenbury und Mrs. Whites kleinem Mädchen. Die mieden sie nicht. Sie lachten, schnatterten und plapperten, bedauerten und trösteten sie und behandelten sie so gönnerhaft, daß sie vor Wut bald platzte. Von denen ausgerechnet so von oben herab behandelt zu werden! dachte sie, als sie nach vielen Küssen geziert lächelnd fortgegangen waren. Sie hörte Beaumoris auf der Treppe laut lachen und wußte seine Heiterkeit recht gut zu deuten.

Becky bezahlte die Wochenrechnungen pünktlich, sie machte sich jedermann im Hause angenehm, lächelte der Wirtin zu, nannte die Kellner »Monsieur« und entschädigte die Zimmermädchen für eine gewisse Knickrigkeit (von der Becky nie frei war) mit höflichen und entschuldigenden Worten. Aber nach diesem Besuch erhielt Becky von dem Wirt eine Aufforderung, das Hotel zu verlassen. Jemand hatte ihm beigebracht, sie sei nicht tragbar für sein Hotel und englische Ladys würden sich nicht neben ihr niederlassen. Sie war also gezwungen, ein Privatquartier zu nehmen, und dessen Einsamkeit und Langeweile gefielen ihr gar nicht.

Trotz all dieser Rückschläge hielt sie sich aufrecht und versuchte, sich einen neuen Ruf zu schaffen und den Skandal zum Schweigen zu bringen. Sie ging regelmäßig zur Kirche und sang lauter als alle anderen. Sie nahm sich der Witwen ertrunkener Fischer an und stiftete Handarbeiten und Zeichnungen für die Quashibu-Mission. Sie zeichnete für die Subskriptionsbälle und wollte auf keinen Fall Walzer tanzen. Mit einem Wort, sie tat alles, was anständig war, und aus diesem Grunde verweilen wir auch länger bei diesem Lebensabschnitt als bei den späteren, nicht so angenehmen Teilen ihrer Geschichte. Sie sah, daß die Leute sie mieden, und bewahrte doch mühsam ihr Lächeln. Man konnte ihr am Gesicht nicht ablesen, unter welchen Qualen der Demütigung sie innerlich litt.

Nach allem blieb ihre Geschichte doch ein Geheimnis. Die Meinungen über sie waren geteilt. Einige, die sich die Mühe machten, sich mit der Sache zu beschäftigen, erklärten, sie sei die Schuldige, während andere beteuerten, sie sei so unschuldig wie ein Lamm und ihr abscheulicher Mann sei im Unrecht. Eine ganze Anzahl gewann sie dadurch, daß sie über ihren Sohn in Tränen ausbrach und leidenschaftlichen Schmerz zeigte, wenn sein Name erwähnt wurde oder sie jemanden sah, der ihm ähnlich war. Auf diese Weise gewann sie das Herz der guten Mrs. Alderney, die so ungefähr die Königin der Engländer in Boulogne war und die meisten Diners und Bälle gab. Master Alderney kam nämlich in den Ferien aus Doktor Swishtails Lehranstalt nach Boulogne zu seiner Mutter, und Becky sagte mit schmerzerstickter Stimme, er sei im selben Alter wie Rawdon und sehe ihm so ähnlich. In Wirklichkeit waren die beiden Knaben fünf Jahre auseinander, und sie ähnelten sich nicht mehr als mein verehrter Leser und sein gehorsamer Diener. Als Wenham auf dem Wege nach Kissingen, wo er Lord Steyne treffen wollte, durch Boulogne kam, klärte er Mrs. Alderney über diesen Punkt auf und meinte, daß er den kleinen Rawdon besser beschreiben könne als seine Mama, denn es sei ja stadtbekannt, daß sie ihn hasse und nie besuche. Er sei dreizehn, der kleine Alderney dagegen bloß neun, und er sei blond, während der andere liebe Junge doch dunkel sei. Mit einem Wort, er brachte die betreffende Dame dahin, ihre Gutmütigkeit zu bereuen.

Sooft sich Becky mit unglaublicher Mühe einen kleinen Bekanntenkreis geschaffen hatte, kam stets jemand und zerstörte mit roher Hand alles wieder, und sie mußte mit der ganzen Arbeit von neuem beginnen. Es war hart, sehr hart, einsam und entmutigend.

