Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

59. Kapitel

Das alte Klavier

Der Besuch von Major Dobbin versetzte den alten John Sedley in heftige Aufregung. Seine Tochter konnte ihn an jenem Abend nicht dazu veranlassen, sich seinen gewöhnlichen Beschäftigungen und Unterhaltungen zuzuwenden. Er verbrachte die Stunden, indem er in seinen Schubkästen und Schreibpulten kramte, mit zitternder Hand Papierbündel aufknotete und alles sortierte und für Josephs Ankunft zurechtlegte. Sie waren in bester Ordnung – seine Schnüre und Papiere, die Quittungen, der Briefwechsel mit Rechtsanwälten und Geschäftsfreunden, die Dokumente über das Weinprojekt (das durch einen unvorhergesehenen Zufall fehlschlug, nachdem es mit glänzenden Aussichten begonnen hatte), das Kohlenprojekt (das nur aus Kapitalmangel nicht zum erfolgreichsten Plan wurde, den man je der Öffentlichkeit vorgelegt hatte), das Patentsägemühlen- und –sägemehlverdichtungsprojekt und so weiter und so fort. Bis in die Nacht hinein beschäftigte er sich mit dem Ordnen dieser Papiere und wankte mit einer zitternden Kerze in der bebenden Hand von einem Zimmer zum anderen. »Hier sind die Weinpapiere, hier das Sägemehl, hier die Kohlen, hier meine Briefe nach Kalkutta und Madras und die Antworten darauf von Major Dobbin, Träger des Bath-Ordens, und Mr. Joseph Sedley. Er soll bei mir keine Unregelmäßigkeiten finden, Emmy«, sagte der alte Herr.

Emmy lächelte. »Ich glaube nicht, daß es Joseph interessiert, deine Papiere zu sehen«, sagte sie.

»Du verstehst eben nichts von Geschäften, meine Liebe«, erwiderte der Alte und schüttelte wichtig den Kopf. Allerdings war Emmy auf diesem Gebiet wirklich sehr unwissend, aber es ist ein Jammer, daß manche so beschlagen sind. Nachdem der alte Sedley alle diese unbedeutenden Dokumente auf einem Seitentisch ausgebreitet hatte, bedeckte er sie sorgfältig mit einem sauberen bunten Taschentuch (einem Geschenk Major Dobbins) und schärfte dem Dienstmädchen und der Hauswirtin feierlich ein, die Papiere nicht durcheinanderzubringen, die für die Ankunft Mr. Joseph Sedleys am nächsten Morgen bereitgelegt waren, »Mr. Joseph Sedleys vom Zivildienst Bengalen der Ostindischen Kompanie«.

Amelia fand ihn am nächsten Morgen zeitig auf, eifriger, hektischer und zittriger als je. »Ich habe nicht viel geschlafen, liebe Emmy«‹, sagte er. »Ich dachte an meine arme Bessy. Ich wünschte, sie lebte noch, damit sie noch einmal in Josephs Wagen hätte fahren können. Sie hatte ja einen eigenen und nahm sich sehr gut darin aus.« Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen über sein runzliges altes Gesicht. Emmy wischte sie ab und küßte ihn lächelnd. Dann schlang sie das Halstuch des Alten zu einem eleganten Knoten und steckte ihm eine Brosche in seine beste Hemdkrause. In seinem schwarzen Sonntagsanzug saß er nun von sechs Uhr morgens und erwartete die Ankunft seines Sohnes.

