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56. Kapitel

Aus Georgy wird ein Gentleman gemacht

Georgy Osborne hatte sich jetzt im Hause seines Großvaters; am Russell Square gut eingelebt. Er bewohnte seines Vaters Zimmer und war rechtmäßiger Erbe aller Herrlichkeiten darin. Sein hübsches Aussehen, sein höfliches Betragen und seine Eleganz gewannen ihm das Herz des Großvaters. Mr. Osborne war auf ihn so stolz wie nur je auf den älteren George.

Das Kind wurde viel mehr verwöhnt und nachsichtiger behandelt als sein Vater. Osbornes Geschäfte waren in den letzten Jahren sehr gediehen, sein Reichtum und sein Einfluß in der City hatten zugenommen. In früheren Zeiten war er schon froh gewesen, den älteren George in eine gute Privatschule schicken zu können, und das Offizierspatent seines Sohnes hatte für ihn eine Quelle nicht geringen Stolzes bedeutet. In bezug auf den kleinen George und dessen künftige Aussichten hatte der alte Herr viel hochtrabendere Pläne. Seine ständige Redeweise war, er wolle einen Gentleman aus dem kleinen Kerl machen. Im Geiste sah er ihn schon als Studenten, Parlamentsmitglied oder sogar als Baronet. Der alte Mann dachte, er könne zufrieden sterben, wenn er seinen Enkel erst auf dem Wege zu solchen Ehren sähe. Für seine Erziehung wollte er nur einen erstklassig ausgebildeten Lehrer haben – keinen von diesen Scharlatanen und Pseudogelehrten, nein, nein. Noch vor ein paar Jahren hatte er wütend gegen alle Pfaffen, Schulfüchse und Leute dieses Schlages gewettert und erklärt, sie seien ein Pack von Gaunern und Pfuschern, die ihren Lebensunterhalt nur verdienen könnten indem sie Latein und Griechisch einpaukten. Dabei seien sie noch hochmütige Hunde, die sich anmaßten, auf britische Kaufleute und Gentlemen herabzublicken, die doch ein paar Dutzend von ihnen aufkaufen konnten. Jetzt dagegen beklagte er sich in feierlicher Weise, daß seine eigene Erziehung sehr vernachlässigt worden sei, und erklärte dem kleinen George wiederholt in pompösen Worten, wie wichtig und vortrefflich klassische Bildung sei.

Wenn sie sich beim Essen trafen, fragte der Großvater den Knaben, was er tagsüber gelesen habe, und zeigte großes Interesse an dem, was der Junge von seinen Studien berichtete. Er gab sich den Anschein, als verstehe er alles, was der kleine George sagte, und machte dabei hundert Fehler und zeigte so manches Mal seine Unwissenheit. Das erhöhte natürlich nicht den Respekt des Knaben vor dem Älteren. Sein flinker Verstand und die bessere Erziehung überzeugten den Jungen sehr bald, daß sein Großvater ein Dummkopf sei, und er begann nun, herumzukommandieren und auf ihn herabzusehen. Denn seine frühere Erziehung, so bescheiden und beschränkt sie auch gewesen war, hatte aus Georgy einen viel besseren Gentleman gemacht, als alle Pläne seines Großvaters es vermochten. Er war von einer gütigen, schwachen, zärtlichen Frau aufgezogen worden, die keinen Stolz hatte als ihn, deren Herz so rein und deren Benehmen so demütig und bescheiden war, daß sie gar nichts anderes als eine wahre Lady sein konnte. Sie befaßte sich mit edlen Aufgaben und stillen Pflichten. Wenn sie auch niemals brillante Dinge äußerte, so sagte oder dachte sie dagegen auch nie etwas Unfreundliches. Arglos und schlicht, liebevoll und rein – was konnte unsere arme kleine Amelia bei diesen Eigenschaften anderes sein als eine echte Dame?

Der junge Georgy hatte diese weiche, nachgiebige Natur beherrscht, und der Kontrast zwischen dieser Einfachheit und Feinfühligkeit und der plumpen Prahlsucht des einfältigen Alten, mit dem er dann in Berührung kam, brachte ihn dazu, auch diesen zu beherrschen. Wäre er ein Kronprinz gewesen – er hätte nicht besser in der Achtung seiner selbst erzogen werden können.

