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Unser Major hatte sich an Bord der »Ramchunder« sehr beliebt gemacht. Als er nämlich mit Mr. Sedley in das ersehnte Landungsboot stieg, ließ die gesamte Schiffsbesatzung, Mannschaften und Offiziere, allen voran der Kapitän, drei Hurras für Major Dobbin erschallen, der tief errötete und zum Zeichen des Dankes den Kopf einzog. Joseph, der höchstwahrscheinlich die Hochrufe auf sich bezog, nahm seine goldbebänderte Mütze ab und schwenkte sie majestätisch gegen seine Freunde. So wurden sie ans Ufer gerudert und landeten würdevoll am Kai; von dort begaben sie sich ins »Royal George Hotel«.
In der Kaffeestube des Hotels erwartete sie eine herrliche Rinderkeule und eine silberne Kanne, die echtes britisches Bier vermuten ließ. Dieser Anblick erfreut und stärkt das Auge des aus dem Ausland zurückkehrenden Reisenden so, daß jeder, der ein so bequemes, hübsches, anheimelndes englisches Gasthaus betritt, gern einige Tage darin verweilen möchte. Aber Dobbin fing augenblicklich an, von einer Postkutsche zu sprechen, und kaum war er in Southampton angekommen, als er schon wünschte, sich auf den Weg nach London zu machen. Joe dagegen wollte nichts von der Weiterreise noch an diesem Abend hören. Warum sollte er die Nacht in einer Postkutsche zubringen, statt in dem breiten, wogenden Daunenbett, das es hier anstelle des entsetzlichen schmalen Käfigs gab, in dem der stattliche Herr aus Bengalen während der Reise eingesperrt gewesen war. Er konnte erst fort, wenn sein Gepäck an Land war, und es war ihm erst möglich, zu reisen, wenn er seinen indischen Tabak hatte; der Major mußte also bis zum nächsten Morgen warten. Er schickte einen Brief mit der Nachricht von seiner Ankunft an seine Familie und nahm Joseph das Versprechen ab, seinen Verwandten ebenfalls zu schreiben. Joseph hielt aber sein Versprechen nicht. Der Kapitän, der Schiffsarzt und ein paar Passagiere kamen und dinierten mit den beiden Herren im Gasthaus, und Joseph bestellte das Beste, was zu haben war, und versprach dem Major, am nächsten Tag mit ihm nach London zu reisen. Der Wirt erklärte, es habe seinen Augen gutgetan, zu sehen, wie Mr. Sedley sein erstes Glas Porter trank. Wenn ich Zeit hätte und es wagte abzuschweifen, so würde ich ein Kapitel über dieses erste auf englischem Boden getrunkene Glas Porter schreiben. Oh, wie köstlich es doch ist! Es lohnt, die Heimat auf ein Jahr zu verlassen, nur um diesen einen Zug zu genießen.
Major Dobbin erschien am nächsten Morgen wie immer nett rasiert und gekleidet. Es war noch so früh, daß niemand im Hause wach war, mit Ausnahme eines dieser wunderbaren Hausknechte, die anscheinend nie Schlaf brauchen. Als sich der Major auf knarrenden Dielen durch die dunklen Korridore stahl, konnte er hören, wie das Schnarchen der verschiedenen Gäste durch die Gänge hallte. Dann schlich der schlaflose Hausknecht von Tür zu Tür und sammelte die Stiefelpaare ein, die davorstanden. Kurz darauf erhob sich Josephs Eingeborenendiener und begann, die umständliche Toilette seines Herrn vorzubereiten und ihm die Wasserpfeife zu stopfen. Nun standen die weiblichen Dienstboten auf, und als sie den dunkelhäutigen Mann erblickten, kreischten sie und hielten ihn für den Teufel. Er und Dobbin stolperten in den Gängen über die Wassereimer, mit denen die Mädchen die Dielen scheuerten. Als der erste unrasierte Kellner erschien und die Tür des Gasthauses öffnete, hielt der Major die Zeit zur Abreise für gekommen und ließ sofort eine Extrapostkutsche bestellen, damit sie abfahren könnten.