Mrs. Newbright nahm sie eine Zeitlang auf. Sie war gefesselt von ihrem lieblichen Gesang in der Kirche und ihren richtigen Ansichten über gewisse ernsthafte Themen, von denen Mrs. Becky in früheren Tagen in Queen's Crawley sehr viele hatte hören müssen. Sie nahm nicht nur Traktate mit, sondern sie las sie auch. Sie fertigte Flanellunterröcke für die Quashibus, baumwollene Nachtmützen für die Kokosnußindianer, malte Schirme für die Bekehrung des Papstes und der Juden, ging mittwochs zu den Predigtversammlungen bei Mrs. Rowls, donnerstags zu denen von Mrs. Huggleton, besuchte sonntags zweimal die Kirche und abends außerdem noch Mr. Bawler von der Brüdergemeinde der Darbysten – aber alles umsonst. Mrs. Newbright hatte Gelegenheit, mit der Gräfin Southdown über den Wärmflaschenfonds für die Bewohner der Fidschiinseln zu korrespondieren. Beide Damen gehörten zu einem weiblichen Komitee, das dieses barmherzige Werk leitete. In einem Brief erwähnte sie ihre »süße Freundin«, Mrs. Rawdon Crawley, worauf ihr die verwitwete Gräfin mit einem Brief antwortete, der von Andeutungen, Tatsachen, Lügen und Androhungen himmlischer Strafen ganz allgemein nur so strotzte. Jeglicher vertraulicher Umgang zwischen Mrs. Newbright und Mrs. Crawley hörte augenblicklich auf, und die ganze fromme Welt von Tours, wo dieses Unglück passierte, brach sofort den Verkehr mit der Ruchlosen ab. Wer die englischen Kolonien im Ausland kennt, weiß, daß wir unseren Stolz, unsere Pillen, unsere Vorurteile, unsere Harveysoße, unseren Cayennepfeffer und andere Hausgötter mitnehmen und überall, wo wir uns niederlassen, ein kleines Britannien gründen.

Becky nun floh ratlos von einer Kolonie zur anderen, von Boulogne nach Dieppe, von Dieppe nach Caen, von Caen nach Tours – versuchte überall mit aller Kraft, ein anständiges Leben zu führen, aber o weh – eines Tages wurde sie doch stets entlarvt, und die echten Krähen hackten sie aus dem Nest.

An einem Ort nahm sie Mrs. Hook Eagles auf, eine Frau mit einem makellosen Charakter und einem Haus am Portman Square. Sie wohnte in dem Hotel in Dieppe, wohin Becky geflohen war, und sie lernten sich beim Schwimmen im Meer kennen und sahen sich an der Table d'hôte des Hotels wieder. Mrs. Eagles hatte einiges über die Steyne-Affäre gehört – wer hatte denn das nicht? Nach einer Unterredung mit Becky verkündete sie jedoch, Mrs. Crawley sei ein Engel, ihr Mann ein Schuft, Lord Steyne ein charakterloser Bösewicht, wie es ja auch bekannt sei, und die ganze Anschuldigung gegen Mrs. Crawley sei eine infame, gottlose Lüge dieses Schurken Wenham. »Wenn du nur ein bißchen Mut hättest, Mr. Eagles, so würdest du den Kerl ohrfeigen, wenn du ihn das nächste Mal im Klub triffst«, sagte sie zu ihrem Mann. Eagles war jedoch ein ruhiger alter Herr und der Mann von Mrs. Eagles, mit einer Neigung zur Geologie, und außerdem zu klein, um die Ohren anderer Leute überhaupt erreichen zu können.

Nun begönnerte die Eagles Mrs. Rawdon, nahm sie mit in ihr Haus nach Paris, zankte sich mit der Frau des Gesandten, weil sie ihren Schützling nicht empfangen wollte, und tat alles, was in der Macht der Frauen steht, um Becky auf dem Pfade der Tugend und des guten Rufes zu halten.

Becky war anfänglich sehr sittsam und bescheiden, das Einerlei der Tugend wurde ihr jedoch in kurzer Zeit sehr lästig; jeden Tag war es dasselbe, dieselbe Langeweile und Gemächlichkeit, dieselbe Spazierfahrt in demselben eintönigen Bois de Boulogne, dieselbe Abendgesellschaft, dieselbe Predigt von Blair am Sonntagabend, dieselbe Oper, die immer und immer wieder aufgeführt wurde. Becky starb fast vor Langeweile, als glücklicherweise der junge Mr. Eagles von Cambridge kam, und sobald seine Mutter bemerkte, welchen Eindruck ihre kleine Freundin auf ihn machte, entließ sie Becky sofort.

