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Unsere Freunde in Brompton verbrachten inzwischen Weihnachten auf ihre Weise und keineswegs zu fröhlich.
Von den hundert Pfund, auf die sich das Einkommen der Witwe Osborne ungefähr belief, gab sie fast drei Viertel ihren Eltern, damit sie die Ausgaben für sich und ihren kleinen Knaben bestreiten konnten. Mit weiteren hundertzwanzig Pfund, die Joseph schickte, konnte die vierköpfige Familie leidlich bequem auskommen und den Kopf über Wasser halten. Sie wurden versorgt von einem irischen Dienstmädchen, das auch für Clapp arbeitete. Sie waren trotz aller Stürme und Enttäuschungen ihres früheren Lebens sogar noch immer in der Lage, einem Freund eine Tasse Tee anzubieten. Sedley bewahrte immer noch eine gewisse Überlegenheit in den Augen der Familie von Mr. Clapp, seinem früheren Angestellten. Clapp erinnerte sich noch der Zeit, da er an der reichbesetzten Tafel des Kaufmanns am Russell Square auf der Kante des Stuhls saß und ein Glas auf die Gesundheit von Mrs. Sedley, Miss Emmy und Mr. Joseph in Indien leerte. Die Zeit erhöhte noch den Glanz dieser Erinnerungen im Herzen des ehrlichen alten Angestellten. Jedesmal, wenn er aus seinem Zimmer neben der Küche in das Wohnzimmer heraufkam, um mit Mr. Sedley Tee oder Grog zu trinken, pflegte er zu sagen: »So etwas waren Sie früher nicht gewohnt, Sir«, und er trank auf die Gesundheit der Damen ebenso ernst und ehrfurchtsvoll wie in den Tagen ihres größten Glückes. Er hielt Miss Amelias Klavierspiel für die himmlischste Musik, die je zu hören war, und sie selbst für die feinste Dame. Er setzte sich sogar im Klub nie vor Sedley hin, und kein Mitglied der Gesellschaft durfte den Herrn schmähen. Er habe gesehen, wie die bedeutendsten Männer Londons Mr. Sedley die Hand geschüttelt hätten, sagte er. Er habe ihn in Zeiten gekannt, wo man Rothschild täglich auf der Börse mit ihm hätte erblicken können, und er selbst verdanke ihm alles.
Clapp, mit besten Zeugnissen und einer sehr guten Handschrift, hatte bald nach dem Unglück seines Herrn wieder Beschäftigung gefunden. »So ein kleiner Fisch wie ich kann in jedem Eimer schwimmen«, pflegte er zu sagen, und ein Mitglied der Firma, aus der der alte Sedley ausgeschieden war, nahm Mr. Clapp gern in seine Dienste und entschädigte ihn mit einem anständigen Gehalt. Schließlich waren alle seine reichen Freunde von Sedley abgefallen, und nur der arme ehemalige Untergebene blieb ihm treu.
Die Witwe mußte sehr sorgfältig und sparsam sein, um von dem kleinen Rest ihres Einkommens, den sie für sich behielt, ihren geliebten Jungen so zu kleiden, wie es George Osbornes Kind zukam, und die Kosten der billigen Schule zu bestreiten, in die den Knaben zu schicken sie sich nach langem Widerstreben und unter mancherlei geheimen Schmerzen und Befürchtungen hatte bewegen lassen. Nächtelang war sie Lektionen durchgegangen und hatte unverständliche Grammatiken und verworrene Geographiebücher studiert, um George darin unterrichten zu können. Sie hatte sich sogar die lateinische Formenlehre vorgenommen, in der einfältigen Hoffnung, selbst so weit zu kommen, daß sie ihn in dieser Sprache unterrichten könnte. Sich von ihm den ganzen Tag zu trennen und ihn der Gnade des Rohrstockes der Lehrer und den rauhen Händen seiner Schulkameraden auszuliefern war für die schwache, empfindsame ängstliche Mutter fast ebenso schmerzlich, als ob sie ihn zum zweiten Male entwöhnen müßte. Er dagegen war glücklich, in die Schule gehen zu dürfen; er sehnte sich nach Veränderung. Diese kindliche Freude verletzte seine Mutter, der es so schwerfiel, sich von ihm zu trennen. Sie hätte ihn lieber etwas betrübter gesehen, bereute aber doch wieder tief, daß sie es wagte, so selbstsüchtig zu sein und sich ihren eigenen Sohn unglücklich zu wünschen.
