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Freund Rawdon fuhr also zum Hause von Mr. Moss in der Cursitor Street und wurde in diese traurige Stätte der Gastfreundschaft gebührend eingeführt. Der Morgen zog über den freundlichen Giebeln der Chancery Lane herauf, als die ratternde Droschke die Echos dort weckte. Ein kleiner blinzelnder Judenjunge, mit einem Kopf so rot wie der erwachende Morgen, ließ die Gesellschaft ins Haus ein. Mr. Moss, Rawdons Reisegefährte und Wirt, hieß seinen Gast willkommen und fragte heiter, ob er nach der Fahrt wohl etwas Warmes trinken wolle.
Der Oberst war nicht so gedrückt, wie man von einem Sterblichen erwartet hätte, der einen Palast und eine placens uxor verließ, um sich in einem Schuldgefängnis wiederzufinden, denn er hatte, um bei der Wahrheit zu bleiben, schon früher ein paarmal in Mr. Moss' Anstalt gewohnt. Wir hielten es im früheren Verlauf dieser Erzählung nicht für nötig, diese unerheblichen häuslichen Vorfälle zu erwähnen. Der Leser kann jedoch versichert sein, daß das im Leben eines Mannes, der von nichts lebt, häufig vorkommt.
Von seinem ersten Besuch bei Mr. Moss war der Oberst, damals noch Junggeselle, durch die Großmut seiner Tante befreit worden. Bei dem zweiten Unfall hatte die kleine Becky in aller Freundlichkeit eine Geldsumme von Lord Southdown geborgt und dem Gläubiger ihres Mannes (der in Wirklichkeit ihr Lieferant für Schals, Samtkleider, Spitzentaschentücher, Juwelen und Flitter war) so lange geschmeichelt, bis er sich mit einem Teil der verlangten Summe und für den Rest mit einem Schuldschein von Rawdon zufriedengab. Beide Male waren also Gefangennahme und Befreiung auf allen Seiten sehr höflich vor sich gegangen, und Moss befand sich daher mit dem Oberst im besten Einvernehmen.
»Sie werden Ihr altes Bett wieder vorfinden und jede Bequemlichkeit haben, Oberst, das kann ich ehrlich behaupten. Sie können sich darauf verlassen, daß es gut gelüftet ist, und noch dazu von der besten Gesellschaft. Vorgestern nacht schlief darin der ehrenwerte Hauptmann Famish vom 50. Dragonerregiment. Seine Mama holte ihn erst nach vierzehn Tagen hier heraus, um ihn zu bestrafen, wie sie sagte. Aber, du lieber Gott, ich sage Ihnen, er strafte meinen Champagner und gab jeden Abend hier eine Gesellschaft – die nobelsten Stutzer aus den Klubs und von West End: Hauptmann Ragg, der ehrenwerte Deuceace, der im Temple wohnt, und einige andere junge Kerls, die ein gutes Glas Wein kennen, das kann ich Ihnen sagen. Oben habe ich einen Doktor der Theologie, und im Kaffeezimmer sind fünf große Herren. Mrs. Moss hat um halb sechs eine Tabbel de hotte, und dann gibt es Kartenspielen oder Musik. Wir werden uns glücklich schätzen, Sie zu sehen.«
»Ich läute, wenn ich etwas brauche«, sagte Rawdon und ging ruhig in sein Schlafzimmer. Er war, wie gesagt, ein alter Soldat und von kleinen Schicksalsschlägen nicht so schnell zu erschüttern. Ein Schwächerer hätte seiner Frau im Augenblick seiner Gefangennahme geschrieben. Was nützt es denn aber, ihre Nachtruhe zu stören, dachte Rawdon, sie wird es nicht einmal wissen, ob ich in meinem Zimmer bin oder nicht. Es bleibt noch Zeit genug, ihr zu schreiben, wenn sie ausgeschlafen hat und ich auch. Es sind nur hundertsiebzig, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht soviel aufbringen könnten. Damit legte sich der Oberst in das Bett, das zuletzt Hauptmann Famish benutzt hatte, und dachte an den kleinen Rawdon (der nicht erfahren sollte, an was für einem seltsamen Ort er sich befand). Dann schlief er ein. Es war zehn Uhr, als er aufwachte, und der rotköpfige Jüngling brachte ihm mit selbstbewußtem Stolz einen feinen, silbernen Toilettenkasten, damit er sich rasieren könnte. In der Tat war Mr. Moss' Haus zwar etwas schmutzig, aber doch durch und durch großartig. Auf den Seitentischen standen ewig Tabletts und Weinkühler herum, in den vergitterten Fenstern, die auf die Cursitor Street hinausgingen, hingen an mächtigen, vergoldeten, schmutzigen Gardinenstangen schmierige gelbe Atlasvorhänge. Breite, schmutzige Goldrahmen umgaben Jagd- und Heiligenbilder von den größten Meistern. Sie erzielten bei den Schuldgeschäften, bei denen sie fortwährend gekauft und verkauft wurden, höchste Preise. Dem Oberst wurde das Frühstück auf ebenso schmierigem wie prachtvollem Geschirr serviert. Miss Moss, ein schwarzäugiges Mädchen mit Lockenwickeln, erschien mit der Teekanne und fragte den Oberst lächelnd, wie er geschlafen habe. Sie brachte ihm die »Morning Post« mit den Namen aller Vornehmen, die an Lord Steynes Fest am vergangenen Abend teilgenommen hatten. Sie enthielt auch einen glänzenden Bericht über den Ball und das bewundernswerte Auftreten der schönen und talentierten Mrs. Rawdon Crawley.
Nach einem munteren Schwätzchen mit der Dame, die in bequemer Haltung auf der Kante des Frühstückstisches saß und ihren Strumpf und einen früher einmal weiß gewesenen, abgelaufenen Atlasschuh zeigte, verlangte Oberst Crawley Tinte, Feder und Papier und nahm auf die Frage, wie viele Bogen er brauche, einen, den ihm Miss Moss zwischen Zeigefinger und Daumen reichte. Manchen Bogen hatte das schwarzäugige junge Fräulein hereingebracht, manch armer Bursche hatte unter Klecksen eiligst seitenlange Bitten hingekritzelt und war in diesem furchtbaren Zimmer auf und ab gegangen, bis sein Bote die Antwort zurückbrachte. Arme Leute benutzten immer einen Boten statt der Post. Wer hat nicht schon solche Briefe mit noch feuchter Siegelmarke und der Mitteilung erhalten, daß jemand im Hausflur auf Antwort warte.
Wegen seines Anliegens hegte Rawdon eigentlich kaum Befürchtungen.
»Liebe Becky!«
schrieb er. »Ich hoffe, das Du gut geschlafen hast. Kriek keinen Schreck, wenn ich Dir nicht Deinen Kaffee bringe. Als ich gestern nacht rauchend nachhause ging, hatte ich einen kleinen Unfall. Moss von der Cursitor Street hat mich geschnappt und schreibe Dir dies aus seinem vergoldeten Prachtzimmer – dasselbe, wo ich schon vor zwei Jahren gewesen bin. Miss Moss hat mir den Tee gebracht, und sie ist sehr fett geworden und ihre Strümpfe zogen wie immer Wasser.
Es ist die Sache mit Nathan – hundertfünfzig – mit Unkosten hundertsiebzig. Sei so gut, schick mir mein Schreibzeug und ein paar Kleider – ich bin noch in Tanzschuhen und weißer Krawatte (fast wie Miss Moss' Strümpfe). Siebzig habe ich bei mir. Sobald Du dies erhältst, fahre zu Nathan und biete ihm fünfundsiebzig in bar und bitte ihn, den Wechsel zu verlängern. Sag ihm, daß ich Wein nehmen werde – wir können sowieso etwas Sherry gebrauchen –, aber keine Geschmeide, die sind zu teuer.