In der Hauptstraße von Southampton gibt es einige glänzende Schneidergeschäfte. In den schönen Glasschaufenstern hängen prächtige Westen aller Art aus Samt und Seide, rot und goldfarben, daneben Bilder von der neuesten Mode, auf denen wundervolle Herren mit Monokel kleine Knaben mit ungeheuer großen Augen und lockigem Haar an der Hand halten und Damen zärtliche Blicke zuwerfen, die im Reitkostüm an der Achillesstatue beim Apsley-Haus vorbeigaloppieren. Obwohl Joseph schon eine ganze Anzahl der glänzendsten Westen besaß, die in Kalkutta aufzutreiben waren, so meinte er doch, erst in London erscheinen zu können, wenn er sich mit einigen dieser Kleidungsstücke versehen hätte, und er wählte eine hochrote Atlasweste, mit goldenen Schmetterlingen bestickt, und eine schwarzrotkarierte aus Samt mit weißen Streifen und Rollkragen. Damit, mit einer prächtigen, blauen Atlashalsbinde und einer goldenen Anstecknadel, auf der ein rosa Emaillereiter über ein Gittertor mit fünf Querbalken sprang, glaubte er, würdig genug seinen Einzug in London halten zu können. Josephs frühere Schüchternheit und täppische, errötende Furchtsamkeit waren einer offenen und mutigen Erkenntnis seines eigenen Wertes gewichen. »Ich scheue mich nicht, zuzugeben«, pflegte Waterloo-Sedley zu seinen Freunden zu sagen, »daß ich ein geschniegelter Mann bin.« Wenn er sich unter den Blicken der Damen im Gouverneurspalast immer noch unbehaglich fühlte und vor ihren strahlenden Augen errötete, sich erschreckt abwandte und sie mied, so geschah das doch hauptsächlich aus Furcht, sie könnten sich in ihn verlieben, denn einer Heirat war er gänzlich abgeneigt. Ich habe gehört, daß es in ganz Kalkutta keinen größeren Stutzer als Waterloo-Sedley gab. Er hatte die schönste Equipage, gab die besten Junggesellenessen und besaß das feinste Silber am Platze.

Die Anfertigung dieser Westen für einen Mann von seiner Größe und Würde erforderte mindestens einen Tag. Ein paar Stunden davon verbrachte er damit, für sich und seinen Eingeborenen einen Diener zu suchen und seinen Beauftragten zu instruieren, der sich um sein Gepäck, seine Koffer, seine Bücher, die er nie las, seine Kisten mit Mangofrüchten, Chutney und Curry, seine Schals, die er Leuten schenken wollte, deren Bekanntschaft er noch nicht gemacht hatte, und seine übrigen Persicos apparatus kümmern sollte.

Endlich, am dritten Tage, fuhr er in der neuen Weste gemächlich nach London. Der Eingeborene saß frierend und zähneklappernd, in einen Schal gehüllt, auf dem Bock neben dem neuen europäischen Diener; Joseph schmauchte hin und wieder im Wageninnern seine Pfeife und wirkte so majestätisch, daß kleine Jungen hurra schrien und viele Leute dachten, er müsse wenigstens Generalgouverneur sein. Er lehnte die demütigen Aufforderungen der Wirte, abzusteigen und sich in den netten Landstädtchen zu erfrischen, ganz gewiß nicht ab. Nachdem er in Southampton ein reichliches Frühstück von Fischen, Reis und harten Eiern genossen hatte, hatte er sich in Winchester bereits wieder so weit erholt, daß er ein Glas Sherry für notwendig hielt. In Alton stieg er auf Bitten seines Bedienten aus und trank ein wenig von dem Ale, das den Ort berühmt gemacht hat. In Farnham hielt er an, um den Bischofspalast zu besichtigen und ein leichtes Diner, bestehend aus gedämpftem Aal, Kalbskoteletts und grünen Bohnen nebst einer Flasche Rotwein, zu sich zu nehmen. Als er über die Bagshot-Heide fuhr, wurde es ihm kalt, und auch der Eingeborene klapperte immer heftiger mit den Zähnen. Also trank Joseph Sahib einen Branntwein, und als er nach London kam, war er so voll Wein, Bier, Fleisch, Eingemachtem, Sherry und Tabak wie die Kajüte des Stewards auf einem Dampfer. Es war Abend, als sein Wagen donnernd an der kleinen Tür in Brompton vorfuhr. Hierher war der liebevolle Mensch nämlich zuerst gefahren, ehe er in das Quartier eilte, das Mr. Dobbin ihm bei Slaughter bestellt hatte.