Nun versuchte sie zusammen mit einer Freundin zu wirtschaften. Aber dieser gemeinsame Haushalt zankte sich bald und geriet in Schulden. Dann entschloß sie sich, in einer Pension zu leben, und blieb eine Weile in dem berühmtem Haus der Madame de Saint-Amour in der Rue Royal in Paris, wo sie ihre Reize auf schäbige Stutzer und schlampige Schönheiten verschwendete, die die Salons ihrer Wirtin besuchten. Becky liebte Gesellschaft und konnte ohne sie ebensowenig existieren wie ein Opiumesser ohne seinen Stoff. Während ihres Pensionslebens war sie einigermaßen glücklich. »Die Frauen hier sind ebenso unterhaltend wie die in Mayfair«, erzählte sie einer alten Londoner Freundin, die sie besuchte, »nur ihre Kleider sind nicht ganz so neu. Die Männer tragen gereinigte Handschuhe und sind traurige Schelme, aber sie sind nicht schlechter als Jack Dings und Tom Bums. Die Wirtin ist zwar etwas ordinär, aber ich glaube, nicht so ordinär wie Lady ...« Hier nannte sie den Namen einer großen Dame der feinen Welt, den ich für mich behalten werde, und sollte es mir das Leben kosten. Wenn abends Madame de Saint-Amours Salon erleuchtet war und man die Männer mit Orden und Bändern an den Ecartétischen sitzen sah und die Damen in gewisser Entfernung bemerkte, konnte man sich wirklich für kurze Zeit einbilden, in guter Gesellschaft zu sein, und meinen, Madame sei eine echte Gräfin. Viele Leute glaubten das, und Becky war für eine geraume Zeit eine der elegantesten Damen in den Salons der Gräfin.

Wahrscheinlich machten sie aber hier ihre alten Gläubiger von 1815 ausfindig und bewirkten, daß sie Paris verließ, denn die arme kleine Frau mußte plötzlich aus der Stadt fliehen und ging nun nach Brüssel.

Wie gut sie sich doch an diesen Ort erinnerte! Sie lächelte, als sie zu dem kleinen Zwischengeschoß hinaufblickte, das sie einst bewohnt hatte, und an die Familie Bareacres dachte, die nach Pferden und Flucht schrie, als ihr Wagen schon in der Einfahrt des Hotels stand. Sie fuhr nach Waterloo und Laeken, wo George Osbornes Grabdenkmal sie sehr beeindruckte. Sie machte eine kleine Skizze davon. »Der arme Cupido!« sagte sie. »Wie schrecklich verliebt war er doch in mich, und was für ein Narr war er! Ich möchte wissen, ob die kleine Emmy noch lebt. Sie war ein gutes Geschöpfchen; und ihr dicker Bruder! Ich habe das ulkige Bild von dem Dicken noch unter meinen Papieren. Es waren gute, einfache Leute!«

In Brüssel empfahl Madame de Saint-Amour Becky ihrer Freundin, der Gräfin Borodino, Witwe von Napoleons berühmtem General Graf Borodino, die der dahingeschiedene Held bis auf eine Table d'hôte und einen Ekartétisch mittellos zurückgelassen hatte. Zweitrangige Stutzer und Müßiggänger, ewig prozessierende vornehme Witwen und sehr einfältige Engländer, die sich einbilden, in solchen Häusern die »Gesellschaft des Kontinents« zu finden, setzten ihr Geld auf Madame de Borodinos Tischen oder speisten daran. An der Table d'hôte bewirteten die galanten jungen Burschen die ganze Gesellschaft mit Champagner, ritten mit den Frauen aus oder mieteten Pferde für ländliche Ausflüge, legten Geld zusammen, um Logen fürs Theater oder für die Oper zu nehmen, wetteten über die schönen Schultern der Damen hinweg am Ekartétisch und schrieben an ihre Eltern in Devonshire über ihre glückliche Einführung in die ausländische Gesellschaft.

