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Es kam ein Tag, an dem die Reihe züchtiger Vergnügungen und feierlicher Lustbarkeiten in Mr. Joseph Sedleys Familie durch ein Ereignis unterbrochen wurde, das sich in den meisten Häusern zuträgt. Wenn du in deinem Hause vom Salon in das Stockwerk hinaufsteigst, wo sich die Schlafzimmer befinden, so hast du vielleicht schon gerade vor dir in der Mauer ein kleines Bogenfenster erblickt, das einmal die Treppe zum zweiten Stock erhellt (wo die Kinderzimmer und Dienerräume sind), aber noch einen anderen Zweck erfüllt, den dir die Leute des Leichenbestatters erklären können. Sie setzen nämlich den Sarg in diesem Bogenfenster ab oder schieben ihn durch, damit sie den in dem schwarzen Behältnis schlummernden kalten Bewohner nicht auf unziemliche Weise stören.
Dieses Bogenfenster im ersten Stock eines Londoner Hauses beherrscht das Treppenhaus, die Hauptverkehrsader, auf der die Hausbewohner sich bewegen. Vor Tagesanbruch schleicht die Köchin hinab, um ihre Töpfe und Pfannen in der Küche zu scheuern. Der junge Herr steigt leise hinauf, nachdem er die Stiefel in der Halle gelassen hat, wenn er nach einer fröhlichen Nacht im Klub nach Tagesanbruch heimgekommen ist. Das junge Mädchen rauscht hinunter, glänzend und schön, mit frischen Atlasbändern und gestärktem Musselin, bereit, auf dem Ball Eroberungen zu machen, oder Master Tommy rutscht das Geländer hinunter, voller Verachtung für Stufen und Gefahr. Auf seinen starken Armen trägt der Ehemann liebevoll die lächelnde junge Mutter hinab, Stufe für Stufe, gefolgt von der Pflegerin, wenn der Tag gekommen ist, an dem der Arzt der bezaubernden Patientin erlaubt hat, wieder unten zu sein. John schlurft gähnend, das tropfende Talglicht in der Hand, hinauf, um zu Bett zu gehen, und bereits vor Sonnenaufgang wieder sammelt er die Stiefel ein, die ihn im Flur erwarten. Das ist die Treppe, über die man Säuglinge trägt, alte Leute führt, Gäste zum Ball geleitet, über die der Pfarrer zur Taufe, der Doktor ins Krankenzimmer und die Leute des Leichenbestatters ins obere Stockwerk gehen – was für ein Mahnzeichen des Lebens, des Todes und der Eitelkeit ist dieses Bogenfenster und die Treppe –, wenn du dich entschließt, sie zu betrachten, auf dem Podest sitzt und deine Blicke auf und nieder durch das Treppenhaus schweifen läßt. Auch uns wird der Arzt dort zum letzten Male besuchen, mein Freund im Narrenkleid, und die Pflegerin wird durch die Bettvorhänge blicken, und du wirst nichts bemerken. Dann wird sie ein wenig die Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen. Nun wird man alle Fenstervorhänge auf der Straßenseite herablassen und in den hinteren Räumen wohnen, schließlich wird man die Rechtsanwälte und andere Leute in Schwarz herbeiholen und so weiter. Deine und meine Komödie ist dann ausgespielt, wir werden weit, weit weggetragen werden von den Trompetenstößen und dem Geschrei und den akrobatischen Kunststücken des Lebens. Sind wir vornehm, so wird man Leichenwappen über unserer letzten Wohnung aufhängen mit vergoldetem Cherubim und Mottos, die besagen, daß »Friede im Himmel« sei. Dein Sohn wird das Haus neu einrichten oder es vielleicht vermieten und in ein moderneres Viertel ziehen; dein Name wird im nächsten Jahr in der Klubliste unter »Todesfälle« aufgeführt sein. Wie sehr man dich auch beklagen mag, so wird doch deine Witwe darauf achten, daß ihre Trauerkleider hübsch aussehen. Die Köchin wird heraufschicken oder selbst kommen, um wegen des Essens zu fragen. Die Überlebenden werden den Anblick deines Bildes über dem Kaminsims bald ertragen können, und nach kurzer Zeit verschwindet dieses von seinem Ehrenplatz, und an seine Stelle tritt das des regierenden Sohnes.
Welche Toten werden am zärtlichsten und leidenschaftlichsten betrauert? Ich glaube, diejenigen, von denen die Überlebenden am wenigsten geliebt wurden. Der Tod eines Kindes verursacht großen Kummer und Tränenfluten, wie sie dein Ende, lieber Leser, nie hervorrufen wird. Der Tod eines Kindes, das dich kaum gekannt hat, das dich nach einer achttägigen Abwesenheit vergessen haben würde, wirft dich mehr nieder als der Verlust deines besten Freundes oder deines ältesten Sohnes – eines Erwachsenen wie du, mit eigenen Kindern. Wir können rauh und streng gegen Juda und Simeon sein – unsere Liebe und unser Mitleid wird stets dem kleinen Benjamin gelten. Und wenn du alt bist, wie mancher Leser es sein mag oder werden wird – alt und reich oder alt und arm –, so wirst du wohl eines Tages bei dir denken: Alle um mich her sind gute Menschen, sie werden sich aber nicht zu sehr grämen, wenn ich nicht mehr da bin. Ich bin sehr reich, und sie möchten mich gern beerben – oder sehr arm, und sie sind es müde, mich zu ernähren.