Während sich seine Mutter zu Hause nach ihm sehnte und wohl jede Stunde des Tages und auch die meisten Stunden der traurigen, einsamen Nacht an ihn dachte, genoß der junge Herr eine Unmenge Freuden und Tröstungen, die ihn die Trennung von Amelia leicht ertragen ließen. Kleine Jungen, die weinen, wenn sie zur Schule gehen sollen, weinen, weil es ein unfreundlicher Ort ist. Nur die wenigsten weinen aus reiner Liebe. Wenn du bedenkst, daß sich die Augen deiner Kindheit beim Anblick eines Pfefferkuchens trockneten und daß dich ein Rosinenkuchen für den Schmerz bei der Trennung von deiner lieben Mama und deinen Schwestern entschädigte, dann, mein Freund und Bruder, brauchst du auch jetzt nicht zu sehr deinem Feingefühl zu vertrauen.

Nun, George Osborne genoß also jeden Luxus und jede Bequemlichkeit, die einem reichen, verschwenderischen Großvater angemessen für ihn erschien. Der Kutscher wurde beauftragt, ihm das hübscheste Pony zu kaufen, das für Geld zu haben war, und George lernte auf ihm in einer Reitschule reiten. Nachdem er dann ohne Steigbügel zu aller Zufriedenheit die Hürden genommen hatte, führte man ihn durch die New Road zum Regent's Park und dann in den Hyde Park, wo er mit viel Gepränge, Martin den Kutscher hinter sich, umherritt. Der alte Osborne, der seine Citygeschäfte jetzt etwas leichter nahm und sie mehr seinen jüngeren Teilhabern überließ, fuhr öfter mit Miss Osborne die gleiche Richtung zum Treffpunkt der Modewelt. Wenn dann der kleine Georgy mit seiner Stutzermiene in stolzer Haltung herangesprengt kam, pflegte der Großvater die Tante des Jungen anzustoßen und zu sagen: »Sieh mal, Miss Osborne.« Er lachte dann jedesmal, und sein Gesicht wurde vor Vergnügen rot, wenn er dem Knaben aus dem Fenster zunickte, wenn der Reitknecht die Kutsche grüßte und der Lakai Master George. Auch seine Tante, Mrs. Frederick Bullock, ließ sich täglich auf dem Ring sehen. Der Schlag und das Geschirr ihres Wagens waren mit goldenen Bullen geschmückt, und aus den Fenstern starrten drei teiggesichtige kleine Bullocks, mit Schmuck und Federn überladen. Mrs. Frederick Bullock warf dem kleinen Emporkömmling Blicke bittersten Hasses zu, wenn er, die Hand in die Seite gestemmt, den Hut auf einem Ohr, stolz wie ein Lord vorüberritt.

Obwohl Master George kaum elf Jahre alt war, trug er doch schon einen Riemen und schöne Stiefelchen wie ein Mann. Er hatte vergoldete Sporen und eine Reitpeitsche mit vergoldetem Knauf und eine elegante Nadel im Halstuch und die hübschesten kleinen Glacéhandschuhe, die Lamb in der Conduit Street liefern konnte. Seine Mutter hatte ihm zwei Halsbinden geschenkt und ihm mit aller Sorgfalt ein paar kleine Hemden genäht und gesäumt; als aber ihr Eli die Witwe besuchen kam, waren sie schon durch viel feinere ersetzt. Er trug kleine juwelenbesetzte Knöpfe auf der batistenen Hemdbrust. Ihre bescheidenen Geschenke waren beiseite gelegt worden; ich glaube, Miss Osborne hatte sie dem Sohn des Kutschers gegeben. Amelia versuchte zu glauben, daß sie sich über die Veränderung freue. Sie war auch wirklich glücklich und entzückt, daß der Knabe jetzt so schön aussah.

Sie hatte sich für einen Shilling eine kleine Silhouette von ihm anfertigen lassen und sie neben ein anderes Porträt über ihrem Bett aufgehängt. Eines Tages kam der Knabe zu seinem üblichen Besuch wie gewöhnlich die kleine Bromptoner Straße herabgaloppiert, und wie gewöhnlich lockte er alle Bewohner zur Bewunderung seiner Herrlichkeit ans Fenster. Mit großem Eifer und einem Blick des Triumphes zog er ein Etui aus dem Mantel (der einen netten weißen Umhang und einen Samtkragen hatte) – ein rotes Saffianetui –, und gab es ihr.