Georgy machte große Fortschritte in der Schule, die ein Freund des treuen Anbeters seiner Mutter, des Ehrwürden Mr. Binny, leitete. Er brachte unzählige Preise und Zeugnisse seines Talents mit nach Hause; jeden Abend erzählte er seiner Mutter viele Geschichten von seinen Schulkameraden: was für ein feiner Kerl Lyons war und was für eine Petze Sniffin und daß Steels Vater doch tatsächlich das Fleisch für die Schule lieferte, während Goldings Mutter ihren Sohn jeden Sonnabend mit einer Kutsche abholte, und daß Neat Riemen an den Hosen hatte – durfte er auch Riemen tragen? – und daß der größere Bull so stark war (obwohl er erst beim Eutropius sei), daß es hieß, er könne sogar den Hilfslehrer, Mr. Ward, besiegen. So kannte Amelia alle Jungen der Schule bald ebenso gut wie Georgy selbst. Abends half sie ihm bei den Übungen, und sie zerbrach sich ihr Köpfchen über den Aufgaben, als ob sie selbst am nächsten Morgen vor den Lehrer treten müßte. Einst, nach einer Prügelei mit Master Smith, kam Georgy mit einem blauen Auge nach Hause und prahlte gegenüber seiner Mutter und seinem entzückten alten Großvater mit seiner Tapferkeit im Kampf. In Wirklichkeit hatte er sich nicht besonders heldenmütig aufgeführt und ganz entschieden den kürzeren gezogen. Amelia aber hat diesem Smith bis heute noch nicht vergeben, obwohl er jetzt ein friedlicher Apotheker in der Nähe vom Leicester Square ist.
Unter diesen stillen Bemühungen und harmlosen Sorgen verging das Leben der sanften Witwe. Einige Silberfäden in ihrem Haar zeigten den Flug der Zeit an, und auf ihrer schönen Stirn grub sich eine winzige Linie ein. Sie pflegte über diese Zeichen der Zeit zu lächeln. »Was bedeutet das schon für eine alte Frau wie mich?« meinte sie. Ihre einzige Hoffnung war, zu erleben, daß ihr Sohn groß, berühmt und erhaben würde, wie er es verdiente. Sie hob seine Schreibhefte, Zeichnungen und Aufsätze auf und zeigte sie in ihrem kleinen Kreise herum, als ob sie Wunderwerke eines Genies wären. Sie vertraute einige dieser Arbeiten Miss Dobbin an, damit diese sie Georges Tante, Miss Osborne, zeigen würde, und die wiederum könnte sie dann Mr. Osborne selbst zeigen, damit der alte Mann seine Grausamkeit und Hartherzigkeit dem Verstorbenen gegenüber bereuen sollte. Sie hatte alle Fehler und Schwächen ihres Mannes mit diesem begraben und erinnerte sich nur des Geliebten, der sie unter großen Opfern geheiratet hatte, des tapferen und schönen Ehemannes, in dessen Armen sie an dem Morgen gehangen hatte, an dem er ausgezogen war, um für seinen König zu kämpfen und ruhmvoll zu sterben. Der Held mußte vom Himmel auf dieses Musterbild von einem Knaben herablächeln, den er ihr als Trost und Stütze zurückgelassen hatte.
Wir haben gesehen, wie einer von Georges Großvätern (Mr. Osborne) in seinem Lehnstuhl am Russell Square täglich heftiger und düsterer wurde und seine Tochter, trotz ihrer schönen Kutsche und der prächtigen Pferde und ihres Namens auf der Hälfte aller Wohltätigkeitslisten der Stadt, eine einsame, unglückliche, gequälte alte Jungfer war. Sie dachte immer wieder an den schönen kleinen Knaben, den Sohn ihres Bruders, den sie gesehen hatte. Sie sehnte sich danach, in ihrem schönen Wagen zu dem Haus, in dem er wohnte, fahren zu dürfen, und sah sich bei ihren einsamen Spazierfahrten im Park ständig um, in der Hoffnung, ihn sehen zu können. Ihre Schwester, die Bankiersfrau, ließ sich zuweilen herab, ihrem alten Heim und der Gefährtin am Russell Square einen Besuch abzustatten. Sie brachte zwei kränkliche Kinder mit, die von einer geputzten Amme begleitet wurden, und schnatterte mit leiser, vornehmer Stimme zu ihrer Schwester über ihre vornehmen Freunde und kicherte viel. Sie erzählte, daß ihr kleiner Frederick das Ebenbild von Lord Claude Lollypop sei und daß ihre süße Maria von der Baronesse bemerkt worden sei, als sie in Roehampton im Eselwagen gefahren seien. Sie drängte die Schwester, sie solle den Papa dahin bringen, daß er etwas für die lieben Herzchen tue. Frederick, so hatte sie beschlossen, sollte in die Garde eintreten, und wenn sie ihm ein Gut beschafften (Mr. Bullock ruinierte sich schon und würde noch Hungers sterben, um Land kaufen zu können), wie sollten sie dann das liebe Mädchen versorgen?
