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Wenn Lord Steyne jemandem Gutes tun wollte, so tat er es nicht halb, und seine Güte gegen die Familie Crawley machte seinem Charakterisierungsvermögen alle Ehre. Der Lord dehnte sein Wohlwollen auf den kleinen Rawdon aus. Er machte die Eltern des Knaben aufmerksam, wie nötig es sei, ihn in eine gute Schule zu schicken, und meinte, der Junge befinde sich in einem Alter, wo ihm der Wetteifer, die Anfangsgründe der lateinischen Sprache, Boxübungen und die Gesellschaft von Schulkameraden von großem Nutzen seien. Sein Vater wandte ein, er sei nicht reich genug, den Knaben auf eine solche Schule zu schicken, und seine Mutter meinte, die Briggs sei eine ausgezeichnete Lehrerin für ihn, denn sie habe ihn (und das war auch wirklich der Fall) im Englischen, in den Anfangsgründen des Lateinischen und in allgemeinen Kenntnissen sehr weit gebracht, aber alle diese Einwendungen schmolzen vor der großmütigen Ausdauer von Lord Steyne. Der Marquis gehörte zum Vorstand der berühmten alten Schule, die unter dem Namen Whitefriars bekannt ist. In alten Tagen, als das benachbarte Smithfield noch Turnierplatz war, hatte dort ein Zisterzienserkloster gestanden. Man brachte hartnäckige Ketzer zum Verbrennen hierher. Heinrich VIII., der Verteidiger des Glaubens, beschlagnahmte das Kloster und dessen Besitzungen und ließ einige von den Mönchen, die sich seinen Reformen nicht anpassen konnten, foltern und hängen. Schließlich kaufte ein großer Kaufmann das Haus und das umliegende Land und errichtete dort mit Hilfe anderer reicher Spenden an Geld und Land ein berühmtes Stift für Alte und Kinder. Eine Schule entstand neben der alten, fast klösterlichen Stiftung, die mit ihren mittelalterlichen Kostümen und Gebräuchen noch immer besteht, und alle Zisterzienser beten, daß sie noch lange blühen möge.
Zum Vorstand dieses berühmten Hauses gehörten einige der höchsten Adligen, Prälaten und Würdenträger Englands, und da die Knaben sehr gut untergebracht, ernährt und erzogen werden und später reichliche Stipendien an der Universität und gute Einkünfte in der Kirche bekommen, so weiht man manchen jungen Herrn von zartester Kindheit an dem Dienst in der Theologie und bewirbt sich mit großem Eifer um Stellen in der Schule. Sie war ursprünglich für die Söhne armer verdienter Geistlicher und Laien bestimmt gewesen. Aber viele der adligen Schulvorsteher wählten mit launenhaftem und übertriebenem Wohlwollen alle möglichen Gegenstände für ihre Großherzigkeit. Es war ein ausgezeichnetes Mittel, eine gute Erziehung und ein späteres reichliches Auskommen umsonst zu erhalten, daß einige der Reichsten es nicht verschmähten. Nicht nur die Verwandten der Vornehmen, sondern auch die Vornehmen selbst schickten ihre Söhne dahin, um aus dieser Gelegenheit ihren Vorteil zu ziehen. Hohe Kirchenfürsten schickten ihre eigenen Verwandten oder die Söhne ihrer Geistlichen, während es auf der anderen Seite auch vornehme Adlige gab, die sich nicht zu fein vorkamen, die Kinder treuer Diener unter ihre Fittiche zu nehmen. Wenn ein Knabe also in das Institut eintrat, so geriet er in eine sehr vielschichtige jugendliche Gesellschaft.