In allen Fenstern der Straße sah man neugierige Gesichter; das kleine Dienstmädchen flog an die Gartentür, die Damen Clapp blickten aus dem Küchenfenster, Emmy stand aufgeregt im Hausflur inmitten von Hüten und Mänteln, und der alte Sedley im Wohnzimmer zitterte an allen Gliedern. Joseph stieg die krachenden, schwankenden Stufen der Postkutsche in einem entsetzlichen Zustand herab. Er wurde von dem neuen Kammerdiener aus Southampton und dem zähneklappernden Eingeborenen unterstützt, dessen braunes Gesicht jetzt vor Kälte blaugrau wie ein Truthahnmagen war. Kurz darauf erregte der Eingeborene ungeheures Aufsehen im Hausflur, als Mrs. und Miss Clapp, die höchstwahrscheinlich heraufgekommen waren, um an der Wohnzimmertür zu lauschen, Loll Jewab auf der Bank im Flur unter den Mänteln fanden. Er zitterte vor Kälte, stöhnte in seltsamer, mitleiderregender Weise und zeigte seine gelben Augäpfel und weißen Zähne.

Sehen Sie, nun haben wir geschickt die Tür hinter dem Wiedersehen Josephs mit seinem Vater und dem armen sanften Schwesterchen geschlossen. Der alte Mann war sehr bewegt und seine Tochter natürlich ebenfalls. Aber auch Joseph blieb nicht ungerührt. Während einer Abwesenheit von zehn langen Jahren denkt sogar der Selbstsüchtigste an die Heimat und an alte Bande. Die Entfernung heiligt beide. Langes Nachdenken über diese verlorenen Freuden macht sie reizvoller und teurer. Joseph war ehrlich froh, seinen Vater, zu dem er sonst ein kühles Verhältnis gehabt hatte, wiederzusehen und ihm die Hand zu schütteln; er war auch froh, sein Schwesterchen zu sehen, die er so hübsch und munter im Gedächtnis hatte, und es tat ihm weh, festzustellen, wie Zeit, Kummer und Unglück den alten Mann zerrüttet hatten. Emmy war ihm in ihren schwarzen Kleidern bis an die Tür entgegengegangen, hatte ihm die Nachricht vom Tode der Mutter zugeflüstert und ihn gebeten, dem Vater gegenüber nichts davon zu erwähnen. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch als unnötig, da der alte Sedley sofort darüber zu jammern begann und reichlich Tränen vergoß. Der Inder war doch recht ergriffen, und der arme Bursche dachte an diesem Abend weniger an sich als gewöhnlich.

Das Ergebnis der Unterredung muß befriedigend gewesen sein, denn als Joseph wieder in seine Postkutsche geklettert war und zum Hotel fuhr, umarmte Emmy den Vater zärtlich und fragte den Alten triumphierend, ob sie nicht stets gesagt habe, ihr Bruder besitze ein gutes Herz.

Joseph Sedley hatte nämlich, von dem ärmlichen Leben seiner Verwandten gerührt, im überströmenden Gefühl der ersten Zusammenkunft erklärt, daß sie von nun an nie wieder Mangel oder Verdruß leiden sollten, daß er auf jeden Fall einige Zeit in England bleiben werde und solange Haus und Habe mit ihnen teilen werde. Er meinte, Amelia werde sich als Herrin an seiner Tafel sehr hübsch ausnehmen – bis sie einen eigenen Hausstand haben würde.

Sie schüttelte traurig den Kopf und nahm wie gewöhnlich Zuflucht zu den Wasserspielen. Sie wußte, was er meinte. Mit ihrer jungen Vertrauten, Miss Mary, hatte sie die Sache am Abend der Ankunft des Majors ausführlich besprochen. Länger konnte die ungestüme Polly mit der Entdeckung, die sie gemacht hatte, nicht zurückhalten. Sie mußte unbedingt schildern, wie der Major sich verraten hatte, als Mr. Binny und seine junge Frau vorübergingen, und wie er zusammenzuckte und freudig erbebte bei der Gewißheit, keinen Nebenbuhler mehr fürchten zu müssen. »Haben Sie nicht gesehen, wie er an allen Gliedern zitterte, als Sie ihn fragten, ob er verheiratet sei, und er antwortete:›Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden?‹ Oh, Madame«, sagte Polly, »er hat keine Sekunde den Blick von Ihnen gewandt, und ich glaube bestimmt, er hat graue Haare bekommen, weil er soviel an Sie gedacht hat.«

