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44. Kapitel

Ein weitschweifiges Kapitel zwischen London und Hampshire

Das Familienhaus unserer alten Freunde, der Crawleys in der Great Gaunt Street, trug noch immer an der Vorderseite das Leichenwappen, das dort zum Zeichen der Trauer über Sir Pitt Crawleys Ableben angebracht worden war; dieses heraldische Sinnbild war jedoch schon in sich selbst ein äußerst prächtiger, strahlender Einrichtungsgegenstand, und das ganze übrige Haus wurde bald eleganter, als es je unter der Regierung des seligen Baronets gewesen war. Der schwarze Bewurf wurde von den Ziegeln entfernt, und sie boten nun einen munteren Anblick, rot mit weißen Streifen; die alten Türklopfer in Gestalt von Bronzelöwen wurden schön vergoldet, der Zaun gestrichen, und das trübselige Haus in der Great Gaunt Street wurde das hübscheste in der ganzen Gegend, ehe noch die gelben Blätter in Hampshire auf den Bäumen der Allee zu Queen's Crawley, unter denen Sir Pitt Crawley zum letztenmal dahinfuhr, von grünen ersetzt wurden.

Eine kleine Frau mit passendem Wagen wurde ständig in der Nähe dieses Hauses gesehen. Auch eine ältliche Jungfer in Begleitung eines kleinen Knaben konnte man täglich dort bemerken. Es war Miss Briggs mit dem kleinen Rawdon, deren Aufgabe darin bestand, die innere Erneuerung von Sir Pitts Haus zu überwachen, die weibliche Schar zu beaufsichtigen, die mit den Gardinen beschäftigt war, die Schubladen und Schränke zu durchwühlen und zu durchstöbern, die vollgestopft waren mit schmutzigen Reliquien und dem aufgehäuften Flitterkram von zwei Generationen Lady Crawleys, und Verzeichnisse vom Porzellan, dem Glas und anderen Sachen in den Wandschränken und Vorratskammern anzufertigen.

Mrs. Rawdon Crawley hatte den Oberbefehl über all diese Tätigkeit mit Generalvollmacht von Sir Pitt, Möbel zu verkaufen, zu vertauschen, zu beschlagnahmen oder zu kaufen. Sie fand kein geringes Vergnügen an dieser Beschäftigung, bei der sie ihrem Geschmack und ihrer Begabung freien Lauf lassen konnte. Die Renovierung des Hauses war beschlossen worden, als Sir Pitt im November in die Stadt kam, um seine Rechtsanwälte aufzusuchen. Bei dieser Gelegenheit hatte er fast eine Woche unter dem Dach seines liebevollen Bruders und seiner Schwägerin in der Curzon Street gewohnt.

Er war zuerst im Hotel abgestiegen; sobald aber Becky von der Ankunft des Baronets erfuhr, war sie allein hingefahren, um ihn zu begrüßen, und kehrte nach einer Stunde mit Sir Pitt neben sich im Wagen zur Curzon Street zurück. Es war oft unmöglich, sich der Gastfreundschaft dieses unschuldigen, lieben Geschöpfes zu entziehen, so freundlich bestand sie darauf und so offen und liebenswürdig bot sie sie an. Becky ergriff Pitts Hand begeistert und dankbar, als er zusagte zu kommen. »Ich danke Ihnen«, sagte sie und sah dem Baronet tief in die Augen, der darauf heftig errötete. »Wie das Rawdon glücklich machen wird.« Sie eilte in Pitts Schlafzimmer hinauf und führte die Diener, die seine Koffer brachten, hinein. Dann kam sie lachend herein, mit einer Kohlenschaufel aus ihrem eigenen Zimmer.

In Pitts Zimmer brannte bereits ein munteres Feuer (es war, nebenbei gesagt, Miss Briggs' Zimmer, die oben bei den Mädchen schlafen mußte). »Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte Rebekka mit freudestrahlendem Blick. Sie war in der Tat wirklich froh, ihn als Gast bei sich zu haben.

Solange Pitt bei ihnen wohnte, beorderte Becky Rawdon ein paarmal, dienstlich auswärts zu speisen, während der Baronet den glücklichen Abend allein mit ihr und der Briggs verbrachte. Sie ging in die Küche hinunter und bereitete ihm eigenhändig kleine Delikatessen. »Ist das Ragout nicht vortrefflich?« fragte sie. »Ich habe es für Sie zubereitet. Ich kann Ihnen auch noch bessere Gerichte kochen, und das will ich, wenn Sie mich das nächste Mal besuchen.«

»Alles, was Sie anfassen, gelingt Ihnen«, sagte der Baronet galant. »Das Ragout ist in der Tat ausgezeichnet.«

»Wissen Sie, als Frau eines armen Mannes muß man sich nützlich machen«, entgegnete Rebekka munter, worauf ihr Schwager beteuerte, daß sie würdig sei, die Gemahlin eines Kaisers zu sein, und daß eine der bezauberndsten Eigenschaften der Frau jedenfalls Geschick bei Erledigung der häuslichen Pflichten sei. Dabei dachte Sir Pitt mit etwas wie Ärger an Lady Jane daheim und an eine bestimmte Pastete, die sie unbedingt selbst hatte zubereiten und ihm zum Mittagessen servieren wollen – eine abscheuliche Pastete.