Obwohl Rawdon Crawley außer dem Rennkalender kein Buch studiert hatte und seine Erinnerungen an die Wissenschaft hauptsächlich um die Prügel kreisten, die er in seiner Jugendzeit in Eton erhalten hatte, so besaß er doch vor der klassischen Gelehrsamkeit die anständige und ehrliche Achtung eines englischen Gentlemans, und er freute sich bei dem Gedanken, daß sein Sohn dann vielleicht lebenslänglich versorgt war und Gelegenheit hatte, ein Gelehrter zu werden. Zwar war der Knabe sein großer Trost und liebster Gefährte, und tausend kleine Fäden verbanden beide (mit seiner Frau konnte er darüber nicht sprechen, sie hatte bisher nur Gleichgültigkeit gegen ihren Sohn bewiesen), doch fand er sich sogleich zu einer Trennung bereit. Für des kleinen Burschen zukünftiges Wohl gab er seinen einzigen Trost auf. Erst als er den Jungen gehen lassen mußte, wußte er, wie lieb er ihn hatte. Als er Abschied genommen hatte, war er trauriger und niedergeschlagener, als er zugeben mochte – viel trauriger als der Knabe, der sich freute, einen neuen Lebensabschnitt anzufangen und gleichaltrige Gefährten zu finden. Becky lachte ein paarmal laut auf, als der Oberst in seiner ungeschickten und stockenden Weise seinen sentimentalen Kummer über den Weggang des Jungen auszudrücken versuchte. Der arme Kerl fühlte, daß ihm seine reinste Freude und der beste Freund entrissen war. Oft blickte er sehnsüchtig auf das leere Bettchen in seinem Ankleidezimmer, wo das Kind geschlafen hatte. Besonders schmerzlich vermißte er ihn morgens, wenn er lustlos ohne ihn im Park spazierenging. Erst als der kleine Rawdon fort war, merkte er, wie einsam er eigentlich war. Die, die den Kleinen liebten, hatte er auch gern, und stundenlang konnte er bei seiner gutherzigen Schwägerin Lady Jane sitzen und mit ihr über die Tugenden, das gute Aussehen und hundert andere hervorragende Eigenschaften des Kindes plaudern.
Die Tante liebte, wie gesagt, den kleinen Rawdon sehr, und auch ihr kleines Mädchen vergoß reichliche Tränen, als die Abschiedsstunde schlug. Rawdon der Ältere war Mutter und Tochter für ihre Liebe dankbar. Seine besten und ehrlichsten Gefühle kamen zum Vorschein, wenn er, von ihrem Mitgefühl ermuntert, diesen offenherzigen Ergüssen seiner Vaterliebe freien Lauf ließ. Er erwarb sich mit diesen Gefühlen nicht nur Lady Janes Wohlwollen, sondern auch ihre aufrichtige Achtung, während er sie seiner Frau gegenüber verbergen mußte. Die beiden Schwägerinnen mieden sich, wo sie nur konnten. Becky lachte höhnisch über Lady Janes weiches Gemüt, und deren liebevolle sanfte Natur wiederum konnte nicht umhin, sich gegen die Gefühllosigkeit ihrer Schwägerin zu empören.
Das alles entfremdete Rawdon seiner Frau mehr, als er wußte oder sich eingestand. Sie dagegen kümmerte sich um diese Entfremdung nicht. Ja sie vermißte weder ihn noch sonst jemanden. Sie betrachtete ihn als ihren Boten und demütigen Sklaven. Er mochte noch so bedrückt oder mürrisch sein – sie bemerkte entweder nichts oder lächelte nur höhnisch. Sie dachte nur an ihre Stellung, ihre Vergnügungen und ihr Fortkommen in der Gesellschaft. Ganz sicher hätte sie einen bedeutenden Platz darin einnehmen sollen.