Hier wie in Paris war Becky die Königin, und sie regierte in den auserlesenen Pensionen. Sie lehnte weder Champagner ab noch Blumen, weder Ausflüge aufs Land noch Privatlogen, aber am liebsten war sie abends beim Ekarté – und sie spielte kühn. Anfangs setzte sie nur wenig, dann Fünffrancsstücke, dann Napoleons, dann Banknoten, dann konnte sie die Pension für den Monat nicht mehr bezahlen, dann borgte sie bei den jungen Herren, dann hatte sie wieder Geld und tyrannisierte Madame de Borodino, die sie vorher umschmeichelt und beschwatzt hatte, dann spielte sie um bloße zehn Sous und war wieder in entsetzliche Armut geraten, dann kam ihre vierteljährliche Rente, und sie bezahlte Madame de Borodinos Rechnung, und dann griff sie wieder zu den Karten und spielte gegen Monsieur de Rossignol oder den Chevalier de Raff.

Als Becky Brüssel verließ, schuldete sie – das ist die traurige Wahrheit – Madame de Borodino die Pension für drei Monate. Dies und das Spielen und Trinken und den Kniefall vor Ehrwürden Mr. Muff, dem anglikanischen Geistlichen, um Geld von ihm zu borgen, und ihr Schmeicheln und Kokettieren mit Mylord Noodle, Sohn Sir Noodles und Zögling von Ehrwürden Mr. Muff, den sie oft in ihre Privaträume mitnahm und dem sie dann im Ekarté große Summen abgewann, – all das und hundert andere Schurkenstücke berichtet die Gräfin Borodino jedem Engländer, der in ihre Pension kommt, und erklärt, Madame Rawdon sei nicht besser als eine Viper.

So schlug unsere kleine Wanderin ihre Zelte in vielen Städten Europas auf, und rastlos wie Odysseus oder Bamfylde Moore Carew reiste sie umher. Ihr Hang zur Unsolidität wurde täglich auffallender. Es dauerte nicht lange, und sie wurde ein echter Bohemien und gesellte sich zu Leuten, bei deren Anblick uns schon die Haare zu Berge stehen würden.

Jede europäische Stadt von einiger Bedeutung hat ihre kleine Kolonie von englischen Taugenichtsen – Männer, deren Namen Mr. Hemp, der Gerichtsbeamte, in bestimmten Abständen im Gerichtshof verliest. Oft sind es junge Leute aus sehr guter Familie, nur daß die sie verstoßen hat. Sie besuchen Billardzimmer und Kneipen und sind bei ausländischen Rennen und an Spieltischen zu finden. Sie bevölkern die Schuldgefängnisse – trinken und prahlen –prügeln sich und lärmen – prellen die Zeche – duellieren sich mit französischen und deutschen Offizieren – betrügen Mr. Spooney beim Ekarté – verschaffen sich Geld und fahren in einer prächtigen offenen Kutsche nach Baden – versuchen ihre unfehlbaren Kartentricks und lungern mit leeren Taschen um die Spieltische herum, schäbige Prahler, bettelarme Stutzer, bis es ihnen gelingt, einen jüdischen Bankier mit einem falschen Wechsel zu betrügen oder noch einen Mr. Spooney zu finden, den sie ausnehmen können. Der Wechsel von Glanz und Elend bei diesen Leuten bietet einen seltsamen Anblick. Ihr Leben muß stets sehr aufregend sein. Becky – sollen wir es gestehen? – verfiel dieser Lebensweise, und nicht mit Widerwillen. Sie zog mit diesen Bohemiens von Stadt zu Stadt. Die glückliche Mrs. Rawdon war an jedem Spieltisch in Deutschland bekannt. Sie führte einen gemeinsamen Haushalt mit Madame de Cruchecassee in Florenz. Aus München soll sie ausgewiesen worden sein, und mein Freund, Mr. Frederick Pidgeon, behauptet, man habe ihn in ihrem Haus in Lausanne betrunken gemacht und darauf habe er achthundert Pfund an Major Loder und den ehrenwerten Mr. Deuceace verloren. Sie sehen, wir fühlen uns verpflichtet, einiges von Beckys Lebenslauf mitzuteilen; von diesem Abschnitt jedoch ist es am besten, sowenig wie möglich zu berichten.