Die Trauerzeit für Mrs. Sedley war kaum vorüber, und Joseph hatte kaum Gelegenheit gefunden, seine schwarze Kleidung abzulegen und in den glänzenden Westen zu erscheinen, die er so liebte, als es Mr. Sedleys Umgebung klar wurde, daß ein anderes Ereignis bevorstand und der alte Mann im Begriff stand, seine Frau in dem finsteren Land, wohin sie vorausgegangen war, aufzusuchen. »Der Gesundheitszustand meines Vaters«, bemerkte Joseph Sedley feierlich im Klub, »hindert mich daran, in dieser Saison meine großen Gesellschaften zu geben; wenn Sie aber um halb sieben ganz still kommen wollen, Chutney, mein Junge, zu einem einfachen Mahl mit einigen von der alten Garde – so werde ich mich stets freuen, Sie zu begrüßen.« So aßen Joseph und seine Bekannten und tranken ihren Rotwein in aller Stille, während im oberen Stockwerk der Sand des Lebens im Stundenglas des alten Mannes verrann. Der Butler in Samtschuhen brachte ihnen leise den Wein, und sie setzten sich nach dem Essen zu einer Partie Whist nieder, an der auch Major Dobbin zuweilen teilnahm. Hin und wieder kam auch Mrs. Osborne herab, wenn ihr Patient für den Abend versorgt war und in den leichten, unruhigen Schlummer des Alters gesunken war.
Der alte Mann klammerte sich während dieser Krankheit fest an seine Tochter. Aus keiner anderen Hand wollte er seine Brühe und Medizin nehmen. Seine Pflege war fast ihre einzige Beschäftigung; ihr Bett wurde dicht an die Tür zu seinem Zimmer gestellt, und das geringste Geräusch oder die leiseste Unruhe des launischen Kranken machten sie wach. Aber um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – oft lag er manche Stunde schweigend und bewegungslos da, um seine gütige, sorgsame Wärterin nicht aufzuwecken.
Er liebte seine Tochter jetzt vielleicht zärtlicher als je seit ihrer Kindheit. Bei der Ausübung ihrer freundlichen Dienste und ihrer Kindespflichten strömte dieses einfache Geschöpf einen hellen Glanz aus. Sie kommt so geräuschlos ins Zimmer wie ein Sonnenstrahl, dachte Mr. Dobbin, wenn er sie ins Zimmer ihres Vaters hineingehen und wieder erscheinen sah. Eine heitere Freundlichkeit erhellte ihr Gesicht, wenn sie sanft und leise hin und her wandelte. Wer hat nicht schon diesen süßen engelhaften Ausdruck der Liebe und des Mitleids auf den Gesichtern von Frauen gesehen, die bei ihren Kindern wachen oder im Krankenzimmer zu tun haben?
So wurde eine jahrelange, geheime Fehde stillschweigend beigelegt. In diesen letzten Stunden vergaß der alte Mann, gerührt von ihrer Liebe und Güte, all seinen Ärger gegen sie und all das Unrecht, das er manche lange Nacht hindurch mit seiner Frau besprochen hatte: daß sie alles für den Jungen geopfert habe, daß sie sich nicht um ihre alten unglücklichen Eltern kümmere und nur an das Kind denke. Wie albern und unvernünftig, ja eigentlich sündhaft sie sich benommen habe, als man ihr George weggenommen habe. Der alte Sedley vergaß diese Anschuldigungen, als er seine letzte Rechnung machte, und ließ der sanften, klaglosen kleinen Märtyrerin Gerechtigkeit widerfahren. Als sie sich eines Nachts in sein Zimmer stahl und ihn wach fand, legte der alte gebeugte Mann seine Beichte ab. »Ach, Emmy, ich habe eben daran gedacht, daß wir sehr böse und ungerecht gegen dich gewesen sind«, sagte er und hielt ihr seine kalte, kraftlose Hand hin. Sie kniete sich am Bett nieder und betete, und er betete ebenfalls, ohne ihre Hand loszulassen. Mögen wir, lieber Freund, auch solche Gesellschaft bei unseren Gebeten haben, wenn wir an der Reihe sind.
Als er wach im Bett lag, zog wahrscheinlich sein früheres Leben an ihm vorüber – seine frühen, hoffnungsvollen Anstrengungen, seine Erfolge und sein Reichtum im Mannesalter, der spätere Niedergang und sein gegenwärtiger hilfloser Zustand – keine Hoffnung, sich am Schicksal zu rächen, das ihn betrogen hatte – weder einen Namen noch Geld zu hinterlassen – ein vergeudetes, nutzloses Leben voller Niederlagen und Enttäuschungen – und nun das Ende! Welches Los ist wohl das bessere, lieber Leser, reich und berühmt oder arm und enttäuscht zu sterben? Etwas zu besitzen und sich davon trennen zu müssen, oder aus dem Leben zu scheiden, nachdem man das Spiel gespielt und verloren hat? Es muß ein seltsames Gefühl sein, wenn ein Tag in unserem Leben kommt, an dem wir sagen: Morgen werden Erfolg oder Mißerfolg gleichgültig sein. Die Sonne wird aufgehen, und die Myriaden von Menschen eilen ihrer Arbeit oder dem Vergnügen nach, ich aber werde der Plackerei entronnen sein.