Nicht sie, sondern die gute Briggs hatte dem Knaben die Sachen gepackt, die er zur Schule mitnehmen sollte. Molly, das Hausmädchen, schluchzte im Hausflur, als er fortging – Molly, freundlich und ergeben, obwohl man ihr seit langem den Lohn schuldete. Rawdon wollte den Jungen zur Schule bringen, aber Mrs. Becky konnte ihm den Wagen nicht zur Verfügung stellen. Mit den Pferden in die Stadt fahren – das war ja unerhört! Soll er doch eine Droschke kommen lassen. Sie bot dem Jungen keinen Kuß, als er ging, und das Kind machte auch keine Anstalten, sie zu umarmen. Der alten Briggs gab er einen Kuß, obwohl er ihr gegenüber im allgemeinen mit Liebkosungen zurückhaltend war, und tröstete sie mit dem Hinweis, daß er an den Sonnabenden immer nach Hause kommen würde und sie ihn dann sehen könnte. Als die Droschke nach der Stadt rollte, ratterte Beckys Wagen zum Park. Sie lachte und scherzte mit einem Dutzend junger Stutzer an der Serpentine, als Vater und Sohn durch die alten Pforten die Schule betraten. Rawdon ließ das Kind dort zurück und fuhr mit einem traurigeren, reineren Gefühl im Herzen ab, als es der arme gebeugte Bursche je gekannt hatte, seit er selbst das Kinderzimmer verlassen hatte.
Trübselig wanderte er den ganzen Weg zurück und aß mit der Briggs allein Abendbrot. Er war sehr freundlich zu ihr und dankbar für die Liebe und Obhut, die der Knabe bei ihr gefunden hatte. Ihn plagte das Gewissen, daß er von der Briggs Geld geborgt und geholfen hatte, sie zu betrügen. Sie sprachen lange über den kleinen Rawdon, denn Becky kam nur nach Hause, um sich umzuziehen und zum Diner zu fahren. Dann ging er voller Unruhe zu Lady Jane zum Tee, um ihr zu erzählen, was geschehen war und daß sich der kleine Rawdon sehr tapfer gehalten habe, und er werde einen langen Umhang und kleine Kniehosen tragen, und der junge Blackball, der Sohn Jack Blackballs vom alten Regiment, habe sich seiner angenommen und versprochen, freundlich zu ihm zu sein.
Im Laufe einer Woche hatte der junge Blackball Rawdon zu seinem Fuchs, Schuhputzer und Frühstücksbrotröster ernannt, ihn in die Geheimnisse der lateinischen Grammatik eingeweiht und drei- oder viermal geprügelt, wenn auch nicht sehr. Das gutmütige, ehrliche Gesicht des kleinen Burschen gewann ihm die Herzen aller. Er erhielt nur so viel Schläge, wie zweifellos gut für ihn waren, und galten das Schuhputzen, Brotrösten und die Dienste als Fuchs nicht im allgemeinen als notwendige Erfordernisse der Erziehung eines englischen Gentlemans?
Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, uns mit der zweiten Generation und Master Rawdons Schulerlebnissen zu befassen, denn dann würde unsere Erzählung unendlich lang werden. Kurze Zeit darauf besuchte der Oberst seinen Sohn. Er fand ihn gesund und munter vor, und der kleine Bursche lachte ihn in seinem kleinen schwarzen Umhang und den Kniehosen glücklich an.
