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38. Kapitel

Eine Familie in bescheidenen Verhältnissen

Wir dürfen nun annehmen, daß der kleine George Osborne von Knightsbridge nach Fulham geritten ist, und wollen in diesem Dorf anhalten und uns nach ein paar Freunden, die wir hier zurückgelassen haben, erkundigen. Wie geht es Mrs. Amelia nach dem Sturm von Waterloo? Lebt sie und geht es ihr einigermaßen gut? Was ist aus Major Dobbin geworden, dessen Wagen sich stets in der Nähe ihrer Wohnung herumtrieb? Und gibt es Nachrichten über den Steuereinnehmer von Boggley Wollah? Das, was wir von diesem wissen, ist kurz folgendes:

Unser würdiger dicker Freund Joseph Sedley kehrte nicht lange nach seiner Flucht von Brüssel nach Indien zurück. Entweder war sein Urlaub abgelaufen, oder er befürchtete, Zeugen seiner Waterlooflucht zu treffen. Wie dem auch sei, er kehrte bald nach Bengalen zu seinen Berufspflichten zurück, nachdem Napoleon seine Residenz auf Sankt Helena aufgeschlagen hatte, wo Joseph den Exkaiser sah. Nach dem, was Mr. Sedley auf dem Schiff verlauten ließ, hätte man glauben können, daß es nicht das erstemal war, daß er und der Korse einander getroffen hatten, und daß der Zivilist dem französischen Kaiser schon am Mont Saint-Jean Trotz geboten habe. Er wußte tausend Anekdoten über die berühmten Schlachten, er kannte die Aufstellung eines jeden Regiments und die Verluste, die sie erlitten hatten. Er leugnete nicht, an den Siegen beteiligt gewesen zu sein, daß er bei der Armee gewesen sei und Depeschen für den Herzog von Wellington überbracht habe. Was der Herzog in jedem erdenklichen Augenblick am Tag von Waterloo getan und gesagt hatte, beschrieb er mit so genauer Kenntnis von den Gefühlen und Handlungen Seiner Hoheit, daß es für alle offensichtlich war: den ganzen Tag über hatte er sich an der Seite des Siegers befunden. Dabei war sein Name als der eines Nichtkämpfers in den öffentlichen Dokumenten über die Schlacht nicht erwähnt worden. Vielleicht glaubte er am Ende selbst, daß er etwas mit der Armee zu tun gehabt hatte; gewiß ist wenigstens, daß er in Kalkutta eine Zeitlang ungeheueres Aufsehen erregte und während seines ganzen Aufenthalts in Bengalen Waterloo-Sedley genannt wurde.

Die Wechsel, die Joseph für jene unglückseligen Pferde ausgestellt hatte, wurden von ihm und seinen Beauftragten ohne Widerrede bezahlt. Niemals hörte man ihn auf den Handel anspielen, und niemand kann mit Gewißheit sagen, was aus den Pferden geworden ist und wie er sie und Isidor, seinen belgischen Diener, los wurde. Man weiß nur, daß dieser einen Grauschimmel, der dem sehr ähnelte, auf dem Joseph geritten war, im Herbst 1815 in Valenciennes verkaufte.

Josephs Beauftragte in London mußten seinen Eltern in Fulham jährlich hundertundzwanzig Pfund auszahlen. Das waren die Hauptmittel des alten Paares, denn Mr. Sedleys Spekulationen nach seinem Bankrott verhalfen dem alten Herrn auf keinen Fall wieder zu Vermögen. Er versuchte sich im Weinhandel, im Kohlenhandel, als Lotterieeinnehmer auf Kommission und so weiter und so fort. Jedesmal, wenn er ein neues Geschäft anfing, schickte er Prospekte an seine Freunde, bestellte eine neue Messingplatte für seine Tür und versicherte großsprecherisch, daß er doch noch sein Glück machen werde. Aber Fortuna kam nie zu dem schwachen, gebeugten Greis zurück. Seine Freunde waren müde, teure Kohlen und schlechten Wein von ihm zu kaufen, und fielen einer nach dem anderen von ihm ab. Und wenn er morgens mit schwankenden Schritten in die City ging, war seine Frau die einzige auf der Welt, die glaubte, er mache dort Geschäfte. Abends schleppte er sich langsam nach Hause und ging dann in einen kleinen Klub in einem Wirtshaus, wo er die Finanzen des Staates lenkte. Es war wunderbar, ihn über Millionen und Börsengeschäfte und Diskonti und über das, was Rothschild und die Gebrüder Baring unternahmen, reden zu hören. Er sprach von so ungeheuren Summen, daß die Herren im Klub (der Apotheker, der Begräbnisunternehmer, der große Zimmermann und Baumeister, der Gemeindeschreiber, der die Erlaubnis hatte, den Klub zu besuchen, und unser alter Bekannter, Mr. Clapp) Respekt vor dem Alten hatten. »Ich habe einst bessere Verhältnisse gesehen«, erklärte er unweigerlich allen Stammgästen. »Mein Sohn ist jetzt erster Beamter von Ramgunge in der Präsidentschaft Bengalen und bekommt monatlich seine viertausend Rupien. Meine Tochter könnte einen Oberst heiraten, wenn sie nur wollte. Ich könnte morgen auf meinen Sohn, den ersten Beamten, einen Wechsel von zweitausend Pfund ausstellen, und Alexander würde ihn mir auf der Stelle einlösen, auf der Stelle. Aber die Sedleys sind schon immer eine stolze Familie gewesen.« Du und ich, lieber Leser, auch wir können eines Tages in diesen Zustand hinabsinken, denn ist es nicht vielen unserer Freunde so gegangen? Unser Glück kann sich abwenden, unsere Kräfte uns verlassen, unsere Partie auf der Bühne von besseren und jüngeren Schauspielern übernommen werden – das Leben kann uns überrollen und uns zerschmettert und gestrandet zurücklassen. Die Menschen werden dann bei deinem Anblick auf die andere Straßenseite gehen oder, noch schlimmer, dir ein paar Finger hinhalten und dich mitleidig begönnern. Aber du weißt, daß deine Freunde, sobald du den Rücken gewendet hast, sagen: »Der arme Teufel; was für Torheiten er doch begangen hat – welche Vorteile der Mensch sich doch hat entgehen lassen!« – Nun, eine Kutsche und dreitausend pro Jahr sind nicht der höchste Lohn noch das letzte Zeichen von Gottes Urteil über den Menschen. Solange Scharlatane ebensooft Glück haben, wie sie scheitern, solange Spaßmacher Erfolg haben und Schurken zu Vermögen kommen, und umgekehrt, und solange sie ihren Anteil an Glück und Unglück nicht mehr und nicht weniger zugemessen bekommen wie die Besten und Fähigsten unter uns – solange, Bruder, können wir kein großes Gewicht auf die Gaben und Freuden des Jahrmarkts der Eitelkeit legen, und wahrscheinlich... doch wir schweifen von unserer Geschichte ab.