So kam dann ein Morgen, an dem die Sonne sich erhob und alle Welt aufstand und an die verschiedenen Arbeiten und Vergnügungen ging, mit Ausnahme des alten John Sedley. Der sollte nicht mehr mit dem Schicksal hadern und nicht mehr hoffen und Pläne schmieden, sondern nur noch einen stillen und unbekannten Aufenthaltsort auf einem Friedhof in Brompton an der Seite seiner alten Frau aufsuchen.
Major Dobbin, Joseph und Georgy folgten in einem schwarz ausgeschlagenen Wagen seiner sterblichen Hülle zum Grabe. Joseph kam extra vom »Stern und Hosenbandorden« in Richmond, wohin er sich nach dem traurigen Ereignis zurückgezogen hatte. Er wollte nicht gern mit dem ... unter diesen Umständen ... im Hause bleiben, Sie verstehen. Emmy dagegen blieb und tat ihre Pflicht wie gewöhnlich. Sie war nicht besonders gramgebeugt und eher ernst als traurig. Sie betete um ein ebenso ruhiges und schmerzloses Ende und dachte voll ehrfurchtsvollen Vertrauens an die Worte, die ihr Vater während seiner Krankheit über seinen Glauben, seine Ergebung und seine Hoffnungen auf das Jenseits geäußert hatte.
Ja, nach alledem meine ich, daß dieses Ende das bessere ist. Nehmen wir an, du bist sehr reich und wohlhabend und sagst an diesem letzten Tag: »Ich bin sehr reich, ich bin einigermaßen bekannt, ich habe mein ganzes Leben in der besten Gesellschaft verbracht und komme, dem Himmel sei Dank, aus einer höchst achtbaren Familie. Ich habe meinem König und Vaterland in Ehren gedient. Ich war mehrere Jahre im Parlament, und ich kann wohl sagen, meine Reden fanden aufmerksames Gehör und wurden recht gut aufgenommen. Ich schulde niemandem etwas, im Gegenteil, ich habe meinem alten Universitätsfreund Jack Lazarus fünfzig Pfund geliehen, um die ihn meine Testamentsvollstrecker nicht drängen werden. Ich hinterlasse meinen Töchtern je zehntausend Pfund – eine sehr gute Aussteuer für Mädchen. Ich vererbe mein Silber, mein Mobiliar, mein Haus in der Baker Street und eine hübsche Jahresrente meiner Witwe auf Lebzeit und meinem Sohn meine Landgüter, mein Geld in Staatspapieren und meinen erlesenen Weinkeller in der Baker Street. Ich hinterlasse meinem Kammerdiener zwanzig Pfund jährlich, und ich behaupte, niemand wird nach meinem Tod etwas gegen meinen Charakter sagen können.« Oder nehmen wir an, dein Schwanengesang klingt ganz anders, und du sagst: »Ich bin ein armer, gebeugter, enttäuschter, alter Bursche, und mein ganzes Leben war ein Fehlschlag. Ich war weder mit viel Verstand noch mit großem Vermögen begabt und bekenne, daß ich hundert größere und kleinere Fehler begangen habe. Ich gestehe, daß ich oft pflichtvergessen war. Ich kann meine Schulden nicht bezahlen. Hier liege ich hilflos und demütig auf meinem letzten Lager, bete um Verzeihung für meine Schwächen und werfe mich mit reuigem Herzen der göttlichen Gnade zu Füßen.« Welche von diesen beiden Reden, glaubst du wohl, mag die beste Leichenrede für dich sein? Der alte Sedley hielt die letztere, und in dieser demütigen Stimmung, an die Hand seiner Tochter geklammert, sah er das Leben und seine Eitelkeit unter sich hinwegsinken.
»Da siehst du«, sagte der alte Osborne zu George, »was von Verdienst, Fleiß und klugen Spekulationen und so weiter kommt. Sieh mich und mein Bankkonto an! Sieh dann deinen armen Großvater Sedley und sein Versagen an! Und doch war er vor zwanzig Jahren ein besserer Mann als ich – besser, würde ich sagen, um zehntausend Pfund.«
Außer diesen Menschen und Familie Clapp, die von Brompton zu einem Beileidsbesuch hereinkam, kümmerte sich keine Menschenseele auch nur einen Pfifferling um den alten John Sedley oder erinnerte sich der Existenz eines solchen Mannes.
Als der alte Osborne zum erstenmal von seinem Freund Oberst Buckler hörte (wie der kleine Georgy bereits berichtete), was für ein ausgezeichneter Offizier Major Dobbin sei, bezeigte er sehr verächtlich seinen Unglauben und drückte sein Erstaunen aus, daß solch ein Kerl überhaupt Verstand oder Ruf besitzen könnte. Er hörte aber das Lob des Majors von verschiedenen Bekannten. Sir William Dobbin hegte eine hohe Meinung von seinem Sohn und erzählte viele Anekdoten, aus denen man entnehmen konnte, wie gelehrt, tapfer und angesehen der Major war. Schließlich erschien sein Name in der Besucherliste von ein paar großen Gesellschaften des Adels, und dieser Umstand machte einen ungeheuren Eindruck auf den alten Aristokraten vom Russell Square.