Wenn Mrs. Crawley in besonders mißlicher Lage war, soll sie hier und da Konzerte und Musikunterricht gegeben haben. Auf jeden Fall hat eine Madame de Raudon in Wildbad, begleitet von Herrn Spoff, dem ersten Pianisten des Hospodars von der Walachei, eine musikalische Matinee gegeben; und mein kleiner Freund Mr. Eaves, der jedermann kannte und überall gewesen war, erzählte immer wieder, daß 1830, als er in Straßburg war, eine gewisse Madame Rebecque in der Oper »Die weiße Dame« auftrat und einen ungeheuren Theaterskandal verursachte. Das Publikum zischte sie von der Bühne, teilweise wegen ihrer Unfähigkeit, hauptsächlich aber wegen der unbesonnenen Sympathiekundgebungen einiger Personen im Parkett (wo die Offiziere der Garnison saßen), und Eaves meinte ganz sicher, die unglückliche Debütantin sei niemand anders als Mrs. Rawdon Crawley gewesen.

Sie war auf dieser Erde wirklich nichts Besseres als eine Vagabundin. Wenn sie ihr Geld erhielt, so spielte sie; wenn sie es verspielt hatte, so mußte sie zu Kunstgriffen Zuflucht nehmen, um zu leben. Wer weiß, wie und mit welchen Mitteln ihr das gelang? Man will sie sogar einmal in Sankt Petersburg gesehen haben, von der Polizei soll sie aber kurz entschlossen aus dieser Hauptstadt ausgewiesen worden sein. Daher kann das Gerücht, sie sei in Teplitz und später in Wien russische Spionin gewesen, unmöglich wahr sein. Ich habe sogar erfahren, sie habe in Paris eine Verwandte entdeckt, und zwar niemand Geringeres als ihre Großmutter mütterlicherseits, die keineswegs eine Montmorency war, sondern eine abscheuliche alte Logenschließerin in einem Boulevardtheater. Das Treffen der beiden – von dem wie gesagt auch andere zu wissen scheinen, muß rührend verlaufen sein. Der Verfasser kann aber keine sicheren Einzelheiten davon berichten.

Einmal geschah es in Rom, daß Mrs. Rawdons halbjährliche Rente gerade beim größten Bankier am Platze eingezahlt worden war, und da alle, die ein Konto von mehr als fünfhundert Scudi hatten, zu den Winterbällen eingeladen wurden, die dieser Fürst der Handelsleute gab, so wurde auch Becky mit einer Karte beehrt und erschien bei einer der glänzenden Abendunterhaltungen des Fürsten und der Fürstin Polonia. Die Fürstin kam aus der Familie Pompili und stammte in gerader Linie von dem zweiten König in Rom und seiner Gemahlin Egeria aus dem Hause Olympus ab. Der Großvater des Prinzen dagegen, Alessandro Polonia, verkaufte noch Seifenkugeln, Essenzen, Tabak und Taschentücher, erledigte Aufträge für vornehme Herren und betrieb den Geldverleih im kleinen. Die große Gesellschaft Roms drängte sich in seinen Salons – Fürsten, Herzöge, Gesandte, Künstler, Geigenvirtuosen, geistliche Würdenträger und Adlige auf Reisen mit ihren Begleitern – Männer jeden Ranges und Standes. Seine Gemächer funkelten von Licht und Pracht, strahlten von Goldrahmen (es waren auch Bilder darin) und zweifelhaften Antiken. Die ungeheuren vergoldeten Kronen und Wappen des fürstlichen Besitzers, ein goldener Pilz auf rotem Felde (die Farbe der Taschentücher, die er verkaufte), und die silberne Fontäne der Familie Pompili glänzten überall auf dem Dach, an den Türen und auf der Täfelung des Hauses und über den großartigen Samtbaldachinen für den Empfang von Päpsten und Kaisern.