Wenn Mrs. Sedley eine tatkräftige Frau gewesen wäre, so hätte sie das nach dem Ruin ihres Mannes bewiesen. Sie hätte ein großes Haus gemietet und Kostgänger aufgenommen. Der gebrochene Sedley hätte sich ganz gut als Mann der Pensionsmutter ausgenommen und den Munoz des Privatlebens, dem Titel nach den Herrn und Meister, den Vorschneider, Verwalter und bescheidenen Ehemann der Herrscherin gespielt. Ich kenne kluge Männer mit guter Erziehung, die einstmals gute Aussichten und viele Kräfte besaßen und in ihrer Jugend Lords bewirteten und Jagdpferde hielten und die jetzt zänkischen alten Weibern bescheiden Hammelkeulen vorschneiden und vorgeben, den Vorsitz an ihrem traurigen Tisch zu führen. Aber Mrs. Sedley hatte, wie gesagt, nicht die Energie, sich um »auserlesene Hausgenossen für eine heitere musikalische Familie« zu bemühen, wie man es in der »Times« lesen kann. Sie blieb auf dem Strand, wohin sie das Unglück geworfen hatte, liegen, und es war deutlich, daß die Laufbahn des alten Paares beendet war.

Ich glaube nicht, daß sie unglücklich waren. Vielleicht waren sie nach ihrem Sturz etwas stolzer als früher im Glück. Für ihre Hauswirtin, Mrs. Clapp, war Mrs. Sedley immer noch eine große Persönlichkeit, wenn sie zu ihr in die Küche herabkam und dort stundenlang mit ihr plauderte. Die Hüte und Bänder des irischen Dienstmädchens Betty Flanagan, ihr Widerspruchsgeist, ihre Trägheit, ihre ungeheure Verschwendung an Küchenkerzen, ihr Verbrauch an Tee und Zucker und so weiter beschäftigten und unterhielten die alte Dame fast ebensosehr wie das Treiben in ihrer früheren Haushaltung, wo sie Sambo und den Kutscher, einen Reitknecht, einen Lakaien und eine Haushälterin mit einem Regiment weiblicher Dienstboten hielt – in ihrem früheren Haushalt, über den die gute Dame täglich hundertmal sprach. Und außer auf Betty Flanagan hatte Mrs. Sedley auch noch auf alle anderen Hausmädchen der Straße aufzupassen. Sie wußte, ob jeder Mieter seine kleine Miete bezahlte oder schuldig blieb. Sie trat zur Seite, wenn Mrs. Rougemont, die Schauspielerin, mit ihrer zweifelhaften Familie an ihr vorüberkam. Sie warf den Kopf in den Nacken, wenn Mrs. Pestler, die Apothekersfrau, in ihres Mannes Einspänner vorbeifuhr. Sie führte lange Gespräche mit dem Gemüsehändler über die Rüben, die Mr. Sedley gern aß. Sie hatte ein Auge auf den Milchmann und den Bäckerjungen und machte Besuche beim Fleischer, und es wurde dort wahrscheinlich um hundert Ochsen weniger Lärm veranstaltet als um Mrs. Sedley einzelne Hammelkeule. Am Sonntag zählte sie dann die Kartoffeln zum Fleisch nach; an diesem Tag ging sie übrigens in ihrem besten Kleid zweimal in die Kirche und las abends in »Blairs Predigten«.

An diesem Tag gönnte sich der alte Sedley die Freude – denn an Wochentagen hinderten ihn »die Geschäfte« daran  –, seinen kleinen Enkel Georgy in die benachbarten Parks oder in die Kensington Gardens zu führen, um die Soldaten zu sehen oder die Enten zu füttern. Georgy liebte die Rotröcke, und sein Großvater erzählte ihm, daß auch sein Vater ein berühmter Soldat gewesen sei, und machte ihn mit vielen Sergeanten und anderen Soldaten, die Waterloomedaillen auf der Brust trugen, bekannt. Der alte Großvater stellte ihnen das Kind stolz als Sohn des Hauptmanns Osborne vom ...ten Regiment vor, der am ruhmvollen Achtzehnten ruhmvoll gefallen sei. Es hieß sogar, daß er mitunter einige dieser Unteroffiziere zu einem Glas Porter einlud. Bei ihren ersten Sonntagsspaziergängen wollte er den kleinen George verwöhnen und stopfte den Jungen mit Äpfeln und Kuchen voll, sehr zum Nachteil seiner Gesundheit, bis Amelia erklärte, George dürfe nie wieder mit seinem Großpapa ausgehen, wenn dieser nicht feierlich gelobe, dem Kinde künftig keine Kuchen, Bonbons oder anderes Zeug von den Marktbuden zu geben.