Die Stellung des Majors als Vormund von George, dessen Besitz an seinen Großvater übergegangen war, machte einige Zusammenkünfte zwischen den beiden Männern notwendig. Dabei fiel dem alten Osborne, der ein scharfsichtiger Geschäftsmann war, einmal etwas auf, was ihn sehr stutzig machte und ihn zugleich peinigte und erfreute. Als er nämlich die Rechnungsbücher des Majors für sein Mündel und die Mutter des Knaben durchsah, bemerkte er, daß ein Teil des Geldes, von dem die arme Witwe mit ihrem Kind gelebt hatte, aus Dobbins eigener Tasche gekommen war.
Er drängte Dobbin um Aufschluß, und der Major errötete und stotterte sehr, aber legte endlich doch ein volles Bekenntnis ab, denn er konnte ja nicht lügen. »Die Heirat«, sagte er (dabei verfinsterte sich das Gesicht seines Gegenübers), »war hauptsächlich mein Werk. Ich glaubte, mein armer Freund sei so weit gegangen, daß ein Lösen der Verlobung Ehrlosigkeit für ihn bedeutet hatte und für Mrs. Osborne den Tod. Und ich konnte, als sie ganz mittellos zurückblieb, nichts anderes tun, als ihr soviel Geld, wie mir entbehrlich war, zur Unterstützung zu geben.«
»Major Dobbin«, sagte Mr. Osborne, blickte ihn fest an und wurde ebenfalls rot, »Sie haben mich tief verletzt, aber erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie ein ehrlicher Kerl sind. Hier ist meine Hand; es wäre mir wirklich nie in den Sinn gekommen, daß mein eigen Fleisch und Blut auf Ihre Kosten gelebt hat.« Die beiden schüttelten sich die Hände, und Major Dobbin war sehr verwirrt, daß auf diese Art seine barmherzige Heuchelei entdeckt worden war.
Er bemühte sich, den alten Mann zu erweichen und ihn mit dem Andenken seines Sohnes auszusöhnen. »Er war so ein feiner Kerl«, sagte er, »daß wir ihn alle liebten und alles für ihn getan hätten. Ich war damals noch ein junger Mann und war ungeheuer geschmeichelt, daß er mich so vorzog. Ich fand mehr Vergnügen daran, in seiner Gesellschaft gesehen zu werden als in der des Oberkommandierenden. Ich kenne niemanden, der ihm an Mut, Tollkühnheit und anderen guten Soldateneigenschaften gleichkommt.« Und Dobbin erzählte nun dem alten Vater alle Geschichten, an die er sich noch entsinnen konnte, von der Tapferkeit und den Talenten seines Sohnes. »Georgy ist ihm so ähnlich«, fügte der Major hinzu.
»Er ist ihm so ähnlich, daß ich manchmal zittere«, sagte der Großvater.
Ein paarmal kam der Major zu Mr. Osborne zum Diner (es war während Mr. Sedleys Krankheit), und als die beiden nach dem Essen beisammensaßen, unterhielten sie sich nur von dem dahingegangenen Helden. Der Vater prahlte nach seiner Gewohnheit mit ihm und verherrlichte sich selbst durch die Erzählung von den Ruhmestaten und der Tapferkeit seines Sohnes. Seine Stimmung in bezug auf den armen Kerl war jetzt jedenfalls besser und liebevoller als bisher, und das christliche Herz des guten Majors freute sich über diese Anzeichen zurückkehrenden Friedens und Wohlwollens. Am zweiten Abend nannte ihn der alte Osborne »William«, gerade wie zu jener Zeit, als Dobbin und George noch als Knaben zusammen gewesen waren, und der ehrliche Major war von diesem Zeichen der Aussöhnung ergriffen.
Als am nächsten Morgen beim Frühstück Miss Osborne mit der Verbissenheit ihres Alters und Charakters sich geringschätzig über Aussehen und Benehmen des Majors zu äußern versuchte, unterbrach sie der Herr des Hauses: »Du wärst recht froh gewesen, wenn du ihn für dich bekommen hättest, Miss O.; aber diese Trauben sind zu sauer. Haha! Major William ist ein feiner Kerl.«
»Das stimmt, Großpapa«, sagte Georgy beifällig, trat dicht an den alten Herrn heran, faßte ihn, gutmütig lachend, an seinem langen, grauen Backenbart und küßte ihn. Am Abend erzählte er die Geschichte seiner Mutter, die mit dem Jungen völlig einer Meinung war. »Das ist er wirklich«, sagte sie. »Dein lieber Vater hat es auch immer gesagt. Er ist ein sehr guter und rechtschaffener Mensch.« Dobbin kam zufälligerweise kurz nach diesem Gespräch herein, und das war wahrscheinlich der Grund, weshalb Amelia errötete, und der junge Taugenichts erhöhte ihre Verwirrung noch, indem er Dobbin den zweiten Teil der Geschichte erzählte. »Hör mal, Dobbin«, sagte er, »ich kenne ein ungewöhnlich nettes Mädchen, das dich gern heiraten möchte. Sie hat eine Unmenge Geld, trägt falsche Haare und schimpft von früh bis spät mit den Dienstboten herum.« »Wer ist es denn?« fragte Dobbin. »Tante Osborne«, entgegnete der Knabe, »der Großpapa hat es gesagt. Und stell dir mal vor, Dobbin, wie prima es wäre, wenn du mein Onkel würdest.« Die zitternde Stimme des alten Sedley im Nebenzimmer rief in diesem Augenblick nach Amelia, und das Lachen hörte auf.