Klugerweise schenkte der Vater dem jungen Blackball, dem Herrn seines Sohnes, einen Sovereign und sicherte damit das Wohlwollen dieses Gentlemans gegen seinen Fuchs. Da er der Schützling des großen Lord Steyne, der Neffe eines Parlamentsmitgliedes und der Sohn eines mit dem Bath-Orden ausgezeichneten Obersten war, dessen Name in der »Morning Post« erwähnt wurde, zusammen mit anderen, die bei den vornehmsten Gesellschaften anwesend waren, zeigte sich die Schulleitung dem Knaben gegenüber nicht abgeneigt. Er verfügte über ein reichliches Taschengeld, das er dazu verwendete, seinen Kameraden Himbeertörtchen zu spendieren, und an den Sonnabenden durfte er oft heim zu seinem Vater, der aus diesem Tag dann stets ein Fest machte. Wenn Rawdon Zeit hatte, nahm er ihn mit ins Theater, oder er schickte ihn mit dem Diener hin, und sonntags ging er mit der Briggs, Lady Jane und ihren Kindern zur Kirche. Rawdon bewunderte seine Schulgeschichten, seine Prügeleien und seine Dienste als Fuchs. Nach kurzer Zeit kannte er die Namen aller Lehrer und wichtigsten Schüler ebenso gut wie Rawdon selbst. Er lud seinen Schulfreund ein und verdarb den beiden Kindern nach dem Theater den Magen mit Süßigkeiten, Austern und Porter. Er versuchte ein weises Gesicht zu machen, als ihm der kleine Rawdon zeigte, wo in der lateinischen Grammatik er gerade »war«. »Bleib dabei, mein Junge«, sagte er sehr ernsthaft zu ihm. »Es geht nichts über eine gute klassische Bildung, nichts!«
Beckys Verachtung gegen ihren Mann wuchs täglich. »Tu, was du willst – iß, wo es dir gefällt – trink Ingwerbier und amüsier dich bei Astley oder sing Psalmen mit Lady Jane, nur verlang nicht von mir, daß ich mich mit dem Jungen beschäftigen soll. Ich muß deine Interessen vertreten, da du selbst das ja nicht kannst. Ich möchte wissen, wo du jetzt wärst und welche gesellschaftliche Stellung du jetzt einnehmen würdest, wenn ich mich nicht um dich gekümmert hätte!« Tatsächlich fragte in den Gesellschaften, die Becky besuchte, niemand nach dem armen alten Rawdon. Oft wurde sie sogar ohne ihn eingeladen. Sie sprach über die Vornehmen, als ob Mayfair ihr allein gehörte, und wenn Hoftrauer angesetzt war, ging sie in Schwarz.
Nachdem der kleine Rawdon versorgt war, dachte Lord Steyne, der so väterlichen Anteil an den Angelegenheiten dieser liebenswürdigen, aber armen Familie nahm, daß sich ihre Ausgaben vorteilhaft vermindern würden, wenn Miss Briggs ginge, und Becky sei doch wohl klug genug, ihren Haushalt selbst zu führen. In einem früheren Kapitel haben wir berichtet, daß dieser wohltätige Edelmann seinem Schützling Geld gegeben hatte, damit sie ihre kleine Schuld an Miss Briggs bezahlen könnte. Da die alte Jungfer jedoch bei ihren Freunden blieb, gewann der Marquis die schmerzliche Überzeugung, daß Mrs. Crawley das Geld des großmütigen Beschützers zu einem anderen Zweck als dem angegebenen verbraucht hatte. Lord Steyne war jedoch nicht so taktlos, Mrs. Rawdon seinen Verdacht auf den Kopf zuzusagen. Ihre Gefühle hätten durch eine Auseinandersetzung über das Geld verletzt werden können, und außerdem hätte sie tausend andere schmerzliche Gründe haben können, das edelmütige Darlehen Seiner Lordschaft anderweitig zu verwenden. Er beschloß jedoch, den wahren Sachverhalt herauszubekommen, und holte die nötigen Erkundigungen höchst vorsichtig und taktvoll ein.
Zunächst benutzte er die erste beste Gelegenheit, Miss Briggs auszufragen. Das war kein schwieriges Unterfangen. Schon ein kleiner Anstoß genügte, daß die ehrliche Frau geschwätzig ihr Herz ausschüttete. Eines Tages war Mrs. Rawdon ausgefahren, wie Mr. Fiche, der vertraute Diener des Lords, in den Pferdeställen erfuhr, wo Mr. und Mrs. Crawley ihre Equipage hielten oder vielmehr wo der Pferdeverleiher eine Equipage für Mr. und Mrs. Crawley hielt. Der Marquis sprach in der Curzon Street vor, bat die Briggs um eine Tasse Kaffee, erzählte ihr, daß er gute Nachrichten von dem kleinen Jungen in der Schule habe, und hatte binnen fünf Minuten erfahren, daß Mrs. Rawdon ihr nichts gegeben hatte als ein schwarzes Seidenkleid, wofür ihr Miss Briggs ungeheuer dankbar war.