Zwischen Mrs. Sedley und ihrer Tochter bestand eine gewisse Kälte und geheime Eifersucht wegen des Knaben, denn eines Abends – George war noch ganz klein – saß Amelia in ihrem Wohnzimmer an der Arbeit und bemerkte kaum, daß die alte Dame das Zimmer verlassen hatte. Plötzlich hörte sie den Knaben, der bis dahin geschlafen hatte, schreien, und sie rannte ahnungsvoll ins Kinderzimmer hinauf. Da ertappte sie Mrs. Sedley gerade dabei, wie sie dem Kind heimlich Daffys Elixier eingab. Amelia, sonst die sanfteste und mildeste aller Sterblichen, zitterte und bebte vor Zorn am ganzen Leibe, als sie diese Einmischung in ihre mütterliche Autorität wahrnahm. Ihre gewöhnlich blassen Wangen verfärbten sich, bis sie so rot waren wie damals, als sie zwölf Jahre alt war. Sie riß das Kind aus den Armen ihrer Mutter, griff nach der Flasche und ließ die alte Dame wütend und mit offenem Mund, den verbrecherischen Teelöffel in der Hand, stehen. Dann warf sie die Flasche in den Kamin, daß sie krachend zersprang. »Ich will mein Kind nicht vergiften lassen, Mama«, rief Emmy, wiegte den Säugling heftig in ihren Armen und blickte ihre Mutter mit funkelnden Augen an.

»Vergiften, Amelia!« sagte die alte Dame. »Diese Worte mir?«

»Er soll keine andere Medizin erhalten, als die, welche Doktor Pestler ihm schickt. Er erklärte mir, Daffys Elixier sei Gift.«

»Sehr gut, dann glaubst du also, ich sei eine Mörderin«, erwiderte Mrs. Sedley. »So redest du mit deiner Mutter? Ich habe Unglück gehabt, ich bin im Leben tief gesunken, ich hatte meinen eigenen Wagen und gehe jetzt zu Fuß, aber daß ich eine Mörderin bin, wußte ich noch nicht. Ich danke dir für die Mitteilung.«

»Mama«, sagte die arme Frau, die stets bereit war, in Tränen auszubrechen, »du sollst nicht hart gegen mich sein. Ich – habe nicht gemeint... ich meine, ich wollte nicht sagen, daß du meinem lieben Kind Böses antun wolltest, nur...«

»O nein, meine Liebe – nur daß ich eine Mörderin bin. Deshalb sollte ich wohl am besten ins Gefängnis gehen, obwohl ich dich, als du ein Kind warst, zwar nicht vergiftet, sondern dir die beste Erziehung und die kostspieligsten Lehrer gegeben habe, die man für Geld bekommen kann. Ja, ich habe fünf Kinder gesäugt und drei begraben, und das eine, das ich von allen am meisten geliebt habe und das ich bei der Bräune, beim Zahnen, bei den Masern und beim Keuchhusten gepflegt und ungeachtet der Kosten von ausländischen Lehrern und im Minerva-Haus habe erziehen lassen, sagt, ich sei eine Mörderin. Als ich Mädchen war, habe ich das alles nicht gehabt. Ich war froh, meinen Vater und meine Mutter zu ehren, damit ich lange auf Erden leben und mich nützlich machen könnte – und nicht den ganzen Tag in meinem Zimmer sitzen und die feine Dame spielen würde. Eine Mörderin! Ach, Mrs. Osborne, ich wünsche nur, daß du nie eine Schlange an deinem Busen nähren mögest.«

»Mama! Mama!« rief die entsetzte junge Frau, während das Kind auf ihrem Arm in ein fürchterliches Geschrei ausbrach. »Eine Mörderin, sehr gut! Fall auf die Knie nieder und bitte Gott, daß er dein böses, undankbares Herz reinigt, Amelia; er möge dir vergeben, wie ich es tue!«Hiermit eilte Mrs. Sedley aus dem Zimmer, während sie noch einmal das Wort Gift zischte, und beschloß so ihren liebevollen Segen.

Bis zum Ende ihres Lebens wurde dieser Bruch zwischen Mrs. Sedley und ihrer Tochter niemals völlig ausgeglichen. Der Streit bot der alten Dame unzählige Vorteile, die sie mit weiblicher Findigkeit und Ausdauer unfehlbar zu benutzen wußte. Wochenlang sprach sie zum Beispiel kein Wort mit Amelia. Sie warnte die Dienstboten, das Kind anzurühren, da es Mrs. Osborne übelnehmen könne. Sie forderte ihre Tochter auf, selbst nachzusehen und sich zu überzeugen, daß in der täglichen Nahrung, die für den kleinen Georgy zubereitet wurde, kein Gift sei. Wenn die Nachbarn sich nach der Gesundheit des Knaben erkundigten, verwies sie sie spitz an Mrs. Osborne. Sie selbst wagte nie, zu fragen, wie es dem Kind gehe. Sie würde das Kind auch nie anrühren, obgleich es ihr Enkel und ihr Herzensliebling war, denn sie sei ja nicht an Kinder gewöhnt und könnte ihn töten. Und jedesmal, wenn Mr. Pestler einen Hausbesuch machte, empfing sie den Arzt mit so sarkastischer und verächtlicher Miene, daß der Doktor erklärte, daß nicht einmal Lady Thistlewood, die zu behandeln er die Ehre habe, sich großspuriger benehme als die alte Mrs. Sedley, von der er nie eine Bezahlung verlangte. Höchstwahrscheinlich war Emmy auch eifersüchtig – und welche Mutter wäre nicht eifersüchtig auf die, die ihre Kinder pflegen oder die auf den ersten Platz in ihrem Herzen Anspruch erheben wollen. Jedenfalls wurde sie stets unruhig, wenn sich jemand mit dem Kinde beschäftigte, und sie erlaubte weder Mrs. Clapp noch dem Dienstmädchen, es anzukleiden oder zu füttern, wie sie ihnen auch nicht gestattet hätte, das Miniaturbild ihres Gatten abzuwischen, das über ihrem Bettchen hing – demselben Bettchen, das das arme Mädchen mit Georges vertauscht hatte und zu dem sie jetzt für viele lange, stille, tränenreiche, aber glückliche Jahre zurückkehrte.