Daß sich die Einstellung des alten Osborne änderte, war deutlich zu merken. Er fragte George zuweilen nach seinem Onkel und lachte über den Knaben, wenn dieser nachahmte, wie Joseph »Gott behüte mich!« sagte und seine Suppe verschlang. Dann erklärte er: »Es ist respektlos, wenn ihr jungen Burschen eure Verwandten verspottet. Miss Osborne, wenn du heute ausfährst, so gib meine Karte bei Mr. Sedley ab, hörst du? Mit ihm habe ich ja keinen Streit.«
Die Karte wurde erwidert, und Joseph und der Major wurden zum Diner geladen – wohl dem glänzendsten und langweiligsten, das Mr. Osborne je gegeben hatte. Jedes Stück des Familiensilbers wurde ausgestellt, und die beste Gesellschaft war geladen. Mr. Sedley führte Miss Osborne zu Tisch, und sie war sehr gnädig gegen ihn, während sie kaum ein Wort an den Major richtete, der furchtsam fern von ihr neben Mr. Osborne saß. Joseph sagte feierlich, es sei die beste klare Schildkrötensuppe, die er im Leben gegessen habe, und fragte Mr. Osborne, wo er seinen Madeira herhabe.
»Er ist von Sedley«, flüsterte der Butler seinem Herrn zu. »Ich habe ihn schon lange und mußte eine Stange Geld dafür bezahlen«, sagte Mr Osborne laut zu seinem Gast, und seinem Nachbar zur Rechten flüsterte er zu, er habe ihn »auf der Auktion des Alten« gekauft.
Mehr als einmal fragte er den Major nach – nach Mrs. George Osborne – ein Thema, bei dem der Major sehr beredt sein konnte, wenn er wollte. Er erzählte dem alten Osborne, was sie alles erdulden mußte und von ihrer leidenschaftlichen Liebe zu ihrem Mann, dessen Andenken sie noch in Ehren halte, wie zärtlich und pflichtgetreu sie ihre Eltern unterstützt und wie sie ihren Knaben hingegeben habe, da sie dies für ihre Pflicht hielt. »Sie wissen nicht, was sie durchgemacht hat«, sagte der ehrliche Dobbin mit zitternder Stimme, »und ich hoffe und glaube, Sie werden sich mit ihr aussöhnen. Wenn sie Ihnen den Sohn genommen hat, so hat sie Ihnen dafür ihren eigenen gegeben. Wie sehr Sie auch Ihren George geliebt haben mögen, Sie können sich doch darauf verlassen, daß sie den ihrigen noch zehnmal mehr liebte.«
»Bei Gott, Sie sind ein guter Bursche«, war alles, was Mr. Osborne sagte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß der Witwe die Trennung von ihrem Sohn schmerzlich sein könnte oder daß es ihr Kummer bereiten könnte, zu sehen, wie er reich wurde. Man sprach schon von einer bevorstehenden und unvermeidlichen Versöhnung, und Amelias Herz begann bei dem Gedanken an die furchtbare Zusammenkunft mit Georges Vater bereits zu klopfen.
Zu dieser Versöhnung sollte es jedoch nicht kommen. Die langwierige Krankheit und der Tod des alten Sedley kamen dazwischen, und danach war eine Zusammenkunft eine Zeitlang unmöglich. Jene Katastrophe und andere Ereignisse mögen ihre Spuren in Mr. Osborne zurückgelassen haben. Er war in der letzten Zeit sehr hinfällig, stark gealtert, und seine Gedanken beschäftigten sich mit vielem. Er ließ seine Rechtsanwälte kommen und änderte offensichtlich etwas an seinem Testament. Der behandelnde Arzt erklärte ihn für sehr schwach und erregt und sprach von einem kleinen Aderlaß und Seeluft; er benutzte aber keines dieser Heilmittel.
Eines Tages vermißte ihn sein Diener beim Frühstück und ging in sein Ankleidezimmer hinauf. Dort fand er ihn, auf dem Boden vor seinem Toilettentisch, vom Schlag getroffen. Miss Osborne wurde benachrichtigt, die Ärzte geholt, Georgy blieb der Schule fern, die Aderlasser und Schröpfer kamen. Osborne gewann zeitweise das Bewußtsein zurück, konnte aber nicht mehr sprechen, obwohl er sich ein paarmal krampfhaft bemühte. Vier Tage später starb er. Die Ärzte gingen, die Leute des Leichenbestatters kamen; die Fensterläden zum Russell Square wurden geschlossen. Bullock erschien in rasender Eile aus der City. »Wieviel hat er dem Jungen hinterlassen? Doch sicherlich nicht die Hälfte? Sicherlich doch gleiche Teile für alle drei?« Es war ein aufregender Augenblick.
Was war es, was der arme alte Mann ein paarmal vergeblich auszudrücken versucht hatte? Hoffentlich der Wunsch, Amelia zu sehen, um sich, ehe er die Welt verließ, mit der lieben, treuen Frau seines Sohnes zu versöhnen. Das wird es höchstwahrscheinlich gewesen sein, denn sein Testament bewies, daß der Haß, den er so lange genährt, aus seinem Herzen verschwunden war.
In der Tasche seines Schlafrockes fand man den Brief mit dem großen roten Siegel, den ihm George von Waterloo geschrieben hatte. Er hatte auch die anderen Papiere seines Sohnes durchgesehen, denn der Schlüssel zu dem Kasten, in dem er sie aufbewahrte, war ebenfalls in seiner Tasche, und die Siegel und Umschläge waren erbrochen. Das war höchstwahrscheinlich in der Nacht vor dem Schlaganfall geschehen; der Butler hatte ihm noch den Tee in sein Studierzimmer gebracht und ihn dabei vorgefunden, wie er in der großen roten Familienbibel las.