»Ich habe es für mein eigenes Geld gekauft, Mama«, sagte er. »Ich dachte, es würde dir gefallen.«

Amelia öffnete das Etui und stieß einen kleinen freudigen Schrei aus. Liebevoll umarmte sie den Knaben hundertmal. Es war ein hübsch gearbeitetes Miniaturbild von ihm selbst (obwohl wahrscheinlich für die Witwe lange nicht hübsch genug). Sein Großvater hatte ein Porträt von ihm bei einem Künstler machen lassen, dessen Arbeiten, in einem Schaufenster in der Southampton Row ausgestellt, ihm ins Auge gefallen waren. George, der immer reichlich mit Geld versehen war, fiel ein, den Maler zu fragen, wieviel eine Kopie des kleinen Porträts kosten würde; er sagte, er wolle sie mit seinem eigenen Geld bezahlen und seiner Mutter schenken. Der Maler, den das freute, fertigte die Kopie für einen geringen Preis an, und als der alte Osborne davon hörte, brummte er seine Zufriedenheit und gab dem Knaben doppelt soviel Sovereigns, wie er für die Miniatur bezahlt hatte.

Was war aber schon des Großvaters Wohlgefallen, verglichen mit Amelias Entzücken? Dieser Beweis der Liebe ihres Sohnes bezauberte sie so, daß sie dachte, kein Kind dieser Welt käme ihm an Güte gleich. Noch viele Wochen nachher machte sie der Gedanke an seine Liebe glücklich. Sie schlief besser mit dem Bildchen unter dem Kopfkissen, und wieviele, viele Male küßte sie es und weinte und betete über ihm! Schon eine kleine Freundlichkeit von denen, die sie liebte, erweckte in diesem furchtsamen Herzen Dankbarkeit. Seit der Trennung von George hatte sie noch keine derartige Freude und solchen Trost erfahren.

In seinem neuen Heim regierte Master George wie ein Lord: Beim Essen forderte er mit der größten Kaltblütigkeit die Damen zum Weintrinken auf und goß seinen Champagner in einer Weise hinunter, die seinen alten Großvater bezauberte. »Sehen Sie ihn nur an«, sagte der alte Mann dann oft mit vor Freude gerötetem Gesicht und stieß seinen Nachbarn an. »Haben Sie schon jemals solch einen Burschen gesehen? Herrgott noch mal! Er wird sich bald einen Toilettenkasten und ein Rasiermesser kommen lassen. Ich will verdammt sein, wenn er es nicht tut.«

Die Possen des Knaben erfreuten jedoch Mr. Osbornes Freunde nicht so sehr wie den alten Herrn selbst. Richter Coffin fand kein Vergnügen daran, wenn Georgy sich in die Unterhaltung mischte und seine Anekdoten verdarb. Oberst Fogey entdeckte wenig Interessantes daran, den kleinen Jungen halb betrunken zu sehen. Polizeirat Toffys Frau war nicht besonders dankbar, als er ihr mit einem Stoß des Ellbogens ein Glas Portwein über das gelbe Atlaskleid schüttete und dann noch über das Unglück lachte; und es gefiel ihr ebensowenig, wenn es auch den alten Osborne ergötzte, daß George ihren dritten Sohn (einen jungen Herrn, ein Jähr älter als George, der Doktor Tickleus' Schule in Ealing besuchte und zufällig in den Ferien zu Hause war) am Russell Square verprügelte. Georges Großvater gab dem Knaben für diese Heldentat zwei Sovereigns und versprach, ihn für das Verprügeln eines jeden Knaben, der älter und größer war als er, zu belohnen. Es ist schwer zu sagen, welche guten Seiten der alte Herr bei diesen Kämpfen entdeckte. Er hatte eine unbestimmte Vorstellung, daß Streitereien einen Jungen abhärteten und daß es ihm nur nützen könnte, den Tyrannen spielen zu lernen. Die englische Jugend ist seit undenklichen Zeiten so erzogen worden, und es gibt Hunderttausende, die die Ungerechtigkeit und die Brutalität bei Kindern entschuldigen und bewundern. Angestachelt von dem Lob und dem Sieg über Master Toffy, wollte George natürlich seine Triumphe fortsetzen. Als er eines Tages in der Gegend von St. Pancras in auffallend eleganten neuen Kleidern stolzierte und ein Bäckerjunge spöttische Bemerkungen über sein Äußeres machte, zog der junge Patrizier sofort mutig seine Stutzerjacke aus, gab sie dem Freund, der ihn begleitete (es war Master Todd von der Great Coram Street am Russell Square, Sohn des jüngeren Teilhabers der Firma Osborne und Co.), zum Halten und versuchte den kleinen Bäcker durchzuprügeln. Diesmal aber war ihm das Kriegsglück nicht hold, und der kleine Bäcker verprügelte George. Der kam mit einem jämmerlich blauen Auge nach Hause, und seine neue Hemdkrause war befleckt von dem Blut aus seiner Nase. Er erzählte seinem Großvater, daß er mit einem Riesen gekämpft habe, und seine arme Mutter in Brompton erschreckte er mit langen und keineswegs authentischen Berichten von der Schlacht.