Becky, die in der Postkutsche von Florenz gekommen war und sehr bescheiden in einem Wirtshaus wohnte, erhielt also eine Einladung zum Fest des Fürsten Polonia. Ihr Mädchen kleidete sie mit ungewöhnlicher Sorgfalt an, und sie ging zu diesem feinen Ball, auf den Arm von Major Loder gelehnt, mit dem sie damals zufällig reiste. Es war derselbe Loder, der im Jahr darauf in Neapel den Fürsten Ravioli erschoß und den Sir John Buckskin durchprügelte, weil er außer den vier Königen im Ekarté noch weitere vier im Hut mit herumtrug. Das Paar wandelte durch die Räume, und Becky erblickte viele bekannte Gesichter aus glücklicheren Tagen, da sie zwar nicht unschuldig, aber noch nicht entlarvt war. Major Loder kannte eine Menge Ausländer, bärtige Männer mit scharfem Blick, schmutzigen Ordensbändern im Knopfloch und sehr wenig Aufwand an Wäsche. Seine eigenen Landsleute jedoch mieden den Major. Auch Becky kannte hie und da einige Damen – französische Witwen, zweifelhafte italienische Gräfinnen, die von ihren Ehemännern schlecht behandelt worden waren. Aber pfui, was sollen wir, die wir uns doch auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit in der besten Gesellschaft bewegt haben, von diesem Abschaum von Schurken noch sagen? Wenn wir spielen, so spielen wir mit sauberen Karten und nicht mit diesem schmutzigen Pack. Jeder aus dem zahllosen Heer von Reisenden hat jedoch schon diese irregulären Marodeure gesehen, die wie Nym und Pistol mit der Hauptmacht herumziehen, die Farben des Königs tragen und mit dem königlichen Offizierspatent prahlen, aber auf eigene Faust plündern und zuweilen am Wege aufgehängt werden.

Major Loder und sie wandelten also Arm in Arm durch die Gemächer, tranken eine große Menge Champagner an dem Büfett, wo die Gäste und besonders die irregulären Truppen des Majors wütend um Erfrischungen kämpften. Als das Paar genug davon hatte, gingen sie weiter, bis sie den rosa Plüschsalon der Herzogin am Ende der Zimmerflucht erreicht hatten, wo die Venusstatue steht und die großen venezianischen silbergerahmten Spiegel hängen. Dort bewirtete die fürstliche Familie ihre vornehmsten Gäste an einem runden Tisch. Es war genauso ein kleines erlesenes Bankett wie das, an dem Becky bei Lord Steyne teilgenommen hatte, wie sie sich entsann, und da – da erblickte sie ihn an Polonias Tafel. Die Narbe von dem Schnitt des Diamanten auf seiner weißen, kahlen, glänzenden Stirn war feuerrot. Sein roter Backenbart hatte eine purpurne Tönung, die das bleiche Gesicht noch bleicher machte. Er trug das Blaue Band und seinen Hosenbandorden und noch ein paar Auszeichnungen. Er war ein bedeutenderer Fürst als alle anderen dort, obwohl ein regierender Herzog und eine Königliche Hoheit mit ihren Prinzessinnen anwesend waren. Neben dem Lord saß die schöne Gräfin Belladonna geborene Glandier. Ihr Gemahl, Graf Paolo della Belladonna, sehr bekannt durch seine herrliche Insektensammlung, war schon seit langer Zeit abwesend: als Gesandter beim Kaiser von Marokko.

Als Becky dieses vertraute, erlauchte Gesicht erblickte, wie ordinär kam ihr plötzlich Major Loder vor und wie abscheulich der ewig nach Tabak riechende Hauptmann Rook. Augenblicklich gewann sie die Haltung einer Dame zurück und versuchte auszusehen und sich zu fühlen, als ob sie von neuem in Mayfair wäre. Dieses Weib scheint geistlos und schlechtgelaunt zu sein, dachte sie. Ich glaube bestimmt, daß sie ihn nicht unterhalten kann. Nein, er muß sich bei ihr langweilen – das hat er bei mir nie getan. Hundert rührende Hoffnungen, Befürchtungen und Erinnerungen klopften in ihrem kleinen Herzen, als sie mit strahlenden Augen (das Rouge, das sie bis zu den Augenlidern auftrug, ließ sie funkeln) den hohen Adligen ansah. An Abenden, wo er mit dem Hosenbandorden auftrat, legte Lord Steyne auch sein großartigstes Benehmen an und sah aus und sprach wie der Fürst, der er war. Becky bewunderte ihn, wie er leicht, stolz und majestätisch lächelte. Ah, bon Dieu, was für ein angenehmer Gesellschafter war er doch, was für einen brillanten Witz, welch köstliche Unterhaltungsgabe, welch großartiges Benehmen er doch hatte! Und das hatte sie eingetauscht gegen Major Loder, der nach Zigarren und Schnaps duftete, und Hauptmann Rook mit seinen Pferdestallwitzen und seiner Boxersprache. Mal sehen, ob er mich erkennt, dachte sie. Lord Steyne scherzte gerade mit einer sehr vornehmen Dame an seiner Seite, als er aufsah und Becky erblickte.