Er lachte innerlich über diese harmlose Geschichte. Unsere liebe Freundin Rebekka hatte ihm nämlich ausführlich dargestellt, wie entzückt: die Briggs beim Empfang ihres Geldes – elfhundertundfünfundzwanzig Pfund – gewesen sei und wie sie es angelegt habe. Dabei hatte sie ihm auch erzählt, wie schmerzlich es für sie gewesen sei, eine so schöne Summe auszahlen zu müssen. Vielleicht hatte die liebe Frau auch im Innern gedacht: Wer weiß, ob er mir nicht noch etwas gibt. Der Marquis hatte jedoch der kleinen Ränkeschmiedin kein derartiges Angebot gemacht. Höchstwahrscheinlich meinte er, er sei bereits großmütig genug gewesen.
Neugierig fragte er dann Miss Briggs über ihre Privatangelegenheiten aus, und sie erzählte dem Lord freimütig, in welcher Lage sie war – daß Miss Crawley ihr eine kleine Erbschaft hinterlassen habe, daß ihre Verwandten einen Teil davon erhalten hätten, daß Oberst Crawley einen anderen Teil zu besten Bedingungen für sie angelegt habe und daß Mr. und Mrs. Crawley sich freundlicherweise bei Sir Pitt für sie verwendet hätten und dieser, wenn er Zeit habe, den Rest höchst vorteilhaft für sie anlegen werde. Lord Steyne fragte, wieviel der Oberst bereits für sie angelegt habe, und Miss Briggs erzählte sofort aufrichtig, daß es sich um etwas mehr als sechshundert Pfund handele.
Sobald sie jedoch ihren Bericht beendet hatte, bereute die geschwätzige Briggs ihre Offenherzigkeit und flehte den Marquis an, Mr. Crawley von ihrem Geständnis nichts zu erzählen. Der Oberst sei so freundlich, und er könnte beleidigt sein und das Geld zurückzahlen, und es sei ihr unmöglich, anderswo so hohe Zinsen dafür zu erhalten. Lord Steyne versprach ihr lachend, von ihrer Unterhaltung nichts verraten zu wollen, und als er sich von der Briggs getrennt hatte, lachte er noch mehr.
So ein ausgewachsener kleiner Teufel, dachte er. So eine großartige Schauspielerin und Regisseurin! Mit ihren Schmeicheleien neulich hätte sie mir fast noch einmal Geld aus der Tasche gezogen. Sie schlägt alle Frauen, die mir im Laufe meines gut genutzten Lebens je begegneten. Die sind alle kleine Kinder gegen sie. Ich selbst bin in ihren Händen ein Grünschnabel und ein Narr – ein alter Narr. Im Lügen ist sie unübertrefflich. Die Bewunderung des Lords für Becky stieg nach diesem Beweis ihrer Schlauheit ins unermeßliche. Das Geld zu bekommen war nichts – aber das Zweifache dessen, was sie brauchte, zu bekommen und niemanden zu bezahlen – das war ein toller Streich. Und Crawley, dachte der Marquis, Crawley ist nicht so dumm, wie er aussieht. Er hat die Sache von seinem Standpunkt aus schlau genug angefangen. Seinem Aussehen und Benehmen nach hätte nie jemand von ihm geglaubt, daß er von dieser Geldgeschichte etwas ahnte; dabei hat er sie doch wohl erst dazu gebracht und das Geld dann ausgegeben. Diese Ansicht des Marquis war, wie wir wissen, unrichtig; sie hatte aber seine Haltung gegenüber Oberst Crawley beeinflußt, und er behandelte ihn jetzt nicht einmal mehr mit dem Schein von Achtung, den er diesem Herrn früher erwiesen hatte. Mrs. Crawleys Gönner kam es nie in den Sinn, daß die kleine Dame ein Privatvermögen anhäufen könnte. Er beurteilte – wenn die Wahrheit gesagt werden muß – Oberst Crawley nach der Erfahrung, die er im Laufe seines langen, gut genutzten Lebens bei anderen Ehemännern gemacht hatte, und dieses Leben hatte ihn mit den menschlichen Schwächen bekannt gemacht. Der Marquis hatte in seinem Leben so viele Männer gekauft, daß wir ihm gewiß verzeihen müssen, wenn er glaubte, den Preis auch dieses einen gefunden zu haben.