Dieses Zimmer barg Amelias ganzes Herz und alle ihre Schätze. Hier hütete sie ihren Knaben und wachte über ihm während der zahlreichen Kinderkrankheiten mit stets gleichbleibender leidenschaftlicher Liebe. Irgendwie erschien in ihm der ältere George wieder, nur besser und wie vom Himmel zurückgekehrt. In hundert Kleinigkeiten – Tonfall, Blicken und Bewegungen – war der Junge dem Vater so ähnlich, daß das Herz der Witwe erschauerte, wenn sie ihn an sich drückte, und oft fragte er dann nach dem Grund ihrer Tränen. Sie hatte keine Bedenken, ihm zu sagen, das komme, weil er seinem Vater so sehr ähnele; sie erzählte ihm ständig von diesem toten Vater und sprach zu dem unschuldigen und verwunderten Kind über ihre Liebe zu George häufiger, als sie je zu George selbst oder irgendeiner Vertrauten ihrer Jugend gesprochen hatte. Gegenüber ihren Eltern erwähnte sie nichts davon, da sie sich scheute, ihnen ihr Herz zu entdecken. Klein George verstand sie wahrscheinlich nicht besser, aber seinen Ohren vertraute sie rückhaltlos ihre geheimsten Gefühle an, nur seinen. Selbst die Freude dieser Frau war eine Art Schmerz oder wenigstens so zart, daß sie sich in Tränen ausdrückte. Ihre Gefühle waren so schwach und weich, daß man vielleicht in einem Buch gar nicht darüber sprechen sollte. Doktor Pestler (der jetzt ein bekannter Frauenarzt ist, einen teuren dunkelgrünen Wagen fährt, wahrscheinlich bald geadelt wird und ein Haus am Manchester Square bewohnt) erzählte mir, daß ihr Schmerz bei der Entwöhnung des Kindes ein Anblick gewesen sei, der einen Herodes hätte rühren können. Er war vor Jahren sehr weichherzig gewesen, und seine Frau hegte damals und noch lange nachher eine tödliche Eifersucht auf Mrs. Amelia.

Vielleicht war die Eifersucht der Doktorsfrau nicht ganz unbegründet; die meisten Frauen aus Amelias kleinem Bekanntenkreis teilten sie und waren erzürnt über die Begeisterung, mit der das andere Geschlecht sie betrachtete. Fast alle Männer, die ihr nahe kamen, liebten sie, obwohl sie kaum hätten begründen können, warum; sie war weder eine strahlende Erscheinung noch ausgesprochen geistreich oder klug und auch nicht besonders hübsch. Aber wo sie auch erschien, rührte und bezauberte sie stets jedes männliche Wesen, wie sie die Verachtung und den Zweifel ihrer eigenen Geschlechtsgenossinnen erregte. Ich glaube, ihr hauptsächlicher Reiz lag in ihrer Schwäche: eine Art süßer Unterwürfigkeit und Weichheit, die bei jedem Mann, mit dem sie zusammentraf, um Mitgefühl und Schutz zu bitten schien. Wir haben gesehen, wie im Regiment die Degen der jungen Offiziere aus der Scheide gesprungen waren, um für sie zu kämpfen, obwohl sie nur mit wenigen von Georges Kameraden gesprochen hatte. Ebenso war es auch in dem engen kleinen Mietshaus in Fulham und dem Kreise dort – sie gefiel allen. Wenn sie Mrs. Mango aus der großen Firma Mango, Plantain und Co., Crutches Friars, und Besitzerin der Ananastreibhäuser in Fulham, selbst gewesen wäre, zu deren déjeuners im Sommer Herzöge und Grafen kamen und die mit Lakaien in prachtvoller gelber Livree und ein paar Braunen durchs Kirchspiel fuhr, wie sie die königlichen Ställe in Kensington nicht schöner aufweisen konnten, – wenn sie also Mrs. Mango selbst oder die Frau ihres Sohnes, Lady Mary Mango, gewesen wäre (die Tochter des Grafen Castlemouldy, die sich herabgelassen hatte, das Haupt der Firma zu heiraten), so hätten die Geschäftsleute der Nachbarschaft ihr nicht mehr Ehre erweisen können als der sanften jungen Witwe, wenn sie an ihren Türen vorüberging oder ihre bescheidenen Einkäufe in ihren Läden tätigte.