Hierauf richtete er seine Schritte zu Mr. Sedleys Zimmer und zog die Vorhänge des großen Familienbettes zurück, in dem Mr. Joseph schnarchte. »Stehen Sie auf, Sedley«, rief der Major, »es ist Zeit aufzubrechen. Die Postkutsche wird in einer halben Stunde vor der Tür stehen.«
Unter dem Deckbett hervor fragte ihn Joseph knurrend, wie spät es denn sei. Als er aber schließlich von dem errötenden Major die Zeit erfuhr – Dobbin konnte nie eine Unwahrheit aussprechen, mochte sie auch noch so sehr zu seinem Vorteil gereichen –, brach er in eine Schimpfkanonade aus, die wir hier nicht wiederholen wollen. Jedenfalls gab er Dobbin zu verstehen, daß er seine Seele in Gefahr brächte, würde er in diesem Augenblick aufstehen, daß der Major zum Henker gehen sollte, daß er nicht mit Dobbin reisen wolle und daß es sehr unfreundlich und unhöflich sei, einen Menschen so im Schlaf zu stören. Darauf mußte sich der besiegte Major zurückziehen und Joseph seinen unterbrochenen Schlummer fortsetzen lassen.
Die Postkutsche kam bald darauf, und der Major wollte nicht länger warten.
Wäre er ein englischer adliger Vergnügungsreisender gewesen oder ein Zeitungskurier mit Depeschen (die Regierungsbotschaften werden gewöhnlich viel langsamer befördert), so hätte er nicht schneller reisen können. Die Postillione wunderten sich über die Trinkgelder, die er unter ihnen verteilte. Wie glücklich und frisch das Land aussah, als die Postkutsche von einem Meilenstein zum anderen dahineilte, durch nette Landstädte, wo die Wirte auf die Straße herausgetreten waren und lächelnd und mit Verbeugungen grüßten, vorbei an hübschen Gasthäusern am Wege, wo die Schilder an den Ulmen hingen und Pferde und Fuhrleute im gesprenkelten Schatten der Bäume tranken, vorbei an alten Schlössern und Parks, ländlichen Weilern, die sich um alte graue Kirchen scharten, durch die bezaubernde freundliche Landschaft Englands. Gibt es etwas auf der Welt, was dem gleichkommt? Für den aus der Fremde Heimkehrenden ein schönes Bild – ihm scheint im Vorbeifahren, alles wolle ihm die Hand schütteln. Nun ja, Major Dobbin reiste von Southampton nach London daran vorüber und bemerkte außer den Meilensteinen am Wege kaum etwas. Er hatte es ja so eilig, seine Eltern in Camberwell wiederzusehen.
Die Zeit, die er verlor, als er von Piccadilly getreulich wieder zu seiner alten Herberge in Slaughters Kaffeehaus fuhr, tat ihm schon leid. Zehn Jahre waren vergangen, seit er zum letztenmal hiergewesen war, seit er und George als junge Männer hier manches Festmahl und manches Trinkgelage gehalten hatten. Er gehörte jetzt zu den Alten. Sein Haar war ergraut und mit ihm viele Leidenschaften und Gefühle seiner Jugend. An der Tür jedoch stand der alte Kellner in demselben fettigen schwarzen Anzug, mit demselben Doppelkinn und schlaffen Gesicht, mit demselben riesigen Bündel von Petschaften an der Uhrkette. Er klimperte wie früher mit dem Geld in der Tasche und empfing den Major, als ob er erst vor einer Woche weggegangen wäre. »Bring die Sachen des Majors auf Nummer dreiundzwanzig, das ist sein Zimmer«, sagte John ohne das geringste Zeichen von Überraschung. »Gebratenes Huhn zum Diner, nehme ich an. Sie sind nicht verheiratet? Es hieß, Sie hätten geheiratet – der schottische Arzt von Ihrem Regiment war hier. Nein, es war Hauptmann Humby vom Dreiunddreißigsten, das in Indien mit dem ...ten im Quartier lag. Wollen Sie warmes Wasser? Warum kommen Sie mit der Extrapost? Genügt die Postkutsche nicht?« Mit diesen Worten ging der treue Kellner, der sich an jeden Offizier, der das Haus besuchte, erinnerte und dem zehn Jahre wie ein Tag waren, Dobbin voran in dessen altes Zimmer, wo noch das breite Moreenbett war und der abgenutzte Teppich noch eine Spur schmutziger und die alten schwarzen, mit verschossenem Kattun bezogenen Möbel, gerade wie sie der Major noch von der Jugend her in Erinnerung hatte.