Wenn er nicht darauf eingeht, so nimm meine Uhr und was Du von Deinen Sachen entbehren kannst und verpfände sie – heute abend müssen wir natürlich die Summe haben. Ich möchte nicht, daß es sich verzögert, weil Morgen ist Sonntag. Die Betten hier sind nicht sehr reinlich, und es könnten auch andere Sachen gegen mich vorliegen. Ich bin froh, daß es nicht der Sonnabend ist, wo Rawdon nach Hause kommt. Gott behüte Dich. In aller Eile Dein
R. C.
PS: Mach schnell und komm.«
Diesen Brief versiegelte Rawdon mit einer Siegelmarke und schickte ihn durch einen der Boten, die stets in der Nähe des Hauses Moss herumlungerten, ab. Nachdem er ihn hatte weggehen sehen, begab er sich in den Hof hinaus und rauchte dort trotz der Eisenstangen über seinem Kopf seine Zigarre mit leidlicher Ruhe. Mr. Moss hat nämlich seinen Hof wie einen Käfig vergittern lassen, damit die Herren, die bei ihm wohnen, nicht etwa den Einfall bekommen, seiner Gastfreundschaft zu entfliehen.
Er rechnete sich aus, daß Becky spätestens in drei Stunden kommen und ihm die Gefängnistür öffnen würde, und er verbrachte diese Zeit ziemlich munter mit Rauchen, Zeitunglesen und Plaudern im Kaffeezimmer. Mit einem Bekannten, Hauptmann Walker, der zufällig auch da war, spielte er dann einige Stunden mit ungefähr gleichem Glück auf beiden Seiten um Sixpencestücke.
Aber der Tag verging, und kein Bote kam zurück, keine Becky. Mr. Moss rief zur festgesetzten Zeit, um halb sechs Uhr, zur »Tabbel de hotte«, bei der sich die Bewohner des Hauses, die sich das Bankett leisten konnten, in dem vorhin erwähnten prächtigen Vorderzimmer trafen, das neben Mr. Crawleys zeitweiliger Unterkunft lag. Miss Moss erschien ohne die Lockenwickel des Morgens, und Mrs. Moss bewirtete ihre Gäste mit einer erstklassigen gekochten Hammelkeule und Rüben. Der Oberst aß jedoch mit sehr wenig Appetit. Der Bitte, eine Flasche Champagner für die Gesellschaft zu spendieren, kam er nach. Die Damen tranken auf sein Wohl, und Mr. Moss prostete ihm zu, so höflich er konnte.
Mitten in diesem Mahl ertönte jedoch die Türglocke. Der junge Moss mit den roten Haaren erhob sich mit den Schlüsseln und öffnete. Als er zurückkam, berichtete er dem Oberst, daß der Bote mit einem Beutel, einem Schreibpult und einem Brief zurückgekommen sei, und übergab alles. »Keine Umstände, Oberst, ich bitte«, sagte Mrs. Moss mit einer Handbewegung, und er öffnete zitternd den Brief. Es war ein schöner Brief, stark parfümiert, auf rosa Papier, mit hellgrünem Siegel.
»Mon pauvre eher petit«, schrieb Mrs. Crawley. »Ich habe vor Sorge um mein häßliches altes Ungeheuer die ganze Nacht kein Auge zugetan und kam erst am Morgen zur Ruhe, als mir Doktor Blench (zu dem ich geschickt hatte, denn ich war fiebrig) einen Beruhigungstrank gegeben hatte. Er befahl Fifine, daß sie unter keinen Umständen zulassen dürfe, daß ich gestört würde. So kam es, daß der Bote meines armen alten Mannes, der eine bien mauvaise mine hatte, wie Fifine sagte, und sentait le geniévre, in der Halle mehrere Stunden auf mein Klingeln warten mußte. Du kannst Dir meinen Zustand vorstellen, als ich Deinen armen lieben alten Brief las, der von Fehlern nur so wimmelte.