So kam es, daß nicht nur Mr. Pestler, der Arzt, sondern auch Mr. Linton, sein junger Assistent, der die Dienstmädchen und kleinen Geschäftsleute behandelte und den man täglich, die »Times« lesend, in der Apotheke sehen konnte, sich öffentlich als Mrs. Osbornes Sklaven erklärte. Er war ein ansehnlicher junger Mann, der in Mrs. Sedleys Haus willkommener war als sein Prinzipal. Wenn Georgy nicht ganz wohl war, kam er täglich ein paarmal, um nach ihm zu sehen, ohne auch nur einen Gedanken an Bezahlung. Er zweigte häufig Pastillen, Tamarinden und andere Dinge aus der Apotheke für den kleinen Georgy ab und mischte ihm Tränke und Mixturen von so wundervoller Süße, daß es dem Kinde geradezu ein Vergnügen war, krank zu sein. Als Georgy die Masern hatte, saßen er und sein Prinzipal Pestler in der gefährlichen entsetzlichen Woche zwei Nächte hindurch bei dem Knaben, und nach dem Schrecken der Mutter zu urteilen, hätte man glauben können, daß es Masern noch nie vorher in der Welt gegeben habe. Hätten sie für andere Leute ebensoviel getan? Hielten sie Nachtwachen bei den Leuten mit den Ananastreibhäusern, als Ralph Plantagenet, Gwendoline und Guinever Mango dieselbe Kinderkrankheit hatten? Wachten sie bei der kleinen Mary Clapp, der Tochter des Hauswirtes, die sich doch bei dem kleinen Georgy angesteckt hatte? Die Wahrheit zwingt uns, nein zu antworten! Sie schliefen ganz ruhig, zumindest bei Marys Masern  – bezeichneten ihren Fall als ganz leicht, der fast von selbst heilen würde, schickten ihr ein paar Tränke und taten, als sich das Kind wieder erholte, mit der größten Gleichgültigkeit und nur der Form halber Chinarinde hinein.

Dann war da noch der kleine französische Chevalier von gegenüber, der in mehreren Schulen der Nachbarschaft Unterricht in seiner Muttersprache erteilte und den man nachts in seinem Zimmer auf einer heiseren alten Geige zitternd alte Gavotten und Menuette spielen hörte. Dieser gepuderte, höfliche Greis, der jeden Sonntag in die Kapelle von Hammersmith ging und sich in jeder Hinsicht – in Gedanken, Benehmen und Haltung – von den bärtigen Wilden seiner Nation unterschied, die heutzutage in den Quadrant-Arkaden das perfide Albion beschimpfen und dich über ihre Zigarren hin finster anstarren – dieser alte Chevalier de Talonrouge pflegte, wenn er von Mrs. Osborne sprach, erst einmal eine Prise zu nehmen, die übriggebliebenen Stäubchen mit graziöser Handbewegung wegzuschnippen, die Finger wieder zusammenzulegen, sie an den Mund zu führen, sie mit einem Kuß auseinanderzublasen und auszurufen: »Ah, la divine créature!« Er schwor und beteuerte, daß Blumen in reicher Fülle unter den Füßen Amelias hervorsprössen, wenn sie in den Straßen von Brompton wandele. Er nannte den kleinen Georgy Cupido und fragte ihn nach Venus, seiner Mama. Der erstaunten Betty Flanagan erzählte er, Amelia sei eine der Grazien und die Lieblingsdienerin der Reine des amours.

Es ließen sich noch viele Beispiele dieser leicht erworbenen und Amelia unbewußten Beliebtheit anführen. Besuchte nicht Mr. Binny, der milde vornehme Pfarrer der Kapelle des Bezirks, in die die Familie ging, die Witwe eifrig? Ließ er nicht den kleinen Knaben auf seinen Knien reiten und erbot sich, ihn Latein zu lehren – zum Ärger der ältlichen Jungfrau, seiner Schwester, die ihm den Haushalt führte? »Es ist nichts an ihr, Beilby«, sagte sie stets. »Wenn sie zu uns zum Tee kommt, spricht sie den ganzen Abend kein Wort, sie ist ein armes, affektiertes Geschöpf und hat meiner Meinung nach überhaupt kein Herz. Es ist bloß das hübsche Gesicht, das ihr Männer so bewundert. Miss Grits, die fünftausend Pfund besitzt und noch mehr bekommen wird, hat doppelt soviel Charakter und ist für meinen Geschmack tausendmal angenehmer, und wenn sie nur etwas besser aussähe, würdest auch du sie gewiß für die Vollkommenheit selbst halten.«

Höchstwahrscheinlich hatte Miss Binny bis zu einem gewissen Grade recht. Es ist wirklich das hübsche Gesicht, das die Herzen der Männer, dieser bösen Schelme, gewinnt: eine Frau kann die Weisheit und Keuschheit Minervas besitzen, und doch beachtet sie kein Mann, wenn sie häßlich ist. Welche Torheit wird nicht durch ein Paar feurige Augen verziehen? Wieviel Dummheit wird nicht durch rote Lippen und eine süße Stimme bemäntelt? So schließen die Damen mit ihrem gewöhnlichen Gerechtigkeitssinn, daß eine Frau dumm sein muß, wenn sie hübsch ist. Meine Damen, es gibt unter Ihnen manch eine, die weder hübsch noch klug ist.

Es sind aus dem Leben unserer Heldin nur belanglose Vorfälle zu berichten. Ihre Geschichte handelt nicht von wunderbaren Ereignissen, wie der geneigte Leser zweifellos schon bemerkt haben wird, und hätte Amelia über die sieben Jahre nach der Geburt ihres Sohnes ein Tagebuch geführt, so wäre darin kaum Interessanteres vorgekommen als die gerade berichtete Maserngeschichte. Aber doch, eines Tages bat sie obenerwähnter Ehrwürden Mr. Binny zu ihrer großen Verwunderung, den Namen Osborne mit dem seinigen zu vertauschen. Tief errötend und mit nassen Augen und tränenerstickter Stimme dankte sie ihm für seine Freundschaft zu ihr und die Aufmerksamkeit, die er ihr und ihrem armen kleinen Knaben erwiesen habe. Dann aber teilte sie ihm mit, daß sie nie an einen anderen als – als ihren verlorenen Gatten denken könne.