Er dachte an George, wie er am Tage vor seiner Hochzeit nägelkauend im Zimmer auf und ab gegangen war und geschworen hatte, daß der Alte weich werden müsse, wenn er es aber nicht tue, dann schere er sich keinen Pfifferling darum. Er hörte ihn noch Dobbins Tür und seine eigene nebenan zuknallen.
»Sie sind nicht jünger geworden«, sagte John und betrachtete den Freund aus früheren Zeiten ruhig.
Dobbin lachte. »Zehn Jahre und das Fieber machen den Menschen nicht jünger, John«, sagte er; »Sie bleiben immer jung – nein, Sie bleiben immer alt.«
»Was ist aus Hauptmann Osbornes Witwe geworden?« fragte John. »Feiner junger Kerl war es. Gott, wie er das Geld zum Fenster hinauswarf. Seit dem Tage, an dem er von hier aus zur Trauung ging, ist er nicht wieder hiergewesen. Er schuldet mir noch drei Pfund. Sehen Sie hier, ich habe es in meinem Buch:›10. April 1815, Hauptmann Osborn – drei Pfund.‹ Ich möchte wissen, ob sein Vater mir das mal bezahlen würde.« Mit diesen Worten zog John das alte Saffiannotizbuch hervor, in das er auf ein noch vorhandenes, fettiges, verblichenes Blatt die Schulden des Hauptmanns neben vielen anderen Geldforderungen an ehemalige Besucher des Hauses gekritzelt hatte.
Nachdem John seinen Gast auf sein Zimmer gebracht hatte, zog er sich mit der größten Ruhe zurück. Major Dobbin kramte aus seinem Gepäck, nicht ohne über sein unvernünftiges Handeln zu erröten und zu lächeln, den schönsten und kleidsamsten Zivilanzug hervor, den er besaß. Er mußte über sein gebräuntes Gesicht und sein graues Haar lachen, als er sich in dem trüben kleinen Spiegel über dem Toilettentisch betrachtete.
Ich freute mich, daß mich der alte John nicht vergessen hat, dachte er. Hoffentlich erkennt sie mich auch, und er trat aus dem Gasthaus und lenkte seine Schritte wieder in Richtung Brompton.
Jeder kleinste Umstand seines letzten Zusammenseins mit Amelia stand dem treuen Menschen wieder vor Augen, als er ihrem Hause zuging. Der Triumphbogen und die Achillesstatue waren errichtet worden, seit er Piccadilly zum letztenmal gesehen hatte. Hunderterlei hatte sich verändert, aber er nahm es mit Auge und Geist kaum auf. Er zitterte, als er die Bromptoner Gasse durchschritt, die wohlbekannte Gasse, die zu der Straße führte, wo sie wohnte. Ob sie denn nun heiraten wollte oder nicht? Wenn er ihr und dem kleinen Knaben begegnete – guter Gott! Was sollte er dann tun? Er sah eine Frau mit einem fünfjährigen Kind auf sich zukommen. War sie es? Schon bei dem bloßen Gedanken daran bebte er. Als er endlich die Häuserreihe, in der sie wohnte, und ihre Tür erreichte, griff er zur Klinke und blieb stehen. Er hätte hören können, wie sein Herz klopfte. Möge sie der Allmächtige segnen, was auch immer geschehen ist, dachte er bei sich. »Pah, sie wohnt vielleicht gar nicht mehr hier«, sagte er und schritt durch das Tor.
Das Fenster des Zimmers, das sie sonst bewohnt hatte, stand offen, und es war niemand darin zu sehen. Der Major glaubte das Klavier mit dem Porträt darüber zu erkennen wie in früheren Zeiten, und seine Unruhe kam wieder. Mr. Clapps Messingschild war noch an der Tür. Dobbin klopfte.
Ein dralles Mädchen von sechzehn mit klaren Augen und roten Wangen kam auf das Klopfen herbei und betrachtete den Major, der sich an die Wand des Häuschens lehnte, aufmerksam.