Sie zitterte am ganzen Körper, als sich ihre Augen trafen; dabei setzte sie ihr schönstes Lächeln auf und machte ihm einen kleinen, schüchternen, flehenden Knicks. Er starrte sie offenen Mundes eine Minute lang entsetzt an, wie Macbeth, als er Banquos Geist an seiner Tafel erblickt, bis sie der schreckliche Major Loder hinwegzog.

»Kommen Sie ins Speisezimmer, Mrs. Rawdon«, sagte dieser Herr. »Wenn ich die Pomadenhengste da drin einhauen sehe, bekomme ich auch Appetit. Kommen Sie, wir wollen den Champagner des Alten noch einmal versuchen.« Becky glaubte allerdings, der Major habe schon etwas zuviel davon.

Am nächsten Tage ging sie auf dem Pinciushügel, dem Hyde Park der römischen Müßiggänger, spazieren, vielleicht in der Hoffnung, Lord Steyne wiederzusehen. Sie traf dort jedoch einen anderen Bekannten, Monsieur Fiche, den treuen Diener des Lords, der mit einem vertraulichen Nicken auf sie zukam und mit einem Finger an den Hut tippte. »Ich wußte, daß Madame hier ist«, sagte er. »Ich bin ihr vom Hotel aus gefolgt. Ich habe Madame einen Rat zu geben.«

»Von Marquis von Steyne?« fragte Becky unter Aufbietung aller ihrer Würde, von Hoffnungen und Erwartungen erregt.

»Nein«, erwiderte der Diener. »Er kommt von mir. Rom ist sehr ungesund.«

»Nicht zu dieser Jahreszeit, Monsieur Fiche. Erst nach Ostern.«

»Ich erkläre, Madame, es ist auch jetzt ungesund. Ein paar Leute können immer Malaria bekommen. Der verfluchte Sumpfwind fordert zu jeder Jahreszeit seine Opfer. Sehen Sie, Madame Crawley, Sie sind stets ein bon enfant gewesen, und ich nehme Anteil an Ihnen, parole d'honneur! Lassen Sie sich warnen! Ich sage Ihnen, verlassen Sie Rom, oder Sie werden krank werden und sterben.«

Becky lachte, allerdings vor Zorn und Wut. »Was, mich armes Wesen ermorden?« rief sie. »Wie romantisch! Hat der Lord Meuchelmörder als Reisediener und Dolche in seinem Packwagen? Pah! Ich werde bleiben, und wenn auch nur, um ihn zu quälen. Ich habe auch Leute, die mich verteidigen werden, solange ich hier bin.«

Nun war es an Monsieur Fiche, zu lachen. »Sie verteidigen!« rief er. »Aber wer? Der Major, der Hauptmann? Jeder von diesen Spielern, mit denen Madame Bekanntschaft pflegt, würde Sie für hundert Louisdor umbringen. Wir wissen Dinge von Major Loder (der ebensowenig Major ist, wie ich Marquis bin), die ihn auf die Galeeren bringen würden oder noch Schlimmeres. Wir wissen alles und haben Freunde überall. Wir wissen, mit wem Sie in Paris zusammen waren und was für Verwandte Sie dort gefunden haben. Ja, Madame, Sie mögen große Augen machen, aber es stimmt. Wie kommt es, daß kein Gesandter auf dem Kontinent Madame empfangen hat? Madame hat jemanden beleidigt, der niemals vergibt – dessen Wut sich verdoppelte, als er Sie sah. Gestern abend, als er nach Hause kam, benahm er sich wie ein Wahnsinniger. Madame de Belladonna hat ihm Ihretwegen eine Szene gemacht und einen ihrer Wutanfälle gehabt.«

»Ach so, Madame de Belladonna!« meinte Becky ein wenig erleichtert, denn die Mitteilung von eben hatte sie doch erschreckt.