»Ich erwarte dies von dir, liebe Schwester«, pflegte Mrs. Bullock zu sagen, »denn natürlich geht mein Anteil am Vermögen unseres Papas auf das Haupt des Hauses über, wie du weißt. Die liebe Rhoda McMull will die ganzen Besitzungen von Castletoddy frei machen, sobald der arme liebe Lord Castletoddy stirbt, der schon ganz epileptisch ist, und der kleine Macduff McMull wird dann Viscount Castletoddy. Die beiden Mr. Bludyer aus der Mincing Lane haben ihr Vermögen dem kleinen Sohn von Fanny Bludyer verschrieben. Mein lieber Frederick muß unbedingt ein Gut haben, und – und sei so gut und bitte Papa, daß er wieder sein Konto bei uns in der Lombard Street eröffnet, nicht wahr, Liebste. Es sieht nicht gut aus, wenn er zu Stumpy und Rowdy geht.« Nach derartigen Reden, einem Gemisch aus Klatsch über die vornehme Welt und Geldgier, und nach einem Kuß, der der Berührung einer Auster glich, pflegte dann Mrs. Frederick Bullock ihre gestärkten Treibhauspflänzchen einzusammeln und zu ihrem Wagen zurückzutrippeln.
Jeder Besuch, den diese Modedame ihrer Familie abstattete, war unheilvoller für sie. Ihr Vater zahlte mehr und mehr Geld bei Stumpy und Rowdy ein; ihr gönnerhaftes Wesen wurde von Mal zu Mal unerträglicher. Die arme Witwe, die in dem Häuschen in Brompton ihren Schatz bewachte, hatte keine Ahnung, wie eifrig gewisse Leute danach begehrten.
An dem Abend, als Jane Osborne ihrem Vater erzählt hatte, sie habe seinen Enkel gesehen, hatte der alte Mann ihr nichts geantwortet, aber er war auch nicht zornig geworden. Als er sich in sein Zimmer zurückzog, hatte er ihr nicht unfreundlich eine gute Nacht gewünscht. Er mußte über ihre Worte nachgedacht und bei der Familie Dobbin einige Erkundigungen über ihren Besuch eingezogen haben, denn etwa vierzehn Tage danach fragte er sie, wo ihre kleine französische Uhr mit der Kette sei, die sie immer getragen habe.
»Ich hatte sie von meinem Geld gekauft«, sagte sie sehr erschrocken.
»Geh und bestelle dir so eine oder eine bessere, wenn du sie bekommen kannst«, sagte der alte Herr und fiel wieder in sein Schweigen zurück.