Er war bleich wie ein Gespenst und vermochte kaum hervorzustammeln: »Wohnt Mrs. Osborne hier?«
Sie blickte ihn einen Augenblick scharf an, wurde ebenfalls blaß und antwortete: »Gott behüte mich – das ist ja Major Dobbin.« Sie hielt ihm zitternd beide Hände hin. »Kennen Sie mich nicht mehr?« fragte sie. »Ich habe Sie immer Major Zuckererbse genannt.« Hierauf (und ich glaube, es war das erstemal in seinem Leben, daß er sich so benahm) schloß der Major das Mädchen in die Arme und küßte es. Sie weinte und lachte vor Aufregung durcheinander. Mit dem lauten Ruf »Mama! Papa!« brachte sie die braven Leute herbei, die den Major bereits vom Küchenfenster aus beobachtet hatten und erstaunt waren, ihre Tochter in dem kleinen Gang in den Armen eines großen schlanken Mannes mit blauem Rock und weißen Leinenhosen zu erblicken.
»Ich bin ein alter Freund«, sagte er, nicht ohne zu erröten. »Erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Mrs. Clapp, und an den guten Kuchen, den Sie immer zum Tee gemacht haben? Kennen Sie mich nicht wieder, Clapp? Ich bin Georges Patenonkel und komme gerade aus Indien.« Nun gab es ein allgemeines Händeschütteln. Mrs. Clapp war sehr gerührt und entzückt und rief den Himmel wohl hundertmal an einzugreifen.
Die Wirtsleute führten den würdigen Major in Sedleys Zimmer, und er erkannte jedes Möbelstück, angefangen von dem alten Klavier mit den Messingornamenten, einst ein hübsches kleines Instrument, gebaut von Stothard, bis zu dem Ofenschirm und dem Miniaturgrabstein aus Alabaster, in dessen Mitte Mr. Sedleys goldene Uhr tickte. Als er sich dort in dem leeren Armsessel des Mieters niedergelassen hatte, berichteten ihm Vater, Mutter und Tochter, unterbrochen von tausend Ausrufen, das, was wir bereits wissen, was ihm von Amelias Geschichte aber noch unbekannt war, nämlich Mrs. Sedleys Tod und Georges Aussöhnung mit seinem Großvater Osborne. Sie erzählten, wie die Witwe den Abschied von ihm ertrug und vieles mehr aus ihrem Leben. Ein paarmal hatte er schon die Frage nach der Heirat auf den Lippen, aber es gebrach ihm an Mut. Er wollte diesen Leuten sein Herz nicht auftun. Schließlich erfuhr er, daß Mrs. Osborne mit ihrem Vater in die Kensington Gardens gegangen sei, wohin sie an schönen Nachmittagen nach dem Essen den alten Herrn stets führte. Er sei schon sehr schwach und verdrießlich geworden und mache ihr das Leben schwer, obwohl sie zu ihm ganz sicher wie ein Engel sei.
»Meine Zeit ist sehr knapp, und heute abend habe ich wichtige Geschäfte«, sagte der Major. »Ich möchte Mrs. Osborne jedoch gern sprechen. Ob Miss Polly wohl mitkommen und mir den Weg zeigen könnte?«
Miss Polly war von diesem Vorschlag bezaubert und überrascht. Sie kannte den Weg. Sie würde ihn dem Major zeigen. Sie war oft mit Mr. Sedley dorthin gegangen, wenn Mrs. Osborne zum Russell Square geeilt war. Sie kannte auch die Bank, auf der er am liebsten saß. Sie stürzte in ihr Zimmer und kehrte bald zurück, geschmückt mit ihrem besten Hut, dem gelben Schal ihrer Mama und deren großer Achatbrosche. Sie hatte sich die Sachen geliehen, um eine würdige Begleiterin des Majors zu sein.
Dobbin, im blauen Rock mit Lederhandschuhen, reichte der jungen Dame den Arm, und sie marschierten munter davon. Er war froh, daß bei der Begrüßungsszene, vor der er doch irgendwie Angst hatte, eine gute Bekannte anwesend sein würde. Er stellte seiner Begleiterin tausend Fragen über Amelia, und sein gütiges Herz schmerzte, wenn er daran dachte, daß sie sich von ihrem Sohn hatte trennen müssen. Wie ertrug sie es? Sah sie ihn oft? Ging es Mr. Sedley in bezug auf weltliche Güter besser? Polly beantwortete alle Fragen des Majors Zuckererbse, so gut sie konnte.