Obwohl ich so krank war, ließ ich doch augenblicklich den Wagen kommen, und sobald ich angekleidet war (von der Schokolade konnte ich keinen Tropfen trinken, das versichere ich Dir, ich konnte einfach nicht, weil mein Ungeheuer sie mir nicht gebracht hatte), fuhr ich ventre à terre zu Nathan. Ich traf ihn auch an und weinte und schrie – ich warf mich dem Abscheulichen sogar zu Füßen. Aber nichts konnte den entsetzlichen Menschen erweichen. Er wolle die ganze Summe, sagte er, oder mein armes Ungeheuer im Gefängnis festhalten. Ich fuhr mit der Absicht nach Hause, dem Onkel einen traurigen Besuch abzustatten. Jedes Schmuckstück, das ich besitze, sollte Dir zur Verfügung stehen, wenn auch alle zusammen kaum hundert Pfund einbringen würden, denn Du weißt ja, daß schon einige bei dem lieben Onkel sind. Dort traf ich Mylord mit dem alten bulgarischen Schafsgesicht an. Sie waren gekommen, um mir wegen der gestrigen Aufführung Komplimente zu machen. Auch Paddington kam und dehnte die Worte und lispelte und drehte sein Haar, ebenso wie Champignac und sein Chef – alle mit einer Unmenge von Komplimenten und hübschen Redensarten. Sie quälten mich Arme, die darauf brannte, sie loszuwerden, und jeden Augenblick an ihren armen Gefangenen dachte.
Als sie fort waren, fiel ich vor Mylord auf die Knie, erzählte ihm, daß wir alles versetzen müßten, und bat und flehte, mir zweihundert Pfund zu geben. Er polterte und tobte, sagte, ich solle nicht so dumm sein, etwas zu versetzen, und versprach, er wolle sehen, ob er mir das Geld borgen könne. Endlich ging er fort und versprach, es mir morgen früh zu schicken. Dann werde ich es sofort meinem armen Ungeheuer bringen mit einem Kuß von seiner ihn liebenden
Rebekka.
PS: Ich schreibe im Bett – oh, ich habe schlimme Kopfschmerzen und solch ein Herzweh.«
Als Rawdon diesen Brief las, wurde er so rot und sah so wild aus, daß die Gesellschaft an der Table d'hôte schnell begriff, daß er schlimme Nachrichten erhalten habe. Aller Argwohn, den er zu verscheuchen versucht hatte, kehrte mit doppelter Gewalt wieder. Sie schaffte es nicht einmal, wegzugehen und ihre Schmucksachen zu verkaufen, um ihn zu befreien; sie konnte lachen und von Komplimenten sprechen, die man ihr machte, während er im Gefängnis saß. Wer hatte ihn dahin gebracht? Wenham war mit ihm gegangen, sollte da vielleicht... ? Er wagte kaum, an das zu denken, was er argwöhnte. Eiligst verließ er das Zimmer und lief in sein eigenes. Er öffnete sein Schreibpult und warf zwei Zeilen aufs Papier, die er an Sir Pitt oder Lady Crawley richtete. Er bat den Boten, sie sogleich zur Gaunt Street zu bringen. Er ließ ihn eine Droschke nehmen und versprach ihm eine Guinee, wenn er in einer Stunde wieder zurück sein würde.
In dem Billett ersuchte er seinen lieben Bruder und seine Schwägerin um Gottes, seines lieben Kindes und seiner Ehre willen, zu ihm zu kommen und ihm in seinen Schwierigkeiten zu helfen. Er sei im Gefängnis. Er brauche hundert Pfund, um frei zu werden. Er flehte sie an, zu ihm zu kommen.
Nachdem er den Boten weggeschickt hatte, begab er sich wieder ins Speisezimmer und rief nach mehr Wein. Den anderen fiel auf, daß er mit seltsamer Lebhaftigkeit redete und lachte. Zuweilen lachte er wie wahnsinnig über seine eigenen Befürchtungen und trank dann weiter, aber während der ganzen Stunde lauschte er auf den Wagen, der sein Schicksal besiegeln sollte.