Als das Testament geöffnet wurde, stellte es sich heraus, daß die eine Hälfte des Vermögens George und die andere Hälfte zu gleichen Teilen den beiden Schwestern vermacht war. Mr. Bullock sollte zum gemeinsamen Vorteil aller die Geschäfte des Handelshauses weiterhin leiten oder die Firma löschen, wie er es für richtig hielt. Eine Jahresrente von fünfhundert Pfund auf Kosten des Vermögens von George sollte seine Mutter bekommen, »die Witwe meines geliebten Sohnes George Osborne«, die die Vormundschaft über den Knaben wieder übernehmen sollte.
»Major Dobbin, der Freund meines geliebten Sohnes«, war zum Testamentsvollstrecker ernannt, »und da er aus eigener Güte und Freigebigkeit aus seinem Privatvermögen meinen Enkel und die Witwe meines Sohnes unterhielt, als sie ohne andere Unterstützung waren« (fuhr der Testator fort), »danke ich ihm hiermit herzlich für seine Liebe und Achtung ihnen gegenüber und bitte ihn, eine Summe anzunehmen, die zum Kauf eines Oberstleutnantspatentes ausreichen wird, oder sie nach seinem Ermessen anders zu verwenden.«
Als Amelia hörte, daß ihr Schwiegervater sich mit ihr ausgesöhnt hatte, schmolz ihr Herz, und sie war dankbar für das ihr hinterlassene Geld. Als sie aber vernahm, daß Georgy ihr wiedergegeben sei und wie und von wem und daß Williams Güte sie in ihrer Armut unterstützt habe und daß ihr der Mann und der Sohn von William gegeben worden seien – oh, da sank sie auf die Knie und flehte Segen auf das treue, gütige Herz herab. Sie beugte sich demütig nieder und küßte gleichsam die Füße dieser schönen, großmütigen Liebe.
Dankbarkeit war alles, womit sie diese bewundernswürdige Hingabe und die Wohltaten lohnen konnte – nur Dankbarkeit! Wenn sie an eine andere Vergeltung dachte, so erhob sich das Bild Georges aus dem Grab und sagte: »Du bist mein, nur mein – jetzt und für immer.«
William kannte ihre Gefühle, hatte er nicht sein ganzes Leben damit zugebracht, sie zu erraten?
Als der Inhalt von Mr. Osbornes Testament der Welt bekannt wurde, war es sehr aufschlußreich, zu beobachten, wie Mrs. George Osborne in der Achtung ihres Bekanntenkreises stieg. Die Dienstboten in Josephs Haus, die ihre bescheidenen Aufträge in Frage stellten und meinten, sie wollten »den Herrn fragen«, ob sie gehorchen sollten oder nicht, dachten jetzt nicht mehr daran. Die Köchin vergaß, über die schäbigen alten Kleider zu lächeln (die durch den Putz der Küchendame am Sonntagabend zum Kirchgang wirklich in den Schatten gestellt wurden). Die anderen brummten nicht mehr, wenn ihre Klingel ertönte, oder vergaßen gar eine Zeitlang, dem Ruf zu folgen. Der Kutscher, der sonst knurrte, daß seine Pferde schon wieder heraus müßten und sein Wagen in ein Krankenhaus für den alten Kerl und Mrs. Osborne verwandelt würde, fuhr sie jetzt mit größter Bereitwilligkeit und zitterte, daß er durch Osbornes Kutscher ersetzt werden könnte. Er fragte, was diese Kutscher da vom Russell Square denn schon von der Stadt verstünden und ob sie es überhaupt fertigbrächten, vor einer Dame auf dem Bock zu sitzen. Josephs Freunde und Freundinnen interessierten sich plötzlich für Emmy, und die Beileidskarten häuften sich auf dem Tisch in der Halle. Joseph selbst, der sie als gutmütige, harmlose Bettlerin betrachtet hatte, der er aus Pflichtbewußtsein Nahrung und Obdach gab, behandelte nun sie und den reichen kleinen Jungen, seinen Neffen, mit der größten Achtung. Er war eifrig darauf bedacht, daß sie Abwechslung und Unterhaltung bekam nach all ihren Sorgen und Prüfungen – »das arme liebe Mädchen«. Er erschien jetzt sogar am Frühstückstisch und erkundigte sich angelegentlich, wie sie den Tag zu verbringen wünsche.