Außer dem Ragout, das aus Lord Steynes Fasanen von seinem Landsitz Stillbrook zubereitet worden war, kredenzte Becky ihrem Schwager eine Flasche Weißwein, die Rawdon aus Frankreich mitgebracht und für nichts bekommen hatte, wie die kleine Schwindlerin erzählte, während das Getränk, das auf den bleichen Wangen des Baronets ein Feuer entfachte und eine Glut in seinem schwachen Körper, in Wirklichkeit ein guter Weißwein aus dem berühmten Keller des Marquis von Steyne war.

Nachdem er die Flasche petit vin blanc ausgetrunken hatte, reichte sie ihm die Hand und führte ihn hinauf in den Salon. Dort machte sie es ihm auf dem Sofa am Kamin bequem und setzte sich zu ihm und lauschte mit zärtlichem Interesse seinem Gespräch. Dabei säumte sie ein Hemd für ihren lieben kleinen Knaben. Immer wenn Mrs. Rawdon besonders demütig und tugendhaft erscheinen wollte, dann kam dieses Hemdchen aus ihrem Handarbeitskasten hervor. Es war für Rawdon jedoch, lange bevor es fertig war, zu klein geworden.

Rebekka hörte Pitt also zu, sprach mit ihm, sang ihm vor, schmeichelte ihm und lockte ihn, so daß er täglich lieber von seinen Anwälten in Gray's Inn zu dem lodernden Feuer in der Curzon Street zurückkehrte, eine Freude, an der auch die Männer des Gesetzes teilhatten, denn Pitts bombastische Reden waren schier endlos. Als er abreiste, empfand er direkt Abschiedsschmerz. Wie hübsch sie aussah, als sie ihm von ihrem Wagen aus Kußhändchen zuwarf und ihr Taschentuch schwenkte, als er seinen Platz in der Postkutsche eingenommen hatte! Einmal führte sie das Taschentuch sogar an die Augen. Als die Kutsche abfuhr, zog er die Seehundsmütze über das Gesicht, sank zurück und dachte darüber nach, wie sie ihn achtete und daß er es verdiente und daß Rawdon ein einfältiger, langweiliger Bursche sei, der seine Frau nicht halb zu schätzen wisse, und wie stumm und dumm seine eigene Frau sei, verglichen mit der glänzenden, kleinen Becky. Becky hatte vielleicht selbst all diese Dinge angedeutet, aber so feinfühlig und zart, daß man kaum wußte, wann oder wo. Ehe sie sich trennten, war noch beschlossen worden, daß das Haus in London für die nächste Saison neu instand gesetzt werden sollte und daß sich die Familien der Brüder zu Weihnachten wieder auf dem Lande treffen sollten.

»Ich wünschte, du hättest ihm ein bißchen Geld aus der Tasche gezogen«, sagte Rawdon verstimmt zu seiner Frau, als der Baronet fort war. »Ich würde gern dem armen Raggles etwas geben, zum Henker, wenn es nicht wahr ist. Weißt du, es ist nicht recht, wenn wir dem Alten sein ganzes Geld vorenthalten; es würde vielleicht unangenehm werden, und er könnte sein Haus jemand anders vermieten.«

»Sag ihm«, entgegnete Becky, »daß alle bezahlt werden, sobald Sir Pitts Angelegenheiten geordnet sind, und gib ihm eine Kleinigkeit als Anzahlung. Hier ist ein Scheck, den uns Sir Pitt für den Jungen hiergelassen hat.« Mit diesen Worten nahm sie aus ihrem Beutel ein Papier, das ihr Schwager ihr für den kleinen Sohn und Erben des jüngeren Zweiges der Familie gegeben hatte, und reichte es ihrem Mann.

In Wirklichkeit hatte sie selbst schon sehr vorsichtig das Gelände sondiert, auf das sie sich nach dem Wunsch ihres Mannes wagen sollte, es war ihr aber zu unsicher erschienen. Bei der leisesten Andeutung von Geldschwierigkeiten war Sir Pitt Crawley erschreckt hochgefahren und hatte eine lange Rede gehalten, in der er erklärte, wie bedrängt seine eigene Geldlage sei, daß die Pächter nicht zahlen wollten, daß ihn die Angelegenheiten seines Vaters und die Dinge, die mit dem Ableben des alten Herrn zusammenhingen, sehr viel gekostet hätten und daß er Hypotheken abzahlen wolle und daß die Konten bei seinen Bankiers und Agenten schon überzogen seien. Pitt Crawley endete damit, daß er einen Kompromiß mit seiner Schwägerin schloß und ihr eine sehr geringe Summe für ihren kleinen Jungen gab.