In der letzten Zeit hatten die Misses Dobbin Amelia häufig gebeten, dem kleinen George zu erlauben, daß er sie besuchen dürfe. Seine Tante habe Gefallen an ihm gefunden, vielleicht werde sich auch sein Großvater bewegen lassen, sich mit ihm auszusöhnen, meinten sie. Amelia konnte so vorteilhafte Aussichten für den Knaben wahrhaftig nicht zurückweisen, nein, das konnte sie nicht; aber sie erfüllte die Bitte nur sehr schweren und mißtrauischen Herzens. Während der Abwesenheit des Kindes war sie unruhig und empfing es bei seiner Rückkehr stets, als ob es irgendeiner Gefahr entronnen wäre. Der Knabe brachte Geld und Spielsachen mit, die die Witwe eifersüchtig und furchtsam betrachtete. Sie fragte ihn ständig, ob er einen Herrn gesehen habe. Nur den alten Sir William, antwortete er, der ihn im Vierspänner herumgefahren habe, und Mr. Dobbin, der am Nachmittag auf dem schönen Braunen angeritten gekommen sei, im grünen Rock mit rosa Halstuch und einer goldknaufigen Peitsche, und der versprochen habe, ihm den Londoner Tower zu zeigen und ihn mit den Surreyhunden mit auf die Jagd zu nehmen. Schließlich erzählte er einmal: »Es war ein alter Herr mit dicken Augenbrauen und einem breitkrempigen Hut und einer großen Kette mit vielen Petschaften da. Er kam, als der Kutscher das graue Pony mit mir auf dem Rasen herumführte. Er hat mich lange angesehen und sehr gezittert. Ich habe dann nach dem Essen ›Mein Nam' ist Norval‹ aufgesagt. Meine Tante hat angefangen zu weinen. Sie weint immer.« So lautete an jenem Abend Georges Bericht.
Amelia wußte nun, daß der Knabe seinen Großvater gesehen hatte, und erwartete fieberhaft einen Vorschlag, der ganz sicher folgen mußte und der auch wirklich ein paar Tage später kam. Mr. Osborne erbot sich in aller Form, den Knaben bei sich aufzunehmen und ihn zum Erben des Vermögens zu machen, das sein Vater hätte erhalten sollen. Er würde Mrs. George Osborne eine Summe aussetzen, so daß sie ein anständiges Auskommen hätte. Wenn Mrs. George Osborne die Absicht habe, wieder zu heiraten, wie Mr. O. gehört habe, so werde er die Unterstützung nicht rückgängig machen. Es verstehe sich aber von selbst, daß das Kind ausschließlich bei seinem Großvater am Russell Square oder an einem Ort, den Mr. O. bestimmen würde, leben müsse. Gelegentlich solle es ihm gestattet werden, Mrs. George Osborne in ihrer Wohnung zu besuchen. Dieser Antrag wurde ihr eines Tages in einem Brief gebracht und vorgelesen, als ihre Mutter nicht zu Hause und ihr Vater, wie gewöhnlich, in der City war.
In ihrem ganzen Leben hatte man sie nur zwei- oder dreimal zornig gesehen, und Mr. Osbornes Anwalt hatte das Glück, sie in dieser Stimmung zu erleben. Als Mr. Poe ihr den Brief nach dem Vorlesen überreichte, stand sie zitternd auf, wurde purpurrot, zerriß das Papier in hundert Schnipsel und trat sie mit Füßen. »Ich wieder heiraten! Ich Geld nehmen, damit ich mich von meinem Kind trenne! Wer wagt es, mich durch einen solchen Vorschlag zu beleidigen! Sagen Sie Mr. Osborne, daß es ein gemeiner Brief ist – ein gemeiner Brief, und ich habe nicht die Absicht, darauf zu antworten. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Sir.« – »Und sie entließ mich mit einer Verbeugung, die der Königin in einer Tragödie würdig gewesen wäre«, sagte der Anwalt, als er die Geschichte berichtete.
Ihre Eltern bemerkten ihre Aufregung an jenem Tage nicht, und sie erzählte auch nichts von der Unterredung. Sie hatten ihre eigenen Angelegenheiten im Kopf, Angelegenheiten, die auch die unschuldige, nichtsahnende Amelia betrafen. Der alte Herr, ihr Vater, war stets in Spekulationen verwickelt. Wir haben gesehen, wie ihm die Projekte der Weingesellschaft und der Kohlengesellschaft fehlschlugen. Er streifte aber immer noch ratlos in der City herum, und dabei kam ihm eines Tages ein neuer Plan in den Sinn, von dem er sich so viel versprach, daß er sich trotz der Vorstellungen von Mr. Clapp darauf einließ. Er wagte dem ehemaligen Angestellten nie zu sagen, wie tief er sich hatte hineintreiben lassen, und da es stets Mr. Sedleys Grundsatz gewesen war, vor den Frauen nicht von Geldsachen zu reden, so hatten sie keine Ahnung von dem Unheil, das auf sie zukam. Aber schließlich mußte der unglückliche alte Herr doch allmählich das Geständnis machen.