Bei der nächsten Gelegenheit, als er Becky allein traf, hielt er ihr die Sache vor und machte ihr gutgelaunte Komplimente darüber, wie schlau sie es angestellt hatte, mehr herauszuschlagen, als sie brauchte. Becky war nicht sehr bestürzt. Das liebe Geschöpfchen blieb im allgemeinen bei der Wahrheit, aber wenn es nötig wurde, konnte sie ganz geläufig lügen. So hatte sie sofort eine andere nette, plausible, ausführliche Geschichte bereit, die sie ihrem Gönner auftischte. Ihre frühere Erklärung sei eine Lüge gewesen – eine gottlose Lüge; sie gebe es zu. Wer hätte sie aber dazu veranlaßt? »Ach, Mylord«, sagte sie, »Sie wissen nicht, was ich zu leiden habe und stillschweigend ertrage. Sie sehen mich lustig und glücklich – Sie wissen nicht, was ich erdulden muß, wenn kein Beschützer in der Nähe ist. Mein Mann war es, der mich durch Drohungen und die entsetzlichste Behandlung zwang, Sie um die Summe zu bitten und eine Lüge zu erzählen. Da er voraussah, daß wir nach der Verwendung des Geldes gefragt würden, zwang er mich, so darüber Rechenschaft zu geben, wie ich es tat. Er nahm das Geld, und er erzählte mir, er habe es Miss Briggs zurückgezahlt. Ich wollte nicht an seinen Worten zweifeln und wagte auch nicht, es zu tun. Verzeihen Sie einem Unglücklichen das Unrecht, das zu begehen er gezwungen ist, und haben Sie Mitleid mit einer armen, geplagten Frau.« Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus. Nie hat verfolgte Tugend bezaubernder und unglücklicher ausgesehen!
Als sie in Mrs. Crawleys Wagen kreuz und quer durch den Regent's Park fuhren, hatten sie eine lange Unterredung, die nicht im einzelnen wiedergegeben werden muß. Ihr Ergebnis aber war, daß Becky, nach Hause gekommen, lächelnden Gesichts auf ihre liebe Briggs zueilte und ihr verkündete, sie habe vortreffliche Nachrichten für sie. Lord Steyne habe sich sehr edel und großmütig gezeigt. Er denke stets darüber nach, wie und wann er Gutes tun könne. Jetzt, da der kleine Rawdon zur Schule gehe, habe sie eine liebe Gefährtin und Freundin nicht mehr so nötig. Sie sei sehr, sehr bekümmert, daß sie sich von der Briggs trennen müsse. Ihre Mittel erforderten, daß sie sich sehr einschränken müßten, aber ihr Kummer würde durch den Gedanken gemildert, daß ihre liebe Briggs bei ihrem großmütigen Gönner weit besser versorgt sei als in ihrem bescheidenen Heim. Mrs. Pilkington, die Haushälterin von Gauntly Hall, sei sehr alt, schwach und rheumatisch geworden. Sie sei der Aufgabe, dieses riesige Haus zu leiten, nicht mehr gewachsen und müsse sich nun nach einer Nachfolgerin umsehen. Es sei eine glänzende Stellung. Die Familie komme in zwei Jahren kaum einmal nach Gauntly Hall; die übrige Zeit hindurch sei die Haushälterin die Herrin des herrlichen Schlosses. Sie habe täglich vier Gerichte auf dem Tisch, sie werde von der Geistlichkeit und den achtbarsten Leuten der Grafschaft besucht – sei also in Wirklichkeit die Herrin von Gauntly Hall. Die beiden letzten Haushälterinnen vor Mrs. Pilkington hätten Pfarrer von Gauntly geheiratet, nur Mrs. Pilkington habe das nicht gekonnt, da sie die Tante des jetzigen Pfarrers sei. Sie solle die Stelle noch nicht gleich antreten, aber sie könne ja Mrs. Pilkington besuchen und sehen, ob sie Lust habe, ihre Nachfolgerin zu werden.