Als die Zeit verflossen war, hörte man Wagenräder zum Tor heranrollen, und der junge Pförtner eilte mit den Schlüsseln hinaus. Er ließ eine Dame durch die Tür des Gerichtsdieners eintreten.
»Oberst Crawley«, sagte sie, heftig zitternd. Er schloß mit schlauem Blick die äußere Tür hinter ihr, öffnete dann die innere und rief: »Oberst, Sie werden gewünscht!« Dann führte er sie in das Hinterzimmer, das Rawdon bewohnte.
Der Oberst trat aus dem Speisezimmer, wo sie alle zechten, in sein Hinterzimmer. Ein breiter Streifen grellen Lichtes folgte ihm in den Raum, wo die Dame, sichtlich nervös, noch stand.
»Ich bin es, Rawdon«, sagte sie furchtsam, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu verleihen. »Ich – Jane.« Rawdon war von diesen gütigen Lauten und der Erscheinung ganz überwältigt. Er lief ihr entgegen, schloß sie in die Arme, stammelte einige unzusammenhängende Dankesworte und schluchzte heftig an ihrer Schulter. Sie verstand die Ursache seiner Erregung nicht.
Mr. Moss' Rechnung war bald berichtigt, vielleicht sogar zum Ärger dieses Herrn, der darauf gerechnet hatte, den Oberst wenigstens über Sonntag als Gast zu behalten. Mit strahlendem Lächeln und Glück in den Augen führte Jane Rawdon aus dem Haus des Gerichtsvollziehers fort und fuhr mit ihm in der Droschke heim, in der sie zu seiner Erlösung herbeigeeilt war. Pitt sei bei einem Parlamentsessen gewesen, erzählte sie, als sein Billett gekommen sei, »und deshalb, lieber Rawdon, bin ich – ich selbst gekommen«. Mit diesen Worten legte sie ihre gütige Hand in seine. Vielleicht war es für Rawdon Crawley nur gut gewesen, daß Pitt zum Essen ausgegangen war. Er bedankte sich bei seiner Schwägerin hundertmal und so glühend, daß die weichherzige Frau gerührt und fast beunruhigt war. »Oh!« sagte er in seiner rauhen, schlichten Art, »Du – du weißt nicht, wie sehr ich mich verändert habe, seit ich dich, und – und den kleinen Rawdon habe. Ich – ich möchte gern anders werden. Weißt du, ich möchte – ich möchte –ein...« Er beendete den Satz nicht, aber sie wußte, was er meinte, und als er sie an diesem Abend verlassen hatte und sie am Bett ihres eigenen kleinen Knaben saß, betete sie demütig für den armen müden Sünder.
Rawdon verließ sie und ging eiligst nach Hause. Es war neun Uhr abends. Er rannte durch die Straßen und überquerte die großen Plätze des Jahrmarkts der Eitelkeit, und endlich stand er atemlos vor seinem Haus. Nach dem ersten Blick fuhr er zurück und sank zitternd gegen das eiserne Gitter. Die Salonfenster waren strahlendhell erleuchtet, und dabei hatte sie gesagt, sie läge krank im Bett. Eine Zeitlang stand er da, und das Licht aus den Zimmern schien auf sein bleiches Gesicht
Er zog seinen Hausschlüssel hervor und öffnete die Tür. Aus den oberen Zimmern konnte er Gelächter hören. Er trug noch den Ballanzug, in dem er in der letzten Nacht gefangengenommen worden war. Schweigend stieg er die Treppe hinauf und lehnte sich oben gegen das Geländer. Im ganzen Haus rührte sich sonst nichts – alle Diener hatten Ausgang. Rawdon hörte drinnen Lachen – Lachen und Gesang. Becky sang eine Stelle aus dem Lied vom Abend vorher, eine heisere Stimme rief: »Bravo! Bravo!« Es war die von Lord Steyne.