Zuerst geriet man mit den Rechnungen des kleinen Haushalts, die sonst wöchentlich bezahlt worden waren, in Rückstand. Die Wechsel aus Indien seien nicht angekommen, erzählte Mr. Sedley seiner Frau mit verstörtem Gesicht. Da sie bisher ihre Rechnungen sehr regelmäßig bezahlt hatte, so wurden ein paar von den Geschäftsleuten, die die arme Dame um Aufschub bitten mußte, sehr ungehalten, während sie Verzögerungen bei unregelmäßigeren Kunden gewöhnt waren. Emmy lieferte ihren Beitrag heiter, ohne weitere Bemerkung ab, und damit konnte sich die kleine Familie unter großen Einschränkungen über Wasser halten. Die ersten sechs Monate vergingen noch einigermaßen erträglich, und der alte Sedley hoffte noch immer, daß seine Aktien steigen würden und alles gut gehen müsse.
Am Ende des halben Jahres trafen jedoch keine sechzig Pfund ein, um dem Haushalt aufzuhelfen, und er geriet in immer größere Verlegenheit. Mrs. Sedley, deren Gesundheitszustand immer schlechter wurde, schwieg oder weinte sich bei Mrs. Clapp in der Küche aus. Der Fleischer war ungemein mürrisch, der Kolonialwarenhändler grob; ein paarmal schon hatte sich der kleine Georgy über das Essen beklagt; Amelia wäre beim Essen mit einem Stück Brot ausgekommen, sie konnte aber nicht mit ansehen, daß ihr Sohn vernachlässigt wurde, und kaufte ihm Kleinigkeiten aus ihrer eigenen Tasche, damit der Junge gesund bliebe.
Endlich erzählten sie es ihr oder erzählten ihr vielmehr eine so verstümmelte Geschichte, wie sie Leute in Geldverlegenheit eben zu erzählen pflegen. Eines Tages, als Amelia ihr Geld empfangen hatte und es abliefern wollte, schlug sie vor, einen gewissen Teil ihres Einkommens zurückzubehalten, da sie für Georgy einen neuen Anzug bestellt hatte.
Da kam es heraus, daß Joseph keine Unterstützung gezahlt hatte und die Familie sich in Schwierigkeiten befand, die Amelia längst schon hätte sehen müssen, wie die Mutter meinte, aber sie kümmerte sich ja um nichts und niemanden außer Georgy. Darauf schob Amelia wortlos der Mutter ihr ganzes Geld über den Tisch zu und ging auf ihr Zimmer, um sich die Augen auszuweinen. An dem Tage hatte sie noch einen Gefühlsausbruch, als sie die Kleider abbestellen mußte, die schönen Kleider, die sie sich für Weihnachten in den Kopf gesetzt hatte. In vielen Unterredungen mit einer kleinen Putzmacherin, ihrer Freundin, hatte sie schon lange Schnitt und Machart abgesprochen.
Das Schlimmste aber war, daß sie die Sache Georgy beibringen mußte, der ein lautes Geschrei erhob. Alle bekämen zu Weihnachten neue Kleider. Die anderen würden ihn auslachen. Er wollte unbedingt neue Kleider haben, sie habe sie ihm versprochen. Die arme Witwe konnte ihm nur Küsse geben. Unter Tränen flickte sie den alten Anzug. Sie durchkramte ihre wenigen Schmucksachen, um zu sehen, ob sie etwas davon verkaufen und damit die gewünschten neuen Sachen anschaffen könnte. Dabei fiel ihr der Kaschmirschal in die Hände, den Dobbin ihr geschickt hatte. Sie erinnerte sich, daß sie früher mit ihrer Mutter einen schönen indischen Laden in Ludgate Hill aufgesucht hatte, wo die Damen dergleichen Artikel zu kaufen pflegten. Ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen glänzten vor Freude, als sie an diese Geldquelle dachte, und sie küßte an jenem Morgen ihren George, ehe er in die Schule ging, und lächelte ihm freundlich nach. Der Knabe fühlte, daß in ihren Blicken gute Nachrichten lagen.