Amelia blickte jedoch auf die Porträts ihres Mannes und ihres Sohnes über dem Bett und schärfte ihrem jungen Schützling ein, nie, nie wieder dieses Thema zu berühren. Sie erklärte, Major Dobbin sei ihres Mannes bester Freund gewesen und ihr und George ein gütiger und liebevoller Beschützer; sie liebte ihn wie einen Bruder – aber eine Frau, die mit solch einem Engel verheiratet gewesen sei (dabei deutete sie auf die Wand), könne nie wieder an eine andere Verbindung denken. Die arme Polly seufzte; sie überlegte, was sie wohl tun sollte, wenn der junge Mr. Tomkins aus der Apotheke, der sie in der Kirche immer so anstarrte und mit seinen feurigen Blicken ihr furchtsames Herzchen laut pochen machte – was sie also tun sollte, wenn er sterben müßte. Sie wußte, daß er die Schwindsucht hatte, denn seine Wangen waren so rot, und er hatte eine so ungewöhnlich schlanke Taille.

Es war nicht so, daß Emmy den ehrlichen Major irgendwie zurückstieß oder ihm zürnte, als man sie auf seine Leidenschaft aufmerksam machte. Die Liebe eines so ehrlichen, treuen Mannes konnte nicht das Mißfallen einer Frau erregen. Desdemona war nicht böse auf Cassio, obwohl sie die Neigung des Leutnants für sie zweifellos wahrnahm (ich für mein Teil glaube, daß in dieser traurigen Angelegenheit viel mehr geschah, als der gute Mohrenoffizier je erfuhr). Miranda war sogar freundlich gegen Caliban, und ganz sicher aus dem gleichen Grund, und dabei wollte sie ihn nicht etwa ermutigen – das arme häßliche Ungeheuer! –, nein, ganz und gar nicht. Und ebenso wollte Emmy auf keinen Fall ihren Anbeter, den Major, ermutigen. Sie wollte ihm nur die freundschaftliche Achtung gewähren, die soviel Vortrefflichkeit und Treue verdienten. Sie wollte ihm herzlich und offen begegnen, bis er sich erklären würde, und dann wäre noch genug Zeit für sie, zu sprechen und unerfüllbaren Hoffnungen ein Ende zu bereiten.

Sie schlief daher an jenem Abend nach der Unterredung mit Miss Polly ruhig und tief und war glücklicher als gewöhnlich, obwohl sich ihr Bruder Joseph nicht hatte sehen lassen. Ich bin froh, daß er nicht diese Miss O'Dowd heiraten will, dachte sie, Oberst O'Dowd ist nicht zuzutrauen, daß er eine Schwester hat, die zu einem so vortrefflichen Mann wie Major William passen würde. Wer in ihrem kleinen Bekanntenkreis könnte ihm wohl eine gute Frau werden? Nicht Miss Binny, die war zu alt und bösartig; Miss Osborne? Ebenfalls zu alt. Die kleine Polly war zu jung. Mrs. Osborne konnte vor dem Einschlafen keine Passende für den Major finden.

Am nächsten Morgen erschien der Postbote, und ein Brief von Joseph an seine Schwester beendete die bange Erwartung der kleinen Gesellschaft. Er teilte mit, daß er sich von der Reise noch etwas angegriffen fühle und an diesem Tage nicht an Weiterfahrt denken könne. Am nächsten Morgen in aller Frühe werde er jedoch Southampton verlassen und am Abend bei Vater und Mutter sein. Als Amelia ihrem Vater den Brief vorlas, stockte sie bei dem letzten Wort. Ihr Bruder wußte offenbar noch nicht, was sich in der Familie zugetragen hatte – das konnte er auch nicht, denn der Major hatte zwar mit Recht angenommen, daß sein Reisegefährte in dem kurzen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden nicht in Bewegung zu bringen wäre und genug Entschuldigungen für sein Zögern finden werde, trotzdem aber nicht an Joseph geschrieben und ihm das Unglück, das die Familie Sedley betroffen hatte, mitgeteilt, da er noch lange nach der Poststunde mit Amelia in ein Gespräch vertieft gewesen war. Derselbe Morgen brachte Major Dobbin in Slaughters Kaffeehaus einen Brief von seinem Freund in Southampton, worin Joseph seinen lieben Dobbin bat, die Grobheit zu entschuldigen, mit der er Dobbin tags zuvor begegnet war, als dieser ihn wecken wollte. Er habe entsetzliche Kopfschmerzen gehabt und gerade im ersten Schlummer gelegen. Joseph ersuchte Dobbin, bei Slaughter bequeme Zimmer für Mr. Sedley und seine Diener zu bestellen. Der Major war dem armen Joseph während der Reise unentbehrlich geworden. Er hatte Zuneigung zu ihm gefaßt und klammerte sich an ihn. Die anderen Passagiere waren nach London weitergereist. Der junge Ricketts und der kleine Chaffers fuhren noch am gleichen Tage mit der Postkutsche ab – Ricketts auf dem Bock, wo er Botley die Zügel abgenommen hatte, der Doktor war zu seiner Familie nach Portsea gegangen, Bragg nach London zu seinen Kompagnons, und der Erste Offizier überwachte das Entladen der »Ramchunder«. Mr. Joseph fühlte sich daher in Southampton an diesem Tage sehr einsam und lud den Hotelwirt vom »George« zu einem Glas Wein ein. Zur gleichen Stunde setzte sich Major Dobbin an der Tafel seines Vaters, Sir William, nieder, und seine Schwester hatte bereits herausbekommen (denn der Major brachte es nicht fertig, die Unwahrheit zu sagen), daß er Mrs. Osborne schon besucht hatte.