In ihrer Eigenschaft als Georges Vormund bot sie mit Zustimmung des Majors, ihres Mitbevollmächtigten, Miss Osborne an, in dem Haus am Russell Square wohnen zu bleiben, solange es ihr beliebe. Die Dame erklärte aber mit Dank, daß sie nicht daran denke, allein in dem traurigen Haus zu bleiben, und begleitet von zwei alten Dienern, reiste sie in tiefer Trauer nach Cheltenham. Die übrigen Dienstboten wurden großzügig entlohnt und entlassen. Der treue, alte Butler, den Mrs. Osborne zu behalten vorschlug, lehnte ab und zog es vor, seine Ersparnisse in einem Gasthaus anzulegen, wo es ihm hoffentlich nicht schlecht erging. Da Miss Osborne nicht am Russell Square wohnen wollte, lehnte es Mrs. Osborne nach einigen Besprechungen ebenfalls ab, das düstere alte Haus zu beziehen. Es wurde also ausgeräumt, die prächtigen Möbel und Einrichtungsgegenstände, die schrecklichen Kronleuchter und die trostlosen Spiegel verpackt und verstaut, die prachtvollen Rosenholzmöbel vom Salon wurden in Stroh gehüllt, die Teppiche zusammengerollt und verschnürt, die kleine auserlesene Bibliothek gutgebundener Bücher wurde in zwei Weinkisten gepackt, und all diese Kostbarkeiten wurden auf mehreren riesigen Möbelwagen in die Gewerbehalle gebracht, wo sie bis zu Georgys Volljährigkeit liegen sollten. Die großen, schweren, dunklen Silberkästen wanderten in die Keller der bedeutenden Bank von Stumpy und Rowdy, um dort denselben Zeitpunkt zu erwarten.
Eines Tages besuchte Emmy mit George an der Hand, in tiefe Trauer gekleidet, das verlassene Haus, das sie seit ihren Mädchenjahren nicht mehr betreten hatte. Der Platz davor, wo die Möbelwagen beladen worden und weggerollt waren, war strohbedeckt. Sie begaben sich in die großen, leeren Räume. An den Wänden sah man noch die Spuren der Gemälde und Spiegel, dann gingen sie die große, glatte Steintreppe hinauf zu den oberen Räumen, in den, wo der Großpapa gestorben war, wie George flüsternd bemerkte, und dann noch höher in Georges eigenes Zimmer. Der Knabe hielt sich noch immer an ihrer Hand fest, aber sie dachte an einen anderen. Sie wußte, daß das Zimmer seinem Vater gehört hatte, wie es später ihm gehörte.
Sie trat an eins der offenen Fenster (zu denen sie kranken Herzens emporgestarrt hatte, nachdem ihr das Kind weggenommen worden war) und konnte von dort aus über die Bäume vom Russell Square hinweg das alte Haus erblicken, in dem sie geboren war und wo sie in ihrer Jugend so viele glückliche Tage verlebt hatte. Alles tauchte wieder vor ihr auf: die schönen Ferien, die freundlichen Gesichter, die sorglose, fröhliche Vergangenheit und die langen Schmerzen und Prüfungen, die sie später zu Boden geworfen hatten. Sie dachte daran und an den Mann, der ihr treuer Beschützer, ihr guter Genius, ihr einziger Wohltäter, ihr zärtlicher, großmütiger Freund gewesen war.
»Sieh mal, Mutter«, rief George, »hier ist ein G. O. mit einem Diamanten in das Glas geritzt. Ich habe es noch nie gesehen. Ich war es aber nicht.«
»Es war deines Vaters Zimmer, lange, lange vor deiner Geburt, George«, sagte sie und küßte den Knaben errötend.
Als sie nach Richmond zurückfuhren, war sie sehr schweigsam. Dort hatten sie vorläufig ein Haus gemietet, und dort statteten ihr lächelnde Rechtsanwälte diensteifrige Besuche ab (die sie sicher auf die Rechnung setzten), und dort gab es natürlich auch ein Zimmer für Major Dobbin, der häufig herübergeritten kam, da er für sein kleines Mündel sehr viel Geschäftliches zu erledigen hatte.
Nun wurde auch Georgy auf unbegrenzten Urlaub aus Mr. Veals Schule genommen, und dieser erhielt den Auftrag, eine Inschrift für eine schöne Marmorplatte anzufertigen, die in der Findelhauskirche unter dem Monument Hauptmann George Osbornes angebracht werden sollte.
Obwohl die Dame Bullock, Georges Tante, durch dieses kleine Ungeheuer um die Hälfte der Summe gebracht worden war, die sie von ihrem Vater erwartet hatte, bewies sie ihre christliche Gesinnung doch dadurch, daß sie sich mit der Mutter und dem Knaben aussöhnte. Roehampton ist nicht weit von Richmond entfernt. Eines Tages fuhr daher die Kutsche mit dem goldenen Bullenwappen am Wagenschlag und den schwammigen Kindern im Innern an Amelias Haus in Richmond vor, und die Familie Bullock fiel in den Garten ein, wo Amelia ein Buch las, Joseph in einer Laube gelassen Erdbeeren in Wein tauchte und der Major in einer indischen Jacke gebückt stand und Georgy seinen Rücken zum Bockspringen lieh. Der Junge sprang über Dobbins Kopf hinweg geradewegs in die kleine Vorhut der Bullocks hinein, die mit ungeheuren schwarzen Schleifen an den Hüten und breiten schwarzen Schärpen ihre trauernde Mama bei diesem Besuch begleiteten.
Er hat gerade das richtige Alter für Rosa, dachte die zärtliche Mutter und blickte auf ihr liebes Kind, ein ungesund aussehendes kleines Fräulein von sieben.
»Rosa, geh und gib deinem lieben Cousin einen Kuß«, sagte Mrs. Frederick. »Kennst du mich nicht, George? Ich bin deine Tante.«
»Ich kenne dich sehr gut, aber ich will nicht gern geküßt werden«, sagte George und wich vor der gehorsamen Liebkosung seiner Cousine zurück.