Den 25. April und den 18. Juni, ihren Hochzeitstag und den Tag, da sie Witwe wurde, verbrachte sie stets auf ihrem Zimmer und weihte sie dem Andenken ihres dahingegangenen Freundes, während ihr kleiner Junge in den unzähligen Stunden ihrer einsamen Nachtgedanken im Kinderbettchen an ihrer Seite schlummerte. Tagsüber war sie aktiver geworden. Sie mußte George Lesen und Schreiben und etwas Zeichnen beibringen. Sie las Bücher, um ihm daraus Geschichten erzählen zu können; als sich seine Augen für die ihn umgebende Natur öffneten und sein Verstand sich zu entwickeln begann, lehrte sie das Kind, so gut es ihre bescheidenen Kräfte erlaubten, den Schöpfer aller Dinge zu erkennen. Jeden Abend und jeden Morgen beteten sie und er, die Mutter und der kleine Knabe, gemeinsam das Vaterunser; die Mutter flehte aus der Tiefe ihres sanften Herzens, das Kind sprach lallend die Worte nach. Jedesmal beteten sie zu Gott, den lieben Papa zu segnen, als ob er noch lebte und bei ihnen im Zimmer sei. Viele Stunden des Tages brachte sie damit zu, den jungen Herrn zu waschen und anzukleiden – mit ihm morgens vor dem Frühstück, ehe der Großpapa seinen »Geschäften« nachging, einen kleinen Spaziergang zu machen – ihm mit viel Geschick die wundervollsten Kleider zu fertigen. Zu diesem Zweck zerschnitt und änderte die sparsame Witwe jedes brauchbare Kleidungsstück, das sie noch aus ihrer Ehezeit in ihrer Garderobe besaß. Mrs. Osborne selbst trug zum großen Ärger ihrer Mutter, die besonders seit ihrem Unglück schöne Kleider liebte, stets ein schwarzes Gewand und einen Strohhut mit schwarzem Band. Die übrigen Stunden widmete sie ihrer Mutter und ihrem alten Vater. Sie hatte sich bemüht, Cribbage zu lernen, und spielte es mit dem alten Herrn an den Abenden, wo er nicht in seinen Klub ging. Sie sang ihm vor, wenn ihm der Sinn danach stand, und das war immer ein gutes Zeichen, denn jedesmal während der Musik fiel er in einen ruhigen Schlaf. Sie schrieb seine zahlreichen Auszüge, Briefe, Prospekte und Projekte ab. In ihrer Handschrift wurden die meisten früheren Bekannten des alten Herrn informiert, daß er Vertreter der Schwarzen Diamant-und-Anti-Aschenkohlen-Gesellschaft geworden sei und seine Freunde und das Publikum mit den besten Kohlen für soundso viel Shilling pro Sack versorgen könnte. Er setzte nur Unterschrift und Schnörkel unter die Schreiben und schrieb mit zitternder Kaufmannshand die Adressen. Eins dieser Schriftstücke schickte er an Major Dobbin vom ...ten Regiment per Adresse Mr. Cox und Mr. Greenwood. Da der Major sich zu dieser Zeit gerade in Madras befand, hatte er keinen besonderen Bedarf an Kohlen; er kannte jedoch die Hand, die den Prospekt geschrieben hatte. Guter Gott! Was hätte er nicht darum gegeben, sie in seiner halten zu dürfen! Ein zweiter Prospekt kam, der den Major unterrichtete, daß J. Sedley & Co. Agenturen in Oporto, Bordeaux und St. Mary errichtet hatten und damit ihren Freunden und dem Publikum im allgemeinen die besten und berühmtesten Jahrgänge von Portweinen, Sherrys und Claret unter ganz besonderen Vorteilen zu mäßigen Preisen anbieten könnten. Auf diesen Wink hin warb der Major ungestüm bei dem Gouverneur, dem Oberbefehlshaber, den Richtern, Regimentern und bei allen seinen Bekannten in der Präsidentschaft um Aufträge und schickte Bestellungen an Sedley & Co. nach England, daß Mr. Sedley und Mr. Clapp, der Co. in diesem Geschäft, aufs äußerste erstaunt waren. Nach diesem Glücksanfang kamen jedoch keine weiteren Aufträge mehr; und der arme alte Sedley war schon drauf und dran gewesen, ein Haus in der City zu bauen, ein Regiment von Angestellten aufzunehmen, einen Lagerplatz für sich allein zu mieten und Vertreter in der ganzen Welt anzustellen. Der alte Herr war kein Weinkenner mehr. Man überfiel Major Dobbin in der Offiziersmesse mit Flüchen über das schlechte Gesöff, das durch seine Vermittlung nach Madras gekommen war. Eine große Menge des Weines kaufte er zurück und versteigerte ihn öffentlich mit ungeheurem Verlust. Joseph, der jetzt in die Finanzkammer in Kalkutta befördert worden war, bekam einen Wutanfall, als die Post ihm ein Bündel dieser bacchanalischen Prospekte mit einem Privatbrief von seinem Vater brachte, worin dieser dem Sohn mitteilte, daß er bei dem Unternehmen auf ihn rechne, daß er eine Sendung erlesener Weine an ihn geschickt und, laut Rechnung, für den Betrag Wechsel auf ihn ausgestellt habe. Joseph, der es sich ebensowenig hätte träumen lassen, daß sein Vater, der Vater Joseph Sedleys von der Finanzkammer, ein um Aufträge bettelnder Weinhändler sei, wie er sich hatte träumen lassen, daß er Scharfrichter hätte sein können. Er wies die Wechsel verächtlich zurück und schrieb dem alten Herrn sehr hochmütig, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Als die protestierten Wechsel zurückkamen, mußten Sedley und Co. sie mit dem Gewinn aus dem Madrasunternehmen und einem Teil von Emmys Ersparnissen einlösen.