Worte sind nicht imstande, die überschwengliche Dankbarkeit der Briggs zu beschreiben. Sie bedang sich nur aus, daß man dem kleinen Rawdon gestatten sollte, sie in Gauntly Hall zu besuchen. Becky versprach es – versprach alles. Als ihr Mann nach Hause kam, eilte sie ihm entgegen und teilte ihm die freudige Nachricht mit. Rawdon war froh, verteufelt froh. Hinsichtlich des Geldes der armen Briggs war ihm eine Last vom Gewissen genommen. Sie war nun jedenfalls versorgt, aber – aber sein Herz war unruhig. Irgendwie war ihm die Sache nicht geheuer. Er erzählte dem kleinen Southdown, was Lord Steyne getan hatte. Darauf sah ihn dieser mit einer Miene an, die den Oberst in Erstaunen versetzte.
Er erzählte auch Lady Jane von diesem zweiten Beweis der Güte Lord Steynes. Auch sie blickte dabei so seltsam und unruhig wie Sir Pitt. »Sie ist zu klug und – und lustig, um ohne Begleitung von Gesellschaft zu Gesellschaft gehen zu dürfen«, sagten beide. »Du mußt immer bei ihr sein, Rawdon, wohin sie auch geht, und du mußt jemanden für sie finden – vielleicht eines von den Mädchen von Queen's Crawley, obwohl das etwas leichtfertige Hüterinnen für sie wären.«
Becky mußte jemanden haben, aber es war auch klar, daß die ehrliche Briggs nicht um ihre Lebensstellung gebracht werden durfte. So schickte man sie und ihre Koffer auf die Reise, und nun waren schon zwei von Rawdons Vorposten in der Hand des Feindes.
Sir Pitt besuchte seine Schwägerin und machte ihr Vorstellungen wegen der Entlassung der Briggs und anderer heikler Familienangelegenheiten. Umsonst deutete sie an, wie notwendig Lord Steynes Protektion für ihren armen Mann sei und wie grausam es von ihnen sein würde, die Briggs um die angebotene Stelle zu bringen. Schmeicheleien, Lächeln, Tränen – nichts war imstande, Sir Pitt zu beruhigen, und er hatte mit seiner einst so bewunderten Becky eine Auseinandersetzung, die einem Streit sehr nahekam. Er sprach von der Familienehre und dem unbefleckten Ruf der Crawleys, ereiferte sich darüber, daß sie diese jungen Franzosen – ungezügelte junge Lebemänner – und sogar Lord Steyne selbst empfing. Sein Wagen stehe stets vor ihrer Tür, er verbringe täglich Stunden in ihrer Gesellschaft, und seine beständigen Besuche bei ihr veranlaßten die Welt, über sie zu reden. Als Oberhaupt der Familie flehte er sie an, vorsichtiger zu sein. Die Gesellschaft spreche bereits geringschätzig von ihr. Lord Steyne sei zwar ein Edelmann von höchstem Stande und größten Talenten, aber doch ein Mensch, dessen Aufmerksamkeit jede Frau kompromittiere – er bat seine Schwägerin, flehte sie an, ja befahl ihr, im Verkehr mit dem Marquis auf der Hut zu sein.