»Führe mich zu deiner lieben Mama, du drolliges Kind«, sagte Mrs. Frederick, und die beiden Damen sahen sich nun nach fünfzehn Jahren zum ersten Male wieder. In der Zeit, als Emmy mit Armut und Sorgen zu kämpfen hatte, war es der anderen nie eingefallen, sie zu besuchen; da es ihr aber jetzt leidlich gut ging, verstand es sich von selbst, daß die Schwägerin kam.
So kamen auch viele andere. Unsere alte Freundin, Miss Swartz, kam mit ihrem Mann von Hampton Court herbeigedonnert, begleitet von Lakaien in quittegelber Livree, und sie liebte Amelia so ungestüm wie eh und je. Die Swartz hätte Amelia stets gern gehabt, wenn sie sie nur gesehen hätte, die Gerechtigkeit muß man ihr widerfahren lassen. Aber que voulez-vous? In dieser Riesenstadt hat man nicht die Zeit, seine Freunde zu suchen. Wenn sie aus Reih und Glied fallen, dann verschwinden sie, und wir marschieren ohne sie weiter. Wer wird denn schon vermißt auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit?
Kurz gesagt, sah sich Emmy noch vor Ende der Trauerzeit um Mr. Osborne im Mittelpunkt eines wirklich sehr vornehmen Kreises, dessen Mitglieder sich nicht vorstellen konnten, daß jemand, der dazugehörte, nicht sehr glücklich sein könnte. Es gab unter den Damen kaum eine, die nicht einen Peer in der Verwandtschaft gehabt hätte, wenn auch ihr Gemahl selbst nur Ladenbesitzer in der City war. Einige der Damen waren sehr gut unterrichtet und blaustrümpfig, sie lasen Mrs. Somerville und besuchten das Königliche Institut. Andere waren streng evangelisch und hielten sich an die Exeter Hall. Emmy kam sich in ihrem Geschwätz recht verloren vor, und bei ein paar Gelegenheiten, wo sie Mrs. Bullocks Gastfreundschaft annehmen mußte, litt sie entsetzlich. Diese Dame mußte sie unbedingt begönnern und hatte großzügigerweise beschlossen, sie umzuformen. Sie verschaffte Amelia Modistinnen und brachte ihren Haushalt und ihre Manieren in Ordnung. Sie fuhr sehr oft von Roehampton herüber und unterhielt ihre Freundin mit fadem Modeklatsch und lauem Hoftratsch. Joseph hörte ihr gern zu, aber der Major entfernte sich stets brummend, wenn diese Frau mit ihrer Pseudovornehmheit erschien. Bei einer der besten Gesellschaften von Frederick Bullock schlief er nach dem Essen direkt unter dem kahlen Schädel des Bankiers ein. Fred war immer noch darauf bedacht, daß das Osbornesche Vermögen von Stumpy und Rowdy in seine Firma überführt werden sollte, während Amelia, die weder Latein verstand noch wußte, wer den letzten Bombenartikel in der »Edinburgh Review« geschrieben hatte, die auch Mr. Peels neuerliches ungewöhnliches Schwanken bei dem verhängnisvollen Gesetz zur Unterstützung der Katholiken weder bedauerte noch lobte, stumm unter den Damen in dem großartigen Salon saß, der auf samtigen Rasen, wohlgepflegte Gartenwege und glänzende Gewächshäuser hinausging.
»Sie scheint gutmütig, aber fade zu sein«, sagte Mrs. Rowdy, »der Major scheint ungemein verliebt zu sein.«
»Es fehlt ihr bedauerlicherweise an Lebensart«, meinte Mrs. Hollycock. »Mein liebes Herz, es wird Ihnen niemals gelingen, sie umzuformen.«
»Sie ist entsetzlich unwissend oder gleichgültig«, erklärte Mrs. Glowry mit Grabesstimme und einem traurigen Schütteln ihres Kopfes und Turbans. »Ich fragte sie, ob sie glaubte, daß der Papst im Jahre 1836, wie Mr. Jowls, oder 1839, wie Mr. Wapshot meint, fallen werde, und sie antwortete:›Der arme Papst, ich will's nicht hoffen. Was hat er denn getan?‹«
»Sie ist die Witwe meines Bruders, meine teuren Freundinnen«, entgegnete Mrs. Frederick. »Und als solche, meine ich, sind wir verpflichtet, ihr bei ihrem Eintritt in die Welt alle nur mögliche Aufmerksamkeit und Belehrung angedeihen zu lassen. Sie können sich wohl vorstellen, daß bei jemandem, dessen Mißgeschick bekannt ist, keine eigennützigen Motive obwalten.«
»Die arme, liebe Mrs. Bullock«, sagte Mrs. Rowdy zu Mrs. Hollycock, als sie zusammen abfuhren. »Sie schmiedet stets Pläne und Ränke. Sie möchte gern, daß Mrs. Osborne ihr Bankkonto bei uns löscht und in ihrer Firma anlegt – und die Art und Weise, wie sie dem Jungen schmeichelt und es so einrichtet, daß er bei ihrer triefäugigen kleinen Rosa sitzt, ist wahrhaftig lächerlich.«
»Ich wollte, die Glowry erstickte an ihrem ›Mann der Sünde‹ und ihrer ›Schlacht von Armageddon‹«, rief die andere, und der Wagen rollte über die Putney Bridge davon.
Diese Gesellschaft war für Eramy zu gräulich vornehm, und alle machten Freudensprünge, als eine Reise ins Ausland vorgeschlagen wurde.