Etwas geschah während des Spazierganges, was, von Natur aus unbedeutend, bei dem Major doch große Freude auslöste. Ein bleicher junger Mann mit spärlichem Bartwuchs und steifer weißer Krawatte kam wie ein belegtes Brot, das heißt zwischen zwei Damen, die Straße herab. Die eine war eine große, gebieterisch aussehende Dame von mittlerem Alter, und ihre Züge und Gesichtsfarbe ähnelten denen des Geistlichen der Kirche Englands an ihrer Seite. Die andere dagegen war eine verkümmerte kleine Frau mit braunem Gesicht, geschmückt mit einem schönen neigen weißbebänderten Hut, einem eleganten Umhang und einer kostbaren goldenen Uhr. Wie sehr die Damen den Herrn auch behinderten, so trug er außerdem doch noch einen Sonnenschirm, einen Schal und einen Korb, so daß er nicht den Hut berühren konnte, um Miss Mary Clapps Knicks zu erwidern.
Er antwortete also mit einem milden Kopfnicken, während die beiden Damen mit Gönnermiene zurückgrüßten und gleichzeitig dem Menschen im blauen Rock mit dem Bambusstock, der Miss Polly begleitete, gestrenge Blicke zuwarfen.
»Wer ist das?« fragte der Major belustigt, nachdem er beiseite getreten war, um die drei an sich vorübergehen zu lassen. Mary blickte ihn spitzbübisch an.
»Das ist unser Pfarrer, Ehrwürden Mr. Binny« (Major Dobbin zuckte zusammen), »und seine Schwester Miss B. Gott behüte, wie hat sie uns doch in der Sonntagsschule geplagt. Und die andere Dame, die kleine Schielende mit der schönen Uhr, ist Mrs. Binny, eine geborene Miss Grits. Ihr Papa war Kaufmann und hatte das ›Goldene Teekännchen‹ in der Kensingtoner Sandgrube. Sie haben vor einem Monat geheiratet und sind eben von Margate zurückgekehrt. Sie hat fünftausend Pfund Mitgift; aber sie und Miss Binny, die die Heirat vermittelt hat, haben sich schon gezankt.«
Wenn der Major schon früher zusammengezuckt war, so fuhr er jetzt derart zusammen und stieß den Bambusstock so kräftig auf den Boden, daß Miss Clapp lachend »Großer Gott!« schrie. Er blieb stehen und blickte einen Augenblick mit offenem Mund dem sich entfernenden jungen Paar nach, während Miss Mary ihre Geschichte erzählte. Außer der Nachricht von der Heirat des ehrwürdigen Herrn vernahm er jedoch nichts, denn es schwindelte ihm vor Glückseligkeit. Nach dieser Begegnung lief er im Eiltempo auf sein Ziel zu, und doch ging es ihm wieder zu schnell, denn er hatte Angst vor der Begegnung, die er seit zehn Jahren ersehnt hatte. Sehr bald hatten sie die Bromptoner Straßen hinter sich gelassen und traten durch das kleine alte Portal in der Mauer, die die Kensington Gardens umgab.
»Dort sind sie«, sagte Miss Polly und fühlte erneut, wie er an ihrem Arm zusammenfuhr. Sie war sofort über die ganze Angelegenheit im Bilde und kannte die Geschichte so gut, als hätte sie sie in einem ihrer Lieblingsromane gelesen – in »Fanny die Waise« oder in »Schottische Häuptlinge«.
»Ob Sie nicht hingehen und es ihr sagen?« fragte der Major. Polly stürzte los, daß ihr gelber Schal im Wind flatterte.
Der alte Sedley saß auf einer Bank, hatte sein Taschentuch über die Knie gebreitet und brabbelte wie üblich irgendeine alte Geschichte aus alter Zeit, der Amelia schon manches Mal geduldig lächelnd gelauscht hatte. Seit einiger Zeit konnte sie an ihre eigenen Angelegenheiten denken und dabei lächeln oder anderswie ihre Aufmerksamkeit für die Geschichten ihres Vaters bekunden, ohne ein Wort davon aufzunehmen. Beim Anblick der herbeispringenden Mary fuhr Amelia von der Bank hoch. Ihr erster Gedanke war, daß Georgy etwas zugestoßen sei, aber das eifrige und glückliche Gesicht der Botin verbannte die Furcht aus dem Herzen der ängstlichen Mutter.