Da öffnete Rawdon die Tür und trat ein. Auf einem kleinen Tisch war für ein Diner gedeckt, Wein und Silber standen bereit. Steyne lehnte über dem Sofa, auf dem Becky saß. Die nichtswürdige Frau war in glänzender Garderobe; ihre Arme und Finger schimmerten von Reifen und Ringen, und auf ihrer Brust funkelten Brillanten – das Geschenk Steynes. Er hielt ihre Hand in seiner und beugte sich zum Kuß darüber, als Rebekka Rawdons weißes Gesicht bemerkte und mit einem schwachen Schrei hochfuhr. Im nächsten Augenblick versuchte sie ein Lächeln, ein schreckliches Lächeln, als ob sie ihren Mann willkommen heißen wollte. Steyne erhob sich zähneknirschend, bleich und wütend.
Auch er versuchte zu lachen und trat ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. »Nun, zurückgekommen? Wie geht es Ihnen, Crawley?« fragte er, und seine Lippen zuckten, als er dem Eindringling zuzulächeln suchte.
In Rawdons Gesicht lag etwas, was Becky veranlaßte, sich vor ihm niederzuwerfen. »Ich bin unschuldig, Rawdon«, sagte sie, »bei Gott, ich bin unschuldig.« Sie klammerte sich an seinen Rock, an seine Hände; ihre eigenen waren mit Schlangen, Ringen und anderem Schmuck völlig bedeckt. »Ich bin unschuldig! Sagen Sie ihm, daß ich unschuldig bin«, sagte sie zu Lord Steyne.
Der Marquis glaubte, man habe ihm eine Falle gestellt, und war ebenso wütend auf die Frau wie auf den Mann. »Sie unschuldig! Verdammt noch mal!« schrie er; »Sie unschuldig! Jedes Schmuckstück, das Sie am Leibe tragen, habe ich bezahlt. Ich habe Ihnen Tausende von Pfund gegeben, und dieser Kerl hat sie ausgegeben und Sie dafür verkauft. Unschuldig! Zum Teufel! Sie sind ebenso unschuldig wie Ihre Mutter, das Ballettmädchen, und Ihr Mann, der Zuhälter. Glaubt nicht, daß ihr mich einschüchtern könnt, wie es euch bei anderen geglückt ist. Machen Sie Platz, mein Herr, und lassen Sie mich vorbei.« Lord Steyne ergriff seinen Hut und trat mit flammenden Augen, den wilden Blick auf seinen Feind gerichtet, auf den anderen zu. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß dieser ausweichen würde.
Aber Rawdon Crawley sprang auf ihn los und packte ihn am Halstuch, bis sich Steyne fast erstickt unter seinem Arm krümmte und wand. »Du lügst, du Hund!« rief Rawdon. »Du lügst, du Feigling, du Schurke.« Und er schlug dem Peer zweimal mit der offenen Hand ins Gesicht und warf ihn blutend zu Boden. Das alles war geschehen, noch ehe Rebekka sich ins Mittel legen konnte. Zitternd stand sie vor Rawdon und bewunderte ihren starken mutigen und siegreichen Gatten.
»Komm her«, sagte er. Sofort trat sie zu ihm.
»Leg das Zeug da ab.« Sie begann zitternd die Juwelen von den Armen zu streifen und die Ringe abzusetzen und hielt ihm den ganzen Haufen bebend hin. »Wirf sie weg!« sagte er, und sie ließ alles fallen. Er riß ihr den Diamantschmuck von der Brust und warf ihn Lord Steyne ins Gesicht. Er zerschnitt ihm die kahle Stirn. Steyne behielt die Narbe, bis er starb.
»Komm mit hinauf!« sagte Rawdon zu seiner Frau. »Töte mich nicht, Rawdon«, sagte sie. Er lachte wild.
»Ich will nur sehen, ob der Mann in bezug auf das Geld ebenso gelogen hat wie über mich. Hat er dir welches gegeben?«
»Nein«, sagte Rebekka, »das heißt...«
»Gib mir deine Schlüssel«, antwortete Rawdon, und sie gingen zusammen hinaus.