Dieser junge Todd aus der Coram Street, Russell Square, war Master Georges großer Freund und Bewunderer. Beide malten gern Theaterbilder, liebten Mandelkaramel und Himbeertörtchen, Schlittern und Schlittschuhlaufen im Regent's Park und auf der Serpentine und Theaterbesuche, wohin Rawson, Master Georges Leibdiener, sie oft auf Mr. Osbornes Geheiß führte. Mit ihm zusammen saßen sie dann ganz gemütlich im Parkett.

In Begleitung dieses Herrn besuchten sie alle größeren Theater Londons. Sie kannten die Namen sämtlicher Schauspieler von Drury Lane bis Sadler's Wells und führten vor der Familie Todd und ihren jungen Freunden viele der Dramen mit Wests berühmten Darstellern in ihrem Papptheater auf. Der Diener Rawson, recht freigebig veranlagt, lud nicht selten, wenn er Geld hatte, seinen jungen Herrn nach dem Theater zu Austern und einem Glas Rumpunsch als Schlaftrunk ein. Dabei kann man sicher sein, daß Mr. Rawson seinerseits große Vorteile hatte, wenn ihm sein junger Herr großzügigen Dank abstattete für die Freuden, in die ihn der Bediente eingeführt hatte.

Ein bekannter Schneidermeister von West End – Mr. Osborne wollte nämlich für den Knaben keinen von den Pfuschern aus der City oder von Holborn haben (obwohl für ihn selbst ein Cityschneider gut genug war) – wurde gerufen, um Georges kleine Person zu schmücken. Dabei sollten keine Kosten gespart werden. So ließ Mr. Woolsey von der Conduit Street seiner Phantasie freien Lauf und schickte dem Jungen Phantasiebeinkleider, Phantasiewesten und Phantasiejacken, genug, um eine ganze Schule voller kleiner Stutzer damit auszustatten. George hatte kleine weiße Westen für Abendgesellschaften und kleine Samtwesten zum Diner und einen hübschen kleinen Schlafrock mit Schal, wie ein echter kleiner Mann. Er kleidete sich täglich zum Diner um, »wie ein richtiger Dandy von West End«, sagte sein Großvater stets; ein Diener war ihm zur besonderen Aufwartung zuerteilt; er half ihm bei der Toilette, kam, wenn er klingelte, und brachte ihm seine Briefe stets auf einem silbernen Tablett.

Nach dem Frühstück saß Georgy gewöhnlich in dem Lehnstuhl im Speisezimmer und las die »Morning Post«, gerade wie ein Erwachsener. »Wie er schon fluchen kann«, riefen die Dienstboten oft, entzückt von seiner Frühreife. Diejenigen, die sich noch an den Hauptmann, seinen Vater, erinnern konnten, waren sich einig über Master George: »Jeder Zoll der Papa!« Durch seine Munterkeit, Herrschsucht, sein Schelten und seine Gutmütigkeit brachte er Leben ins Haus.

Georges Erziehung war einem Gelehrten und Privatlehrer aus der Nachbarschaft anvertraut worden, der »junge Edelleute und Gentlemen für die Universität, den Senat und gelehrte Berufe« vorbereitete, dessen »System nicht die entwürdigenden körperlichen Züchtigungen« umfaßte, »die noch in den alten Erziehungsstätten ausgeübt werden, und in dessen Familie die Schüler eine vornehme, gebildete Gesellschaft und das Vertrauen und die Liebe eines Heims« finden würden. Auf diese Weise bemühte sich Ehrwürden Lawrence Veal, Hart Street, Bloomsbury, Hauskaplan des Grafen Bareacres, zusammen mit Mrs. Veal, Schüler anzulocken.

Durch diese Anzeige und sonstige unverdrossene Bemühungen gelang es dem Kaplan und seiner Frau gewöhnlich, ein paar Schüler zu bekommen, die eine hohe Summe zahlten und von denen man glaubte, sie seien außerordentlich angenehm untergebracht. Sie hatten einen großen Westindier, der niemals Besuch bekam, mit dunkler Gesichtsfarbe, wolligem Haar und einem ungemein stutzerhaften Äußeren; ferner war da ein anderer unbeholfener Junge von dreiundzwanzig, dessen Erziehung vernachlässigt worden war und den Mr. und Mrs. Veal in die feine Welt einführen sollten; und endlich waren da noch die beiden Söhne des Obersten Bangles vom Militärdienst der Ostindischen Kompanie. Diese vier saßen an Mr. Veals eleganter Tafel, als Georgy in ihr Institut eingeführt wurde.