Sie packte also ihren Schal in ein seidenes Tuch (auch ein Geschenk des guten Majors), verbarg ihn unter ihrem Mantel und eilte freudegerötet und munter den ganzen Weg zu Fuß nach Ludgate Hill. Sie trippelte an der Parkmauer entlang und lief über die Kreuzungen, so daß sich mancher Mann, an dem sie vorbeieilte, umdrehte und ihrem rosigen hübschen Gesicht nachsah. Sie rechnete sich aus, wie sie den Erlös des Schals verwenden würde. Sie wollte außer den Kleidern auch die Bücher kaufen, die er sich so sehr wünschte, und das Schulgeld für ein halbes Jahr bezahlen und ihrem Vater einen Mantel kaufen an Stelle des alten Überrockes, den er trug. Sie hatte sich über den Wert des Geschenkes, das sie vom Major erhalten, nicht getäuscht. Es war ein sehr feines schönes Gewebe, und der Kaufmann machte ein gutes Geschäft, als er ihr zwanzig Guineen für ihren Schal gab.
Verwirrt und erstaunt über ihren Reichtum, eilte sie sogleich zum nächsten Buchhändler und kaufte dort den »Helfer der Eltern« und »Sandford und Merton«, die sich George so gewünscht hatte. Mit ihrem Päckchen stieg sie dann in einen Wagen und fuhr frohlockend nach Hause. Glücklich schrieb sie in die Bücher mit ihrer schönsten Schrift: »Für George Osborne; zu Weihnachten von seiner lieben Mutter.« Die Bücher mit der schönen zarten Inschrift sind noch jetzt vorhanden.
Sie ging gerade mit den Büchern in der Hand aus ihrem Zimmer, um sie auf Georges Tisch zu legen, wo er sie bei der Rückkehr von der Schule finden sollte, als sie im Flur ihre Mutter traf. Die vergoldeten Einbände der sieben hübschen kleinen Bände fielen der alten Dame auf.
»Was hast du denn da?« fragte sie.
»Ein paar Bücher für Georgy«, antwortete Amelia errötend. »Ich – ich habe sie ihm zu Weihnachten versprochen.«
»Bücher!« rief die alte Dame zornig. »Bücher, wenn im ganzen Haus kein Brot ist – Bücher, wo ich alle meine Schmucksachen verkaufe und mir den indischen Schal von den Schultern gerissen habe und sogar die Silberlöffel weggeben mußte – um dir und deinem Sohn ein Wohlleben zu sichern und deinen guten Vater vor dem Gefängnis zu bewahren, damit uns die Kaufleute nicht unverschämt behandelten und Mr. Clapp seine Miete erhalten sollte. Darauf hat er nämlich ein Recht, denn er ist kein harter Wirt, sondern ein höflicher Mann und selbst Familienvater. Oh, Amelia, du brichst mir das Herz mit deinen Büchern und deinem Jungen, den du ins Unglück stürzt, denn du willst dich ja nicht von ihm trennen. Ach, Amelia, möge dir Gott ein gehorsameres Kind schenken, als ich es gehabt habe. Joseph verläßt seinen Vater auf seine alten Tage, und George könnte versorgt sein und reich werden und wie ein Lord mit einer goldenen Uhr an der Kette um den Hals in die Schule gehen, während mein lieber, lieber alter Mann keinen Shi-i-illing hat.« Hysterisches Schluchzen und Weinen beendete Mrs. Sedleys Rede. Es drang durch alle Räume des kleinen Hauses, so daß alle übrigen weiblichen Bewohner jedes Wort der Unterhaltung verstehen konnten.
»O Mutter, Mutter!« rief die arme Amelia. »Du hast mir nichts gesagt; ich – ich habe ihm die Bücher versprochen; ich – ich habe auch meinen Schal heute früh verkauft. Nimm das Geld – nimm alles!« Und mit zitternden Händen holte sie ihr Silbergeld und ihr Sovereigns heraus, ihre kostbaren, goldenen Sovereigns, und drückte sie ihrer Mutter in die Hände. Diese konnte gar nicht alles fassen, und die Geldstücke fielen auf den Boden und rollten die Treppe hinunter.
Dann begab sie sich auf ihr Zimmer und sank verzweifelt und unglücklich nieder. Jetzt sah sie alles deutlich. Mit ihrer Selbstsucht opferte sie den Knaben. Wäre sie nicht, so könnte er Reichtum, Rang, Erziehung und den Platz seines Vaters haben, die der ältere George um ihretwillen aufgegeben hatte. Sie brauchte nur ein Wort zu sagen, und ihr Vater hätte wieder sein Auskommen, und ihr Sohn würde sein Glück machen. Oh, wie zerknirscht dies zarte, gebeugte Herz war!