Außer ihrer Pension von jährlich fünfzig Pfund hatte nach Angaben des Testamentsvollstreckers ihres Mannes bei Osbornes Tod sein Beauftragter fünfhundert Pfund in den Händen gehabt. Dobbin als Georges Vormund schlug vor, diese Summe zu acht Prozent in einem ostindischen Geschäftsunternehmen anzulegen. Mr. Sedley, der glaubte, der Major verfolge unredliche Absichten mit dem Geld, widersetzte sich diesem Plan. Er ging persönlich zu dem Beauftragten, um gegen diese Verwendung der fraglichen Summe zu protestieren. Zu seinem Erstaunen erfuhr er jedoch, daß eine solche Summe nie in dessen Händen gewesen war und das Vermögen des verstorbenen Hauptmanns sich auf keine hundert Pfund belaufen habe und daß daher die erwähnten fünfhundert Pfund eine besondere Summe sein müßten, von der nur Major Dobbin Näheres wisse. Mehr als je überzeugt, daß eine Schurkerei im Gange war, verfolgte der alte Sedley den Major. Er verlangte als nächster Anverwandter seiner Tochter entschieden, der Major solle über die Gelder des verstorbenen Hauptmanns Rechenschaft ablegen. Dobbins Stottern, sein Erröten und seine Verlegenheit bestärkten den anderen in seiner Überzeugung, daß er es mit einem Schurken zu tun habe. In majestätischem Ton geigte er dem Offizier seine Meinung, wie er es nannte, und erklärte einfach, er glaube, der Major halte unberechtigterweise das Vermögen seines verstorbenen Schwiegersohnes zurück.

Hier verlor Dobbin aber doch alle Geduld, und wäre sein Ankläger nicht so alt und gebrochen gewesen, so hätte bei Slaughters sehr wohl ein Streit zwischen ihnen entstehen können, denn in einer Abteilung dieser Vergnügungsstätte fand die Unterredung der beiden Herren statt. »Kommen Sie mit hinauf, Sir«, flüsterte der Major, »ich bestehe darauf, daß Sie mit mir hinaufkommen, und ich werde Ihnen zeigen, wer der Geschädigte ist, der arme George oder ich.« Damit schleppte er den alten Herrn in sein Schlafzimmer und nahm aus seinem Schreibpult Osbornes Abrechnungen sowie ein Bündel von Schuldscheinen, die George ihm gegeben hatte, denn um die Wahrheit zu sagen, war er stets nur allzu bereit, einen Schuldschein auszustellen. »Seine Schulden in England hat er bezahlt«, fügte Dobbin hinzu, »aber als er fiel, besaß er keine hundert Pfund mehr. Ich und ein paar von seinen Kameraden legten die kleine Summe zusammen. Es war alles, was wir entbehren konnten, und Sie wagen uns zu sagen, wir wollten die Witwe und die Waise betrügen?« Sedley war sehr beschämt und gedemütigt, obwohl William Dobbin dem alten Herrn wirklich eine große Lüge erzählt hatte. Jeder Pfennig des Geldes stammte nämlich von ihm selbst, und er hatte auch seinen Freund begraben und alle Ausgaben, die durch das Unglück und die Heimreise der armen Amelia entstanden waren, beglichen.

Über diese Ausgaben nachzudenken, hatten sich weder der alte Herr noch ein anderer Verwandter Amelias, noch diese selbst sich die Mühe gemacht. Sie verließ sich auf Major Dobbin, ihren Buchhalter, nahm seine etwas konfusen Berechnungen als richtig hin und ahnte niemals, wie tief sie in seiner Schuld stand.

Zwei- oder dreimal jährlich schrieb sie ihm ihrem Versprechen gemäß nach Madras, Briefe, die von Anfang bis Ende von dem kleinen Georgy handelten. Wie er sie als seine teuersten Schätze betrachtete! Wenn Amelia schrieb, so antwortete er ihr, allerdings nur dann. Aber er sandte seinem Patenkind und ihr unzählige Andenken. Er schickte eine Schachtel mit Schärpen und einen großartigen Satz elfenbeinerner Schachfiguren, die er in China bestellt hatte. Die Bauern waren kleine, grünweiße Männer mit richtigen Schwertern und Schilden; die Springer saßen zu Pferde, die Türme wurden von Elefanten getragen. Die Figuren von Mrs. Mango von den Ananastreibhäusern seien nicht so schön, bemerkte Mr. Pestler. Dieses Schachspiel war das ganze Entzücken Georgys, der zum Dank dafür seinen ersten Brief an den Patenonkel zusammenbaute. Dobbin schickte auch Eingemachtes und Mixpickles. Das letztere probierte der Knabe heimlich auf der Anrichte und starb beinahe beim Kosten. Er glaubte, sie seien aus Strafe fürs Stehlen so scharf. Emmy schrieb dem Major einen drolligen Bericht über dieses Mißgeschick, und ihn freute es, zu sehen, daß sich ihr Gemüt erholte und sie jetzt zuweilen fröhlich sein konnte. Er schickte zwei Schals herüber, einen weißen für sie und einen schwarzen mit Palmblättern für ihre Mutter, und ein paar rote Schärpen für den alten Mr. Sedley und George zum Winter. Mrs. Sedley wußte, daß die Schals pro Stück mindestens fünfzig Guineen gekostet hatten. Sie trug ihren, wenn sie in vollem Staat nach Brompton zur Kirche ging, und ihre Freundinnen beglückwünschten sie zu der glänzenden Erwerbung. Auch Emmys paßte gut zu ihrem einfachen schwarzen Gewand. »Wie schade, daß sie sich nichts aus ihm macht«, bemerkte Mrs. Sedley gegenüber Mrs. Clapp und allen ihren Freundinnen in Brompton. »Joseph hat uns nie solche Geschenke gemacht und gönnt uns nichts. Offensichtlich ist der Major bis über beide Ohren in sie verliebt; wenn ich es aber nur andeute, dann wird sie rot und fängt an zu weinen und geht hinauf und setzt sich mit ihrer Miniatur hin. Diese Miniatur hängt mir schon zum Hals heraus, ich wollte, wir hätten die abscheulichen geldprotzigen Osbornes nie zu Gesicht bekommen.«