George war, wie einige Dutzend anderer Schüler, nur Tagesschüler. Er kam morgens unter der Obhut seines Freundes Mr. Rawson, und wenn nachmittags schönes Wetter war, ritt er, gefolgt von dem Reitknecht, auf seinem Pony davon. Man erzählte in der Schule, daß sein Großvater steinreich sei. Ehrwürden Mr. Veal machte Georgy ständig Komplimente deshalb und weissagte ihm, daß er für eine hohe Stellung bestimmt sei, daß er sich durch Fleiß und Gelehrigkeit in der Jugend auf die erhabenen Pflichten, die ihn im reifen Alter erwarteten, vorbereiten müsse. Der Gehorsam des Kindes sei die beste Vorbereitung für die Befehlsgewalt des Mannes, und er bitte George daher, keine Süßigkeiten mit in die Schule zu bringen und damit die Gesundheit der beiden Bangles zu ruinieren, die an der eleganten Tafel von Mrs. Veal alles, was sie brauchten, im Überfluß bekämen.

Was den Unterricht betraf, so war das »Curriculum«, wie es Mr. Veal gern nannte, sehr umfangreich, und die jungen Herren in der Hart Street konnten von jeder bekannten Wissenschaft etwas lernen. Ehrwürden Mr. Veal besaß ein Orrery, eine Elektrisiermaschine, eine Drehbank, ein Theater (im Waschhaus), einen chemischen Apparat und, wie er es nannte, eine auserlesene Bibliothek aller Werke der besten Schriftsteller alter und moderner Zeiten und Sprachen. Er führte die Knaben in das Britische Museum und ließ sich dort des längeren und breiteren über die dort gezeigten Altertümer und Exemplare aus der Naturgeschichte aus. Wenn er sprach, sammelte sich stets ein Zuhörerkreis um ihn, und ganz Bloomsbury bewunderte ihn als einen außerordentlich gelehrten Mann. Wenn er sprach (und das tat er fast immer), bemühte er sich, die schönsten und längsten Wörter zu benutzen, die der Wortschatz ihm bot, da er mit Recht der Ansicht war, es sei ebenso billig, einen hübschen langen und wohlklingenden Ausdruck zu verwenden wie einen kurzen, knappen.

So sagte er etwa zu George in der Schule: »Ich bemerkte bei meiner Heimkehr von einer genußreichen wissenschaftlichen Abendkonversation mit meinem vortrefflichen Freunde Doktor Bulders, einem echten Archäologen, meine Herren – einem echten Archäologen –, daß die Fenster im fast fürstlichen Hause Ihres verehrungswürdigen Großvaters am Russell Square illuminiert waren, wie aus Anlaß einer Festlichkeit daselbst. Bin ich richtig in der Annahme, daß Mr. Osborne gestern abend eine Gesellschaft distinguierter Geister an seiner glänzenden Tafel bewirtete?«

Der kleine George, der viel Humor besaß und Mr. Veal mit viel Witz und Geschicklichkeit ins Gesicht hinein nachzuahmen pflegte, erwiderte, Mr. Veal sei vollkommen korrekt in seiner Mutmaßung.

»Dann will ich jede Wette eingehen, daß die Freunde, welche die Ehre hatten, Mr. Osbornes Gastfreundschaft zu genießen, keinen Grund gefunden haben werden, sich über ihr Mahl zu beklagen. Ich selbst bin zu verschiedenen Malen mit einer Einladung begünstigt worden. (Beiläufig erwähnt, Master Osborne, Sie sind heute früh etwas zu spät gekommen und sind darin schon mehr als einmal pflichtvergessen gewesen.) Ich sage, ich selbst, meine Herren, ein so bescheidenes Individuum ich auch sein mag, so bin ich doch für würdig erachtet worden, Mr. Osbornes elegante Gastfreundschaft zu genießen. Und obgleich ich mit den Großen und Edlen dieser Welt gespeist habe – denn ich wage auch meinen vortrefflichen Freund und Gönner, den sehr ehrenwerten George Graf Bareacres, dieser Zahl zuzurechnen –, so versichere ich Sie, daß der Tisch des britischen Kaufmanns im Überfluß besetzt und der Empfang ebenso ergötzlich und edel war, wie er nur sein konnte. Mr. Bluck, wenn Sie belieben, so wollen wir an der Stelle im Eutropius beginnen, an der wir durch das Zuspätkommen Master Osbornes unterbrochen wurden.«