Becky versprach alles, was Pitt verlangte, aber Lord Steyne kam ebensooft zu ihr wie vorher, und Sir Pitts Zorn wuchs. Ob Lady Jane wohl erzürnt war, oder freute sie sich, daß ihr Mann endlich an seinem Liebling Rebekka etwas auszusetzen hatte? Da Lord Steyne seine Besuche fortsetzte, hörten die seinigen auf, und seine Frau schlug vor, jeden weiteren Verkehr mit dem Marquis abzubrechen und die Einladung zu dem Scharadenabend, die ihr die Marquise geschickt hatte, auszuschlagen; Sir Pitt hielt es jedoch für notwendig, sie anzunehmen, da Seine Königliche Hoheit zugegen sein würde.
Obwohl Sir Pitt zu der fraglichen Gesellschaft erschien, verließ er sie doch sehr bald wieder, und auch seine Frau war froh, als sie gehen konnte. Becky sprach wenig mit ihm und nahm kaum Notiz von ihrer Schwägerin. Pitt Crawley erklärte, ihr Benehmen sei ungeheuerlich und unpassend, und er tadelte in starken Ausdrücken das Theaterspiel und Sichverkleiden als für eine englische Frau unschicklich. Nachdem die Scharaden vorüber waren, machte er seinem Bruder Rawdon ernste Vorhaltungen darüber, daß er selbst aufgetreten sei und seiner Frau erlaubt habe, an so unziemlichen Schaustellungen teilzunehmen.
Rawdon versprach, derartige Vergnügungen nicht wieder zu besuchen. Wahrscheinlich infolge der Andeutungen seines älteren Bruders und seiner Schwägerin war er bereits ein wachsamer und beispielhafter Ehemann geworden. Er gab Klub und Billardspiel auf. Er verließ das Haus nicht allein. Er nahm Becky bei seinen Ausfahrten mit und begleitete sie zu allen Gesellschaften. Immer, wenn Lord Steyne kam, traf er mit Sicherheit den Oberst an, und wenn Becky ohne ihren Mann ausgehen wollte oder Einladungen für sich allein empfing, so verlangte er entschieden, sie solle absagen, und zwar in einer Art, die Gehorsam erzwang. Um Becky Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so war sie von der Galanterie ihres Mannes bezaubert. Wenn er mürrisch war – sie war es nie. Mochten Freunde anwesend sein oder nicht – sie hatte stets ein freundliches Lächeln für ihn und war auf sein Vergnügen und seine Bequemlichkeit bedacht. Es war noch einmal wie in den ersten Tagen ihrer Ehe: dieselbe gute Laune, Zuvorkommenheit, Fröhlichkeit, dieselbe arglose Liebe und das Vertrauen. »Wieviel angenehmer ist es doch, wenn du im Wagen neben mir sitzt, als wenn die einfältige alte Briggs mitfährt. Wir wollen immer so leben, lieber Rawdon. Wie schön wäre das doch und wie glücklich wären wir, hätten wir nur das Geld dazu.« Nach dem Essen schlief er immer in seinem Sessel ein; er sah dann nicht das Gesicht vor ihm – müde, abgespannt und furchtbar. Es hellte sich auf in einem frischen, offenen Lächeln, sobald er erwachte. Sie küßte ihn fröhlich. Er wunderte sich, daß er jemals Verdacht gehegt hatte. Nein, er hatte ja nie Verdacht gehegt. Alle unbestimmten Zweifel und düsteren Befürchtungen, die sich in seinem Kopf gesammelt hatten, waren unbegründete Eifersüchteleien gewesen. Sie hatte ihn gern und hatte ihn immer gern gehabt. Was konnte sie dafür, daß sie in der Gesellschaft so glänzte? Sie war eben dafür geboren. Gab es je eine Frau, die wie sie plaudern oder singen konnte? Wenn sie doch nur den Jungen ein bißchen gern hätte, dachte Rawdon; aber Mutter und Sohn waren wohl nie zusammenzubringen.
Während Rawdon noch von diesen Zweifeln und Unruhen gequält wurde, ereignete sich der Vorfall, den wir im letzten Kapitel erwähnt haben, und der unglückliche Oberst sah sich als Gefangener fern von seinem Haus.