»Nein – sie spielt keine Rolle – sie ist immer eifersüchtig. Ich sage Ihnen, es war der gnädige Herr. Sie taten nicht gut daran, sich ihm zu zeigen, und wenn Sie hierbleiben, dann werden Sie es bereuen. Denken Sie an meine Worte. Gehen Sie. Da ist Mylords Wagen« – und er ergriff Becky am Arm und zog sie in eine Allee des Gartens hinein, als Lord Steynes wappenschimmernde Kutsche, gezogen von unschätzbar teuren Pferden, herangedonnert kam. Neben Madame de Belladonna, der dunklen verdrossenen Schönheit mit einem Wachtelhündchen im Schoß und einem weissen Schirm über dem Kopf, lehnte totenblaß mit gespenstischem Blick der alte Lord Steyne. Haß, Zorn und Begierde vermochten seine Augen ab und zu noch zu beleben. Gewöhnlich aber waren sie tot und schienen es müde zu sein, in eine Welt zu blicken, deren Freuden und Schönheiten für den zerrütteten lasterhaften Alten ihren Reiz verloren hatten.

»Der gnädige Herr hat sich von der Erschütterung jener Nacht nie mehr erholt, nie«, flüsterte Monsieur Fiche Mrs. Crawley zu, als der Wagen vorüberschoß und sie ihm aus dem schützenden Gebüsch nachblickte. Das ist auf jeden Fall noch ein Trost, dachte Becky.

Ob nun der Marquis wirklich Mordabsichten gegen Mrs. Becky hegte, wie Monsieur Fiche erklärt hatte (nach den Tod seines Herrn kehrte er übrigens in sein Vaterland zurück und lebt dort sehr geachtet, nachdem er von seinem Fürsten den Titel eines Baron Ficci gekauft hat), und ob bloß das Faktotum sich weigerte, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, oder ob er einfach den Auftrag hatte, Mrs. Crawley aus der Stadt zu verscheuchen, wo der Lord den Winter zubringen wollte, da ihr Anblick dem hoher Adligen sehr unangenehm sein würde – dies ist eine Frage die niemals geklärt worden ist. Die Drohung wirkte jedoch bei der kleinen Frau, und sie machte keine Versuche mehr sich ihrem alten Gönner aufzudrängen.

Jeder kennt das traurige Ende dieses Edelmannes, das ihn zwei Monate nach der französischen Revolution vor 1830 in Neapel ereilte. Der sehr ehrenwerte George Gustavus Marquis von Steyne, Graf von Gaunt und Schloß Gaunt, Peer im irischen Adel, Viscount Hellborough, Baron Pitchley und Grillsby, Ritter des Hosenbandordens des Goldenen Vlieses von Spanien, des russischen Sankt Nikolaus-Ordens erster Klasse, des türkischen Halbmondordens, erster Lord des Haarpuderkabinetts und Kammerherr der Hintertreppe, Oberst der Gauntschen Miliztruppen des Königs, Vorstandsmitglied des Britischen Museums, Prior des Trinity-Hauses, Vorsteher der Weißen Mönche und Dr. jur. civ., starb nach einer Reihe von Schlaganfällen, die, nach Ansicht der Zeitungen, der Kummer über den Sturz des französischen Thrones bewirkt hatte.

In einer Wochenschrift erschien eine beredte Aufstellung seiner Tugenden, seiner Großmut, seiner Talente und seiner guten Taten. Seine Gefühle für das erlauchte Haus der Bourbonen und seine Liebe zu ihnen, mit denen er verwandt zu sein angab, ließen ihn das Unglück seiner hohen Vettern nicht überleben. Seinen Körper begrub man in Neapel, aber sein Herz – das Herz, das stets nur in edlem und großmütigem Bestreben schlug, wurde in einer silbernen Urne nach Schloß Gaunt gebracht. »Mit ihm«, erklärte Mr. Wagg, »haben die Armen und die schönen Künste einen wohltätigen Gönner, die Gesellschaft eine ihrer glänzendsten Zierden und England einen seiner erhabensten Patrioten und Staatsmänner verloren« und so weiter und so fort.

Sein Testament brachte viel Streit mit sich. Es wurde versucht, Madame de Belladonna das unter dem Namen Judenaugen-Diamant berühmte Juwel zu entreißen, das der Lord stets am Zeigefinger getragen hatte und das sie ihm nach seinem beklagenswerten Hinscheiden abgezogen haben sollte. Sein vertrauter Freund und Diener Monsieur Fiche bewies jedoch, daß der Marquis der besagten Madame de Belladonna den Ring zwei Tage vor seinem Tod geschenkt hatte, ebenso wie die Banknoten und Juwelen, die neapolitanischen und französischen Staatspapiere und andere Dinge, die sich in dem Sekretär des Lords fanden und die seine Erben von der beleidigten Frau zurückforderten.


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