Diesem bedeutenden Mann wurde Georges Erziehung auf einige Zeit anvertraut. Amelia wurde verwirrt von seinen Sätzen, sie hielt ihn jedoch für ein Wunder an Gelehrsamkeit. Die arme Witwe hatte ihre eigenen Gründe, sich mit Mrs. Veal zu befreunden. Es freute sie, im Hause zu sein, wenn George zur Schule kam; es freute sie ebenfalls, zu Mrs. Veals conversazioni geladen zu werden, die einmal monatlich stattfanden (man erfuhr das durch rosa Karten, auf denen ΑΘΗΝΗ gedruckt war), wo der Professor auch seine Schüler und ihre Freunde mit dünnem Tee und wissenschaftlicher Unterhaltung bewirtete. Die arme kleine Amelia versäumte keine dieser Gesellschaften und fand sie köstlich, solange sie Georgy neben sich hatte. In jedem Wetter wanderte sie von Brompton herüber, und sie umarmte Mrs. Veal unter Tränen des Dankes für den herrlichen Abend, den sie verbracht hatte. Wenn sich dann die Gesellschaft zurückgezogen hatte und Georgy mit seinem Begleiter, Mr. Rawson, gegangen war, zog sich die arme Mrs. Osborne den Mantel an, legte den Schal um und begab sich nach Hause.

In der Gelehrsamkeit, die sich George unter diesem wortreichen Lehrer der hundert Wissenschaften aneignete, machte er große Fortschritte, zumindest nach den wöchentlichen Zensuren zu urteilen, die er seinem Großvater mit nach Hause brachte. Zwanzig oder mehr erstrebenswerte Wissenszweige waren auf einer Tabelle zusammengestellt, und der Professor vermerkte darauf die Fortschritte des Schülers in jedem Fach. Im Griechischen war Georgy aristos, im Lateinischen optimus, im Französischen tres bien und so weiter. Am Ende des Jahres erhielten dann alle für alles Preise. Selbst Mr. Swartz, der wollhaarige junge Herr und Halbbruder der ehrenwerten Mrs. McMull, und Mr. Bluck, der vernachlässigte junge Schüler von dreiundzwanzig aus den Ackerbaugegenden, und der bereits erwähnte faule junge Taugenichts, Master Todd, erhielten billige Heftchen, in die »Athene« gedruckt war und in denen eine pompöse lateinische Widmung des Professors an seine jungen Freunde prangte.

Die Familie von Master Todd war ein Anhängsel des Hauses Osborne. Der alte Herr hatte Todd vom Angestellten zum jüngeren Teilhaber seiner Firma befördert.

Mr. Osborne war Pate des jungen Master Todd (der im späteren Leben auf seine Karte »Mr. Osborne-Todd« schrieb und ein wahrer Weltmann wurde), während Miss Osborne Miss Maria Todd über die Taufe gehalten hatte und ihrem Schützling jährlich ein Gebetbuch, eine Sammlung von Traktaten, einen Band mit geistlichen Liedern oder ein ähnliches Andenken ihrer Güte geschenkt hatte. Miss Osborne nahm zuweilen die Todds zu einer Spazierfahrt in ihrem Wagen mit, und wenn sie krank waren, brachte ihr Lakai in weiten Kniehosen und Weste aus Plüsch Gelee und Delikatessen vom Russell Square zur Great Coram Street. Die Coram Street zitterte und blickte zum Russell Square auf, und Mrs. Todd, die sehr geschickt war im Ausschneiden von Papierschmuck für Hammelkeulen und die es verstand, aus Rüben und Möhren sehr naturgetreu Blumen und Enten zu fertigen, ging oft zum »Square«, wie sie es nannten, und half bei der Vorbereitung von großen Diners, ohne auch nur den leisesten Gedanken, ebenfalls an der Tafel teilzunehmen. Wenn in der letzten Minute ein Gast noch absagte, dann wurde Todd zum Essen eingeladen. Mrs. Todd und Maria kamen dann am Abend herüber, schlüpften nach leisem Klopfen ins Haus und saßen schon im Salon, wenn Miss Osborne und die Damen ihres Gefolges in dem Zimmer erschienen. Sie waren bereit, Duette und Lieder abzufeuern, bis die Herren nachkommen würden. Arme Maria Todd, arme junge Dame! Wie lange sie doch diese Duette und Sonaten in der »Street« üben und klimpern mußte, ehe sie in der Öffentlichkeit am »Square« vorgetragen werden konnten.

Es schien also vom Schicksal bestimmt zu sein, daß George alle, mit denen er in Berührung kam, beherrschen sollte und daß Freunde, Verwandte und Dienstboten die Knie vor dem kleinen Burschen beugen mußten. Zugegebenermaßen fand er sich sehr bereitwillig in diese Einrichtung der Dinge. Das tun ja die meisten Menschen. Georgy spielte gern die Herrenrolle und besaß wohl auch eine natürliche Anlage dafür.