»Neuigkeiten! Gute Nachrichten!« rief die Abgesandte. »Er ist da, er ist da!«
»Wer ist da?« fragte Emmy, die immer noch an ihren Sohn dachte.
»Sehen Sie dorthin«, erwiderte Miss Clapp, drehte sich um und deutete in eine bestimmte Richtung, aus der Amelia Dobbins magere Gestalt und seinen langen Schatten über das Gras heranstolzieren sah. Nun fuhr Amelia zusammen, errötete und begann natürlich zu weinen. Bei allen Festen dieses einfältigen Geschöpfchens spielten stets die Wasserkünste. Er sah sie an – o wie zärtlich! –, als sie ihm mit ausgestreckten Händen entgegenlief. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war nur etwas blasser geworden, und ihre Gestalt war voller. Ihre Augen waren dieselben, die gütigen treuen Augen. In ihrem weichen, braunen Haar zeigten sich ein paar silberne Fäden. Sie gab ihm beide Hände und blickte errötend und unter Tränen lächelnd in sein ehrliches, schlichtes Gesicht. Er nahm die beiden kleinen Hände zwischen die seinigen und hielt sie fest. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen. Warum schloß er sie nicht in die Arme und schwor, sie nicht verlassen zu wollen? Sie hätte nachgeben, ihm gehorchen müssen.
»Ich – ich habe noch jemanden anzukündigen«, sagte er nach einer Pause.
»Mrs. Dobbin?« fragte Amelia und wich zurück. Warum sprach er nicht?
»Nein«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Wer hat Ihnen denn den Bären aufgebunden? Ich meine Ihren Bruder Joseph, der im selben Schiff ankam wie ich und Sie alle glücklich machen will.«
»Papa, Papa!« rief Emmy. »Es gibt gute Nachrichten! Mein Bruder ist in England, er ist gekommen, um für dich zu sorgen. Hier ist Major Dobbin.«
Mr. Sedley fuhr heftig zitternd hoch und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Dann trat er vor und machte dem Major eine altmodische Verbeugung, nannte ihn Mr. Dobbin und sprach die Hoffnung aus, seinem würdigen Vater, Sir William, gehe es gut. Er beabsichtigte, Sir William seine Aufwartung zu machen, denn dieser habe ihm vor kurzer Zeit die Ehre eines Besuches erwiesen. Sir William war zum letztenmal vor acht Jahren bei dem alten Herrn gewesen – das war der Besuch, den er erwidern wollte.
»Seine Gesundheit ist sehr erschüttert«, flüsterte Amelia, als Dobbin herantrat und dem alten Herrn herzlich die Hand schüttelte.
Obwohl der Major am Abend so dringende Geschäfte in London zu erledigen hatte, war er doch bereit, sie zu verschieben, als ihn Mr. Sedley nach Hause zu einer Tasse Tee einlud. Amelia nahm den Arm ihrer jungen Freundin mit dem gelben Schal und ging auf dem Heimweg voran, so daß Dobbin Mr. Sedley zufiel. Der alte Mann ging sehr langsam und erzählte eine Menge alter Geschichten über sich und seine arme Bessy, über seinen früheren Reichtum und seinen Bankrott. Seine Gedanken waren, wie stets bei Greisen, in die Vergangenheit gerichtet; von der Gegenwart wußte er mit Ausnahme des eigenen Unglücks wenig. Der Major ließ ihn gern schwatzen. Seine Augen waren auf die Gestalt vor ihm gerichtet – die liebe kleine Gestalt, die in seiner Phantasie und in seinen Gebeten stets zugegen war und seine Träume im Wachen und im Schlafen besucht hatte.
Amelia war den ganzen Abend über sehr lebhaft und strahlte vor Glück. Mit Anmut und Würde, wie es Dobbin schien, übte sie ihre Pflichten als Gastgeberin aus. Seine Augen folgten ihr überallhin, während sie in der Dämmerung saßen. Wie oft hatte er sich nach diesem Augenblick gesehnt und in der Ferne unter heißen Winden und auf beschwerlichen Märschen an sie gedacht – sie so vor sich gesehen wie jetzt: sanft und glücklich, gütig für die Bedürfnisse des Alters sorgend und die Armut mit süßer Ergebenheit schmückend. Ich will nicht etwa sagen, daß sein Geschmack erlesen war oder daß es die Pflicht eines großen Geistes wäre, sich mit einem Butterbrotparadies zu begnügen, wie es unser einfacher alter Freund tat. Ob gut oder schlecht – seine Wünsche gingen nun einmal in diese Richtung, und wenn ihm Amelia einschenkte, dann war er bereit, ebensoviel Tassen Tee zu trinken wie Doktor Johnson.