In dieser bescheidenen Umgebung unter so einfachen Gefährten verging Georges frühe Kindheit, und der Knabe wuchs heran – zart, sensibel, tyrannisch, ein richtiges Muttersöhnchen. Er beherrschte seine sanfte Mutter, die er leidenschaftlich liebte, und regierte die ganze kleine ihn umgebende Welt. Als er größer wurde, nahmen die Älteren verwundert wahr, daß er sehr hochmütig war und seinem Vater immer ähnlicher wurde. Er fragte nach allem, wie es die wissensdurstige Jugend stets tut. Seine tiefsinnigen Bemerkungen und Fragen setzten den Großvater in Erstaunen, und der Alte langweilte den Wirtshausklub ständig mit Erzählungen von der Gescheitheit und Begabung seines Enkels. Seine Großmutter litt er mit großmütiger Gleichgültigkeit. Der kleine Kreis um ihn glaubte, daß ihm auf Erden kein Junge gleichkomme. Georgy hatte den väterlichen Stolz geerbt und glaubte wahrscheinlich, sie hätten nicht so ganz unrecht.

Als er ungefähr sechs Jahre alt war, begann Dobbin ihm häufig zu schreiben. Der Major wollte wissen, ob Georgy eine Schule besuche, und hoffte, daß er dort Ehre einlege – oder wolle er vielleicht einen guten Hauslehrer haben? Es wurde höchste Zeit, daß er anfing, etwas zu lernen, und sein Pate und Vormund deutete an, er hoffe, man werde ihn die Kosten der Erziehung des Knaben bestreiten lassen, da es der Mutter mit ihrem geringen Einkommen sehr schwerfallen würde. Mit einem Wort, der Major dachte stets an Amelia und ihren kleinen Jungen, und durch Vermittlung seines Beauftragten versorgte er ihn ständig mit Bilderbüchern, Tuschkästen, Schreibutensilien und allen möglichen belustigenden und belehrenden Dingen. Drei Tage vor Georges sechstem Geburtstag fuhr ein Herr in einem Einspänner, begleitet von einem Bedienten, an Mr. Sedleys Hause vor und fragte nach Master George Osborne. Er war Woolsey, der Militärschneider aus der Conduit Street, der im Auftrage des Majors dem jungen Herrn zu einem Anzug Maß nehmen sollte. Er hatte früher die Ehre gehabt, für den Hauptmann, den Vater des jungen Herrn, zu arbeiten. Manchmal, und zweifellos auf den Wunsch des Majors, kamen seine Schwestern, die Misses Dobbin, in der Familienkutsche, um Amelia und den Kleinen zu einer Spazierfahrt abzuholen, falls sie Lust dazu hätten. Die Gönnermiene und Freundlichkeit dieser Damen war Amelia sehr unangenehm, aber sie trug sie mit Sanftmut, denn es lag in ihrer Natur nachzugeben, und außerdem machte die prächtige Kutsche dem kleinen Georgy ungeheures Vergnügen. Gelegentlich baten die Damen, daß das Kind einen Tag bei ihnen verbringen dürfe, und George freute sich stets, die schöne Villa in der Straße Denmark Hill zu besuchen, wo sie wohnten und wo es so schöne Trauben in den Gewächshäusern und Pfirsiche an den Mauern gab.

Eines Tages brachten sie Amelia freundlicherweise eine Nachricht, über die sie sich sicher sehr freuen würde  – etwas ungemein Interessantes über ihren lieben William.

»Was ist es, kommt er nach Hause?« fragte sie, und Freude strahlte aus ihren Augen.

O nein, nicht das – aber sie hätten sehr guten Grund, zu glauben, daß der liebe William heiraten würde – und zwar eine Verwandte von einer sehr teuren Freundin Amelias – Miss Glorvina O'Dowd, Michael O'Dowds Schwester, die zu Lady O'Dowd nach Madras gefahren war – ein sehr hübsches, gebildetes Mädchen, wie es hieß.

Amelia sagte: »Oh!« Amelia war wirklich sehr glücklich darüber. Sie glaubte, Glorvina könne ihrer alten Bekannten nicht sehr ähneln, die zwar sehr freundlich ... aber ... aber sie war wirklich sehr glücklich. Aus einer gewissen Regung heraus, deren Bedeutung ich nicht erklären kann, schloß sie George in die Arme und küßte ihn außerordentlich zärtlich. Ihre Augen waren feucht, als sie das Kind niedersetzte, und sie sprach während der ganzen Fahrt kein Wort mehr – obwohl sie wirklich sehr glücklich war.


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