Joseph fühlte sich sehr wohl in der St. Martin's Lane. Er konnte gemütlich seine Wasserpfeife rauchen, zum Theater stolzieren, wenn es ihn danach gelüstete, und das war so bequem, daß er wahrscheinlich für immer bei Slaughter wohnen geblieben wäre, hätte sein Freund, der Major, ihm nicht zugesetzt. Dieser Herr ließ dem Bengalen nicht eher Ruhe, bis er sein Versprechen, ein Heim für Amelia und seinen Vater zu schaffen, erfüllt hatte. Joseph war in den Händen anderer butterweich und Dobbin in den Angelegenheiten anderer sehr energisch. Der Zivilist war daher für die unschuldigen Ränke des gutmütigen Diplomaten eine leichte Beute und erklärte sich bereit, alles zu tun, zu lassen, zu kaufen, zu mieten oder aufzugeben, was sein Freund für angemessen hielt. Loll Jewab, den die Gassenjungen in der St. Martin's Lane immer grausam neckten, wenn er sein dunkles Gesicht auf der Straße sehen ließ, schickte man mit dem Ostindienfahrer »Lady Kicklebury«, von dem Sir William Dobbin Aktien besaß, nach Kalkutta zurück, nachdem er vorher Josephs Europäer die Kunst der Bereitung von Currys und Pilaus und das Pfeifenstopfen beigebracht hatte. Für Joseph war es eine herrliche Beschäftigung, den Bau einer eleganten Kutsche zu beaufsichtigen, die er und der Major im benachbarten Long Acre bestellt hatten; er mietete ein Paar schöne Pferde, mit denen er in vollem Gepränge im Park umherfuhr oder seine Freunde aus Indien besuchte. Bei diesen Ausflügen saß Amelia nicht selten neben ihm, und auch Major Dobbin konnte man auf dem Rücksitz des Wagens erblicken. Andere Male benutzten der alte Sedley und seine Tochter den Wagen, und auch Miss Clapp begleitete ihre Freundin häufig. Wenn sie ihr dann, in den berühmten gelben Schal gehüllt, gegenübersaß, fand sie großes Vergnügen daran, daß das Gesicht des jungen Mannes aus der Apotheke gewöhnlich über den Fenstervorhängen auftauchte und er sie erkannte.