Am Russell Square fürchteten sich alle vor Mr. Osborne, und Mr. Osborne fürchtete sich vor Georgy. Die elegante Art des Knaben und sein vorschnelles Geschwätz über Bücher und Gelehrsamkeit, die Ähnlichkeit mit seinem Vater (der unversöhnt drüben in Brüssel lag) schüchterten den alten Herrn ein und gaben dem Knaben die Oberhand. Der Alte fuhr oft zusammen, wenn der kleine Bursche unbewußt einen von früher bekannten Zug zeigte oder einen ererbten Ton anschlug. Es schien ihm dann, daß Georges Vater wieder vor ihm stehe. Die Härte gegen den älteren George versuchte er durch Nachsicht gegen den Enkel auszugleichen. Die Leute waren über diese Sanftmut erstaunt. Gegenüber seiner Tochter brummte und fluchte er zwar wie gewöhnlich, aber er lächelte, wenn George zu spät zum Frühstück herunterkam.

Miss Osborne, Georges Tante, war eine unglückliche alte Jungfer, gebrochen von mehr als vierzig Jahren Langerweile und schlechter Behandlung. Es war für einen lebhaften Knaben nicht schwer, sie zu beherrschen. Wenn George irgend etwas von ihr wollte, angefangen von den Marmeladentöpfen in ihren Wandschränken bis zu den rissigen, vertrockneten alten Farben in ihrem Tuschkasten (dem alten Tuschkasten, den sie als Schülerin von Mr. Smee gehabt hatte, als sie noch ein junges blühendes Mädchen gewesen war), dann ergriff er Besitz von dem Gegenstand seiner Wünsche und kümmerte sich danach nicht mehr um seine Tante.

Seine Freunde und Kumpane waren ein prahlerischer alter Schulmeister, der ihm schmeichelte, und ein Speichellecker, älter als er, den er verprügeln konnte. Es war Mrs. Todds größtes Entzücken, wenn er mit ihrer jüngsten Tochter, Rosa Jemima, einem lieblichen Mädchen von acht Jahren, zusammen war. »Das Pärchen paßt so hübsch zusammen«, sagte sie ständig (aber natürlich nicht zu den Leuten vom »Square«). Wer weiß, was noch geschehen kann! Sind sie nicht ein schönes Pärchen? dachte die zärtliche Mutter.

Der gebrochene alte Großvater mütterlicherseits war dem kleinen Tyrannen ebenfalls Untertan. Er mußte einfach einen Burschen respektieren, der so feine Kleider trug und mit einem Reitknecht ausritt. Georgy dagegen hörte beständig, wie Mr. Sedley von seinem unbarmherzigen alten Feind, Mr. Osborne, roh beschimpft und gemein verhöhnt wurde. Osborne nannte ihn den alten Almosenempfänger, den alten Kohlenmann, den alten Bankrotteur und gab ihm noch viele ähnliche bösartige gemeine Schimpfnamen. Wie konnte George dann einen so heruntergekommenen Mann achten? Einige Monate nach seiner Übersiedlung zum Großvater väterlicherseits starb Mrs. Sedley. Zwischen ihr und dem Kind hatte es wenig Liebe gegeben, und der Junge bemühte sich nicht, traurig zu scheinen. Er besuchte seine Mutter in einem schönen neuen Traueranzug und war sehr ärgerlich, nicht zu einem Theaterstück gehen zu können, das er sehr gern gesehen hätte.

Die Krankheit der alten Dame war Amelias Beschäftigung und vielleicht auch Rettung gewesen. Was wissen schon die Männer von den Leiden der Frauen. Wir würden wahnsinnig werden, hätten wir nur den hundertsten Teil der Qualen zu erdulden, die viele Frauen täglich bescheiden ertragen. Unablässige Sklaverei, die keinen Lohn findet, stete Sanftmut und Freundlichkeit, die mit Grausamkeit beantwortet wird; Liebe, Armut, Geduld, Wachsamkeit und dabei nicht die kleinste Anerkennung durch ein gutes Wort. Wie viele von ihnen müssen das alles in der Stille ertragen und erscheinen dann noch in der Öffentlichkeit, als ob sie nichts fühlten! Diese zärtlichen Sklavinnen müssen notwendigerweise heuchlerisch und schwach werden.