Amelia bemerkte diesen Hang und unterstützte ihn lachend. Sie sah ungemein spitzbübisch aus, als sie ihm eine Tasse nach der anderen reichte. Allerdings wußte sie nicht, daß der Major noch nichts gegessen hatte und daß bei Slaughters schon der Tisch für ihn gedeckt war und ein Teller andeutete, daß er besetzt sei – in derselben Nische, in der der Major und George so manches Mal gezecht hatten, als Amelia noch ein Kind war und soeben erst von Miss Pinkertons Schule zurückgekehrt war.
Das erste, was Mrs. Osborne dem Major zeigte, war Georgys Miniaturbild, das sie sofort nach ihrer Heimkehr herunterholte. Es war natürlich nicht halb so hübsch, wie der Junge in Wirklichkeit aussah; war es aber nicht schön von ihm, daß er daran gedacht hatte, es seiner Mutter zu bringen? Solange ihr Vater wach war, sprach sie nicht viel von Georgy; der alte Mann hörte es nicht gern, wenn man von Mr. Osborne und dem Russell Square sprach; höchstwahrscheinlich wußte er nicht, daß er in den letzten Monaten hauptsächlich von der Gnade seines reichen Rivalen gelebt hatte, und geriet in Wut, wenn der andere nur erwähnt wurde.
Dobbin erzählte ihm alles, was sich an Bord der »Ramchunder« zugetragen hatte, und vielleicht noch etwas mehr. Er übertrieb Josephs Wohlwollen gegen seinen Vater und seine Entschlossenheit, ihm seine alten Tage zu verschönen. In Wirklichkeit hatte der Major während der Reise seinem Mitpassagier diese Pflicht aufs strengste eingeschärft und ihm das Versprechen abgenommen, daß er sich um seine Schwester und das Kind kümmern wolle. Er beruhigte Josephs Zorn wegen der Wechsel, die der alte Herr auf ihn gezogen hatte, und berichtete ihm lachend, was er selbst in dieser Hinsicht erdulden mußte und wie ihn der Alte mit dieser berühmten Weinsendung beglückt hatte. Er brachte Mr. Joseph, der ein ganz gutmütiger Mensch war, wenn man ihn zufriedenstellte und ihm ein wenig schmeichelte, dazu, daß er gegen seine Verwandten in Europa freundliche Gefühle hegte.
Aber schließlich muß ich leider gestehen, daß der Major die Wahrheit so weit entstellte, dem alten Mr. Sedley zu erzählen, nur der Wunsch, seinen Vater wiederzusehen, habe Joseph nach Europa getrieben.