Kurz nachdem Joseph zum erstenmal in Brompton erschienen war, gab es in dem bescheidenen Häuschen, worin die Sedleys die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbracht hatten, eine traurige Szene. Josephs Wagen (der gemietete, nicht der, der gebaut wurde) kam eines Tages und holte den alten Sedley und seine Tochter ab – für immer. Die Tränen der Wirtin und ihrer Tochter bei dieser Gelegenheit waren so kummervoll und echt, wie sie nur je im Laufe dieser Geschichte vergossen wurden. Sie konnten sich nicht entsinnen, daß Amelia während ihrer langen vertrauten Bekanntschaft auch nur ein einziges böses Wort geäußert hätte. Stets war sie gütig und freundlich gewesen, stets dankbar und sanft. Sogar dann, wenn Mrs. Clapp die Geduld verlor und wegen der Mietzahlung drängte. Als das liebe Geschöpf sie für immer verließ, machte sich die Wirtin bittere Vorwürfe, daß sie je ein rauhes Wort gegen sie gebraucht hatte. Sie vergoß heiße Tränen, als sie mit einem Klebstreifen einen Zettel am Fenster befestigte, auf dem zu lesen stand, daß die so lange bewohnten kleinen Zimmer wieder zu vermieten seien. Nie wieder würden sie solche Mieter bekommen, das stand fest. Die Zukunft bewies die Richtigkeit dieser melancholischen Prophezeiung, und Mrs. Clapp rächte sich für die Verschlechterung der Menschheit, indem sie bei ihren Mietern für Teebüchsen und Hammelkeulen ungeheure Kontributionen erhob. Die meisten von ihnen schalten und brummten. Einige bezahlten nicht, keiner blieb. Die Wirtin bedauerte also mit Recht, daß diese alten, alten Freunde sie verließen.

Miss Marys Betrübnis bei der Trennung von Amelia war derart, daß ich nicht versuchen werde, sie zu schildern. Sie war von Kindheit an täglich bei ihr gewesen und hatte eine leidenschaftliche Zuneigung für die liebe, gute Dame gefaßt. Als die stattliche Kutsche kam, um Amelia zu neuen Herrlichkeiten zu entführen, sank sie ohnmächtig in die Arme ihrer Freundin, die fast ebenso gerührt war wie das gutmütige Mädchen selbst. Amelia liebte sie wie eine Tochter. Elf Jahre lang war das Mädchen ihre treue Freundin und Gefährtin gewesen. Die Trennung ging ihr wirklich sehr nahe. Man kam natürlich überein, daß Mary Mrs. Osborne oft in dem großen neuen Haus besuchen sollte, aber Mary war überzeugt, daß sie dort nie so glücklich sein könnte wie in ihrem bescheidenen Hüttchen, wie es Miss Clapp in der Sprache ihrer Lieblingsromane ausdrückte.

Wir wollen hoffen, daß sie damit unrecht hatte. Es hatte für die arme Amelia in dem bescheidenen Hüttchen nur sehr wenige glückliche Tage gegeben. Ein düsteres Schicksal hatte sie dort bedrückt. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, wollte sie nie dorthin zurückkehren, und sie wollte auch die Wirtin nicht wiedersehen, die sie tyrannisiert hatte, wenn sie schlechter Laune war oder Geld haben wollte, und sie mit einer kaum erträglicheren plumpen Vertraulichkeit behandelt hatte, wenn sie guter Laune war. Mrs. Clapps Liebedienerei und die widerlichen Komplimente, die sie Emmy machte, als es ihr wieder besser ging, liebte die junge Frau ebensowenig. Die ehemalige Wirtin brach in Bewunderungsrufe über das neue Haus aus und pries jedes einzelne Möbelstück. Sie befühlte Mrs. Osbornes Kleider und schätzte deren Preis. Sie beteuerte, daß für die süße Dame nichts gut genug sei. Über der gemeinen Schmeichlerin, die ihr jetzt den Hof machte, konnte Emmy jedoch nie die üble Tyrannin vergessen, die sie so manches Mal unglücklich gemacht hatte. Wie oft hatte sie um Aufschub betteln müssen, wenn die Miete fällig war, wie oft hatte die Frau Emmys Verschwendungssucht mißbilligt, wenn sie ein paar Leckerbissen für die kränkelnden Eltern gekauft hatte. Sie hatte Amelia in Armut gekannt und hatte sie mit Füßen getreten.

Niemand hatte jemals von diesen Kümmernissen erfahren, die das Los unserer armen kleinen Frau im Leben waren. Sie hielt sie selbst vor ihrem Vater geheim, dessen Unvorsichtigkeit einen großen Teil ihres Elends verschuldet hatte. Sie mußte die Folgen seiner Fehler tragen, und sie war wirklich so ungemein sanft und demütig, daß sie von Natur aus zum Opfer gemacht schien.