Amelias Mutter hatte anfangs immer im Stuhl gesessen und war dann bettlägerig geworden. Mrs. Osborne verließ das Bett der Kranken nie, es sei denn, sie lief, um George zu sehen. Aber selbst diese seltenen Besuche verübelte ihr die alte Frau, sie, die einst in besseren Tagen eine freundliche, lächelnde, gütige Mutter gewesen war, die aber Armut und Krankheit jetzt gebrochen hatten. Krankheit und Entfremdung berührten Amelia nicht so sehr, im Gegenteil, sie ermöglichten ihr, das andere Unglück, unter dem sie litt, zu ertragen, und die unablässigen Forderungen der Patientin brachten sie auf andere Gedanken. Amelia ertrug das mürrische Wesen der Mutter mit Sanftmut, glättete ihr das zerwühlte Kissen, hatte für ihre zänkischen Fragen stets eine milde Antwort, beruhigte die Leidende mit Worten der Hoffnung, die ihr frommes, einfaches Herz am besten fühlen und äußern konnte, und drückte die Augen zu, die einst so zärtlich auf sie geblickt hatten.

Dann verwendete sie all ihre Zeit und Zärtlichkeit für den Trost und die Pflege des alten verlassenen Vaters, der von dem Schlag, welcher ihn betroffen hatte, ganz betäubt war und jetzt allein in der Welt stand. Seine Frau, seine Ehre, sein Vermögen, alles, was er am meisten geliebt hatte, war ihm genommen worden, und nur Amelia stand ihm noch bei und stützte mit ihren sanften Armen den wankenden, gebrochenen alten Mann. Wir wollen die Geschichte nicht fortsetzen, sie wäre zu traurig und langweilig. Ich sehe den Jahrmarkt der Eitelkeit schon weinend vor mir.

Eines Tages, als die jungen Herren im Studierzimmer bei Ehrwürden Mr. Veal versammelt waren und der Hauskaplan des ehrenwerten Grafen Bareacres wie gewöhnlich deklamierte, fuhr ein hübscher Wagen an der Tür vor, die mit einer Statue der Athene geschmückt war, und zwei Herren stiegen aus. Die jungen Bangles stürzten ans Fenster, in der unbestimmten Annahme, ihr Vater sei aus Bombay gekommen. Der große unbeholfene Schüler von dreiundzwanzig, der insgeheim über einer Stelle des Eutropius weinte, preßte seine vernachlässigte Nase an die Fensterscheiben und sah zu dem Wagen hinab, als der Lakai vom Bock sprang und die Insassen aussteigen ließ.

»Es ist ein Dicker und ein Dünner«, sagte Mr. Bluck, als donnernd an die Tür geklopft wurde.

Alle waren interessiert, angefangen von dem Hauskaplan selbst, der die Väter künftiger Schüler zu sehen hoffte, bis hinab zu Master Georgy, der froh war, einen Vorwand zu haben, das Buch niederlegen zu dürfen.

Der Junge in der schäbigen Livree mit den blinden Kupferknöpfen, der sich stets in den zu engen Rock zwängte, wenn er öffnen sollte, kam in das Studierzimmer und sagte: »Zwei Herren wünschen Master Osborne zu sprechen.« Der Professor hatte an jenem Morgen einen geringfügigen Wortwechsel mit dem jungen Herrn gehabt, und zwar waren sie verschiedener Ansicht über das Mitbringen von Knallbonbons in die Schule. Sein Gesicht nahm aber den gewohnten Ausdruck milder Höflichkeit an, als er sagte: »Master Osborne, ich gebe Ihnen volle Erlaubnis, Ihre Freunde in der Kutsche zu sprechen, und bitte Sie, ihnen die respektvollsten Komplimente von mir und Mrs. Veal zu überbringen.«

Georgy ging in das Empfangszimmer und sah zwei Fremde, die er in seiner gewohnten hochmütigen Art mit zurückgeworfenem Kopf betrachtete. Der eine war dick, mit Schnurrbart, der andere mager und lang und trug einen blauen Rock. Er hatte ein braunes Gesicht und graumelierte Haare.

»Mein Gott, welche Ähnlichkeit!« sagte der lange Herr und fuhr zurück. »Kannst du erraten, wer wir sind, George?«

Der Knabe wurde rot wie gewöhnlich, wenn er erregt war, und seine Augen strahlten. »Den anderen kenne ich nicht«, sagte er, »aber ich sollte annehmen, daß Sie Major Dobbin sind.«

Es war tatsächlich unser alter Freund. Seine Stimme zitterte vor Freude, als er den Knaben begrüßte. Er nahm beide Hände des Burschen in die seinigen und zog ihn an sich.

»Deine Mutter hat dir gewiß von mir erzählt, nicht wahr?« fragte er.

»Natürlich!« erwiderte Georgy. »Viele, viele hundert Male.«


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