Rebekka gab ihm alle Schlüssel außer einem, und sie hoffte, daß er nicht bemerken würde, daß dieser fehlte. Er gehörte zu dem kleinen Schreibpult, das ihr Amelia früher einmal geschenkt hatte und das sie an einem geheimen Platz versteckt hielt. Rawdon riß alle Kästen und Schränke auf und verstreute den Tand, der sich darin befand, im ganzen Zimmer. Schließlich fand er das kleine Pult. Er zwang die Frau, es zu öffnen. Es enthielt Papiere, viele Jahre alte Liebesbriefe, allerlei Kleinigkeiten und weiblichen Flitterkram. Außerdem enthielt es eine Brieftasche mit Banknoten. Einige waren von vor zehn Jahren datiert, eine aber war ganz neu – eine Tausendpfundnote, die Lord Steyne ihr gegeben hatte.
»Hast du die von ihm?« fragte Rawdon.
»Ja«, antwortete Rebekka.
»Ich werde sie ihm heute zurückschicken«, fuhr er fort (denn der Tag dämmerte bereits herauf, und viele Stunden waren über dem Suchen vergangen). »Ich will der Briggs, die freundlich gegen den Jungen gewesen ist, ihres zurückgeben und einige von den Schulden bezahlen. Du wirst mich wissen lassen, wohin ich dir das übrige senden kann. Von alldem da hättest du wohl hundert Pfund für mich erübrigen können, Becky – ich habe stets mit dir geteilt.«
»Ich bin unschuldig!« sagte Becky. Er verließ sie, ohne ein weiteres Wort.
Was dachte Rebekka, als er sie verlassen hatte? Stundenlang blieb sie nach seinem Weggang allein. Die Sonne schien hell ins Zimmer, und sie saß immer noch auf der Bettkante. Alle Schubfächer waren herausgezogen, und ihr Inhalt lag verstreut umher – Kleider und Federn, Schärpen und Schmucksachen, ein Haufen zerschellter Eitelkeit. Das Haar fiel ihr über die Schultern herab; wo Rawdon ihr die Brillanten abgerissen hatte, war ihr Kleid zerfetzt. Einige Minuten nachdem er sie verlassen hatte, hörte sie ihn die Treppe hinabgehen und die Tür hinter sich zuschlagen. Sie wußte, daß er nie zurückkehren würde. Er war für immer fort. Wird er sich umbringen? fragte sie sich. Wahrscheinlich nicht, ehe er nicht noch einmal mit Lord Steyne zusammengetroffen war. Sie dachte an ihr langes, vergangenes Leben und all die traurigen Begebenheiten darin. Ach, wie trostlos erschien es ihr, wie elend, einsam und nutzlos! Sollte sie Opium nehmen und Schluß machen mit allen Hoffnungen, Plänen, Schulden und Triumphen? So fand sie die französische Zofe: mit gefalteten Händen und trockenen Augen saß sie inmitten ihrer elenden Trümmer. Das Mädchen war ihre Komplizin und stand in Steynes Sold. »Mon Dieu, Madame, was ist geschehen?« fragte sie.
Was war eigentlich geschehen? War sie schuldig oder nicht? Sie sagte nein. Aber wer war imstande, zu beurteilen, ob diese Lippen die Wahrheit sprachen und das verdorbene Herz in diesem Falle rein war?
All ihre Lügen und Pläne, all ihre Selbstsucht und Ränke, all ihr Witz und Talent waren an einer Stelle gescheitert. Das Mädchen zog die Vorhänge zu, und mit einigem Bitten und wenigstens dem Anschein von Freundlichkeit überredete sie ihre Herrin, sich ins Bett zu legen. Dann ging sie hinunter und sammelte die Schmucksachen auf, die noch immer auf dem Boden umherlagen, seit Rebekka sie auf Befehl ihres Mannes hatte fallen lassen. Lord Steyne hatte sich entfernt.