Hoffentlich ist die rauhe Behandlung nun vorbei für sie. Aber da in jedem Kummer ein gewisser Trost liegen soll, so möchte ich erwähnen, daß die arme Mary, als sie nach der Trennung von ihrer Freundin in einem hysterischen Zustand zurückblieb, dem jungen Mann aus der Apotheke zur medizinischen Behandlung anvertraut wurde, unter dessen Fürsorge sie sich bald erholte. Bei ihrem Weggang von Brompton vermachte Amelia Mary alle Einrichtungsgegenstände aus ihrer Wohnung und nahm nur ihre Bilder mit (die beiden Bilder über dem Bett) und ihr Klavier, das kleine alte Piano, das jetzt in ein klägliches, klirrendes Greisenalter gekommen war, das sie aber immer noch liebte, aus Gründen, die nur sie kannte. Sie war noch ein Kind gewesen, als ihre Eltern es ihr geschenkt hatten und sie zum erstenmal darauf spielte. Später war es ihr noch einmal geschenkt worden, wie sich der Leser erinnern wird, als nämlich das Unternehmen ihres Vaters zusammenbrach und das Instrument aus dem Wrack gerettet wurde.

Als Major Dobbin das Einrichten von Josephs neuem Haus beaufsichtigte – es sollte nach dem Willen des Majors sehr hübsch und bequem werden –, sah er den Wagen aus Brompton mit den Koffern und Schachteln der Auswanderer vom Dorf ankommen. Er freute sich sehr, als er das alte Klavier erblickte, Amelia wollte es in ihrem Wohnzimmer haben – einem netten, kleinen Raum im ersten Stock. Daneben befand sich dann das Zimmer ihres Vaters, wo der alte Herr abends sitzen konnte.

Als die Träger mit dem alten Musikgerät erschienen und Amelia anordnete, es solle in das erwähnte Zimmer gestellt werden, fühlte sich Dobbin wie im siebenten Himmel. »Ich freue mich, daß Sie es behalten haben«, sagte er sehr gefühlvoll. »Ich fürchtete schon, Sie machten sich nichts daraus.«

»Ich schätze es mehr als alles auf der Welt«, erwiderte Amelia.

»Wirklich, Amelia?« rief der Major. Zwar hatte er niemals etwas davon erwähnt, aber da er es selbst gekauft hatte, hatte er auch nicht daran gedacht, daß Emmy einen anderen für den Käufer halten könnte. Er glaubte natürlich, sie wisse, daß das Geschenk von ihm gekommen sei. »Wirklich, Amelia?« rief er, und die Frage, die große Frage, zitterte ihm auf den Lippen, als Amelia erwiderte:

»Wie könnte ich anders – hat er es mir nicht geschenkt?«

»Das wußte ich nicht«, sagte der arme alte Dobbin mit langem Gesicht.

Emmy fiel zu diesem Zeitpunkt nichts auf, und sie beachtete auch nicht den plötzlich so trübseligen Gesichtsausdruck des ehrlichen Dobbin. Später jedoch dachte sie daran, und nun kam ihr der unaussprechlich schmerzliche und traurige Gedanke, daß William ihr das Klavier geschenkt hatte und nicht George, wie sie sich eingebildet hatte. Es war nicht Georges Geschenk, das einzige von ihrem Geliebten, wie sie geglaubt hatte – das Stück, das sie mehr als alles andere geschätzt hatte, ihre teuerste Reliquie und ihr größter Schatz. Sie hatte ihm von George erzählt, seine Lieblingslieder darauf gespielt, lange Abende davor gesessen und ihm, so gut es ihr geringes Können gestattete, melancholische Weisen entlockt und stumm über den Tasten geweint. Es war keine Reliquie von George, es war jetzt wertlos. Als der alte Sedley sie das nächste Mal zum Spielen aufforderte, erwiderte sie, es sei schrecklich verstimmt, sie habe Kopfschmerzen, sie könne nicht spielen.

Dann machte sie sich aber nach ihrer Gewohnheit Vorwürfe über ihre Gereiztheit und Undankbarkeit und entschloß sich, dem ehrlichen William die Geringschätzung, die sie zwar nicht ihm gegenüber geäußert, aber gegenüber dem Klavier gefühlt hatte, abzubitten. Als sie ein paar Tage später zusammen im Salon saßen und Joseph nach dem Essen behaglich eingeschlafen war, sagte Amelia mit versagender Stimme zu Major Dobbin:

»Ich muß Sie wegen einer Sache um Verzeihung bitten.«

»Weswegen?« fragte er.