Zur gewohnten Stunde nickte Mr. Sedley auf seinem Stuhl ein, und jetzt hatte Amelia Gelegenheit, die Unterhaltung zu führen. Sie sprach eifrig, aber ausschließlich über Georgy. Ihren eigenen Trennungsschmerz erwähnte sie mit keinem Wort, denn obwohl der Abschied sie beinahe ins Grab gebracht hatte, so glaubte die gute Frau doch, es sei sehr schlecht von ihr, sich über den Verlust so zu grämen. Aber alles, was ihn betraf, seine Tugenden, Talente und Aussichten, schüttete sie vor ihrem Zuhörer aus. Sie beschrieb seine engelhafte Schönheit und gab hundert Beispiele von seiner Großmut und Tüchtigkeit aus der Zeit, als er noch bei ihr gewohnt hatte. Sie erzählte, daß eine Herzogin in den Kensington Gardens angehalten und ihn bewundert habe, daß jetzt ganz ausgezeichnet für ihn gesorgt werde, daß er einen Reitknecht und ein Pony habe, wie schnell er alles auffasse und wie klug er sei und was für ein außerordentlich belesener und reizender Mensch Ehrwürden Lawrence Veal, Georges Lehrer, sei. »Er weiß aber auch alles«, sagte Amelia. »Er gibt die schönsten Gesellschaften. Sie, der Sie selbst so gelehrt sind und so viel gelesen haben und so klug sind und so vieles können – schütteln Sie nicht den Kopf und leugnen es! Er meinte das immer, wenn er von Ihnen sprach –, Sie werden von Mr. Veals Gesellschaften bezaubert sein. Jeden letzten Dienstag im Monat. Er sagte, es gebe keine Stelle im Gericht oder im Senat, die Georgy nicht einst einnehmen könnte. Sehen Sie mal«, damit zog sie den Schubkasten im Klavier auf und holte einen Aufsatz von Georgy hervor. Dieses großartige Produkt geistiger Anstrengung, das immer noch im Besitz von Georges Mutter ist, lautete wie folgt:
Von allen Lastern, die den menschlichen Charakter erniedrigen, ist die Selbstsucht am abscheulichsten und unwürdigsten. Übermäßige Liebe zu sich selbst führt zu den gräßlichsten Verbrechen und bewirkt das größte Unglück, sowohl im Staat als auch in der Familie. Wie ein selbstsüchtiger Mann seine Familie in Armut und oftmals ins Verderben stürzt, so bringt ein selbstsüchtiger König auch das Verderben für sein Volk und stürzt es oft in den Krieg.
Beispiel: Die Selbstsucht des Achilles, wie sie der Dichter Homer beschreibt, brachte tausendfaches Leid über die Griechen μυρί' Αχαιοις αλγε' έθηκεν (Homer, Ilias I, 2). Die Selbstsucht Napoleon Bonapartes verursachte unzählige Kriege in Europa und brachte ihn selbst zum schmählichen Untergang auf einer elenden Insel – der Insel Sankt Helena im Atlantischen Ozean.
Wir sehen aus diesen Beispielen, daß wir nicht nur unsere eigenen Interessen und unseren Ehrgeiz berücksichtigen dürfen, sondern daß wir auch die Interessen anderer berücksichtigen müssen.
George S. Osborne
Athene-Haus, den 24. April 1827
»Stellen Sie sich vor, er hat in dem Alter schon eine so gute Handschrift und zitiert sogar schon Griechisch«, sagte die entzückte Mutter. »Oh, William«, fügte sie hinzu und streckte dem Major die Hand hin, »was der Himmel mir doch für einen Schatz in diesem Knaben gegeben hat! Er ist der Trost meines Lebens – und er ist das Bild des –des Toten!«
Sollte ich ihr zürnen, weil sie ihm treu ist? dachte William. Sollte ich auf meinen Freund im Grabe eifersüchtig sein? Oder sollte ich verletzt sein, weil ein Herz wie das Amelias in Ewigkeit nur einmal lieben kann? Oh, George, George, wie wenig kanntest du doch den Schatz, den du besessen hast. Diese Gedanken schossen William durch den Sinn, als er Amelias Hand hielt, während sie die Augen mit dem Taschentuch bedeckte.
»Lieber Freund«, sagte sie und drückte die Hand, in der ihre lag. »Wie gut, wie freundlich sind Sie immer gegen mich gewesen! Sehen Sie, Papa regt sich. Sie besuchen Georgy morgen, nicht wahr?«
»Morgen nicht«, sagte der arme alte Dobbin. »Ich habe Geschäfte zu erledigen.« Er wollte nicht gern zugeben, daß er noch nicht einmal bei seinen Eltern und seiner teuren Schwester Ann gewesen war – eine Nachlässigkeit, derentwegen wahrscheinlich jeder guterzogene Mensch den Major tadeln wird. Bald darauf nahm er Abschied und hinterließ für Joseph seine Adresse für den Fall, daß dieser bald ankommen würde. So war der erste Tag vorüber, und er hatte sie gesehen.
Als er zu Slaughters zurückkam, war das Brathuhn natürlich kalt geworden, aber er aß es auch so zum Abendbrot. Da er wußte, wie zeitig seine Familie zu Bett ging und daß es unnütz wäre, sie zu so später Stunde aus dem Schlaf zu holen, so erzählt man, daß Major Dobbin an jenem Abend den letzten Teil der Vorstellung im Haymarket Theater zum halben Preis besuchte, wo er sich hoffentlich gut unterhalten hat.