»Wegen – wegen des kleinen Tafelklaviers. Ich habe Ihnen nie dafür gedankt, als Sie es mir vor vielen, vielen Jahren noch vor meiner Heirat schenkten. Ich dachte, es käme von jemand anderem. Ich danke Ihnen, William.« Sie reichte ihm die Hand hin, aber das Herz der armen kleinen Frau blutete, und ihre Augen waren natürlich wieder bei der Arbeit.

William konnte jetzt nicht länger an sich halten. »Amelia, Amelia«, begann er. »Es stimmt, ich habe es für Sie gekauft. Ich liebte Sie damals, wie ich Sie noch heute liebe. Ich muß es Ihnen einmal sagen. Ich glaube, von der ersten Minute an, da ich Sie gesehen hatte, habe ich Sie geliebt. Es war, als George mich in Ihr Haus mitnahm, um mir die Amelia zu zeigen, mit der er verlobt war. Sie waren noch ein junges Mädchen, weiß gekleidet, mit langen Locken. Sie kamen singend herab – wissen Sie es noch? –, und wir gingen nach Vauxhall. Seit jener Zeit habe ich nur eine Frau auf der Welt im Sinn gehabt, und das waren Sie. Ich glaube, es ist seit zwölf Jahren keine Stunde vergangen, in der ich nicht an Sie gedacht hätte. Ich kam, ehe ich nach Indien ging, um Ihnen dies zu sagen, aber Ihnen war es gleichgültig, und ich konnte mir kein Herz fassen zu sprechen. Es war Ihnen ja gleich, ob ich ging oder blieb.«

»Ich war sehr undankbar«, erwiderte Amelia.

»Nein, nur gleichgültig«, fuhr Dobbin «verzweifelt fort. »Ich besitze nichts, um einer Frau andere Gefühle einzuflößen. Ich weiß, was Sie jetzt fühlen. Ihr Herz ist über die Entdeckung, daß das Klavier von mir kam und nicht von George, verletzt. Ich vergaß das, sonst hätte ich nie davon gesprochen. Es ist an mir, Sie um Verzeihung zu bitten, daß ich für Augenblicke ein Narr war und glaubte, jahrelange ergebene Treue hätte Sie umgestimmt.«

»Jetzt sind Sie grausam«, sagte Amelia kühn. »George ist mein Mann, hier und im Himmel. Wie könnte ich einen anderen lieben? Ich bin jetzt sein eigen wie damals, als Sie mich zum erstenmal sahen, lieber William. Er war es, der mir erzählte, wie gut und großmütig Sie seien, und der mich lehrte, Sie wie einen Bruder zu lieben. Sind Sie mir und meinem Knaben nicht alles gewesen? Unser liebster, treuester und gütigster Freund und Beschützer? Wären Sie ein paar Monate früher gekommen, so hätten Sie mir wahrscheinlich jene – jene entsetzliche Trennung ersparen können. Oh, sie hat mich fast ins Grab gebracht, William –aber Sie kamen nicht, obgleich ich es so wünschte und darum betete. Und sie haben mir auch ihn genommen. Ist er nicht ein prächtiger Junge, William? Bleiben Sie weiterhin sein und mein Freund...« Hier brach ihr die Stimme, und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter.

Der Major schloß sie in die Arme und drückte sie an sich, als ob sie ein Kind wäre; dann küßte er sie aufs Haar. »Es soll ja alles so bleiben, liebe Amelia«, sagte er. »Ich bitte um nichts als Ihre Liebe. Ich glaube, ich möchte es gar nicht anders haben. Lassen Sie mich nur in Ihrer Nähe sein und Sie häufig sehen.«

»Ja, oft«, entgegnete Amelia. So hatte Dobbin die Erlaubnis erhalten, zu schauen und sich zu sehnen – wie der arme Schulknabe, der kein Geld hat, den schönen Dingen im Korb der Kuchenfrau nachseufzen darf.


 << zurück weiter >>