Pitt wußte, wie arm sein Bruder sein mußte. Es konnte der Beobachtung eines so kühlen und erfahrenen alten Diplomaten nicht entgehen, daß Rawdons Familie nichts besaß, wovon sie leben konnte, und daß man Equipagen und Häuser nicht umsonst halten konnte. Er wußte recht gut, daß er das Geld bekommen oder, besser, sich verschafft hatte, das aller Voraussicht nach seinem jüngeren Bruder hätte zufallen sollen, und er empfand ganz sicher geheime Gewissensbisse, die ihn aufforderten, einen Akt der Gerechtigkeit oder, sagen wir, des Ausgleichs gegenüber seinen enttäuschten Verwandten zu vollziehen. Als gerechter, anständiger Mann, nicht ohne Denkvermögen, der seine Gebete sagte und seinen Katechismus kannte und äußerlich seine Pflicht im Leben tat, mußte er fühlen, daß er seinem Bruder etwas zukommen lassen müsse und daß er, moralisch gesehen, Rawdons Schuldner sei.

In den Spalten der »Times« kann man hier und da seltsame Anzeigen lesen, in denen der Schatzkanzler den Empfang von fünfzig Pfund von A. B. oder zehn Pfund von W. T. bestätigt, als Abzahlung für Steuern, die der erwähnte A. B. oder W. T. schuldet. Das in der öffentlichen Presse zu tun, haben die reuigen Schuldner den Schatzkanzler aufgefordert. Aber sowohl der Kanzler als auch der Leser sind sich zweifellos im klaren, daß der ebenerwähnte A. B. und W. T. nur einen sehr kleinen Teil ihrer wahren Schuld bezahlen und daß der, der eine Zwanzigpfundnote einschickt, höchstwahrscheinlich Hunderte und sogar Tausende zu zahlen hätte. Dies sind wenigstens meine Gefühle, wenn ich A. B.s oder W. T.s unzulängliche Bußhandlung erblicke. Ich zweifle auch nicht daran, daß Pitt Crawleys Zerknirschung oder, wenn man will, Güte gegenüber seinem jüngeren Bruder, durch den er so viel gewonnen hatte, nur eine sehr geringe Dividende von dem Kapital war, das er Rawdon schuldete. Es gibt viele, die nicht einmal gewillt sind, soviel zu zahlen. Sich vom Gelde zu trennen ist ein Opfer, das über die Kräfte der meisten ordnungsliebenden Menschen hinausgeht. Es gibt kaum einen, der es sich nicht hoch anrechnet, wenn er seinem Nächsten fünf Pfund schenkt. Der Verschwender gibt nicht aus wohlwollender Freude am Geben, sondern aus einem trägen Vergnügen, das er am Ausgeben findet. Er würde sich keinen Genuß versagen, weder seine Opernloge noch sein Pferd, noch seine Diener und nicht einmal das Vergnügen, dem Lazarus die fünf Pfund zu geben. Der Sparsame, welcher gut, weise, gerecht ist und keinem Menschen einen Penny schuldet, wendet sich von einem Bettler ab, feilscht mit dem Droschkenkutscher oder versagt einem armen Verwandten seine Hilfe. Ich weiß nicht, welcher von den beiden egoistischer ist. Das Geld hat in ihren Augen nur verschiedenen Wert.

Mit einem Wort: Pitt Crawley dachte, daß er etwas für seinen Bruder tun wolle, und meinte dann, er wolle ein andermal daran denken.

Becky war keine Frau, die zuviel von der Großmut ihrer Nächsten erwartete. Sie war daher mit dem, was Pitt Crawley für sie getan hatte, vollkommen zufrieden. Das Oberhaupt der Familie hatte sie anerkannt. Wenn Pitt ihr nichts geben wollte, so würde er ihr doch eines Tages etwas verschaffen. Wenn sie von ihrem Schwager auch kein Geld bekam, so bekam sie doch etwas, was ebenso gut war wie Geld – Kredit. Raggles beruhigten der Anblick der Einigkeit zwischen den Brüdern, eine kleine Anzahlung und das Versprechen, daß er bald eine größere Summe erhalten würde. Rebekka zahlte Miss Briggs die Weihnachtszinsen für die kleine Summe, die sie von ihr geliehen hatte, mit einer Miene aufrichtiger Freude aus, als ob ihre Kasse von Gold überströmte, und erzählte ihr dabei im tiefsten Vertrauen, daß sie mit Sir Pitt, der als Finanzmann berühmt sei, über Miss Briggs gesprochen habe, und zwar über die vorteilhafte Anlage des restlichen Kapitals von Miss Briggs. Sir Pitt habe nach reiflichen Überlegungen eine Möglichkeit gefunden, wie die Briggs ihr Geld sicher und vorteilhaft anlegen könnte. Er nehme besonderen Anteil an ihr, als einer alten Freundin der seligen Miss Crawley und der ganzen Familie, und lange bevor er die Stadt verlassen habe, habe er empfohlen, sie solle das Geld zur sofortigen Verfügung halten, um die Aktien, die Sir Pitt im Auge habe, bei günstiger Gelegenheit kaufen zu können. Die arme Miss Briggs war für diesen Beweis von Sir Pitts Aufmerksamkeit sehr dankbar. Es kam so unerwartet, sagte sie, sie habe nie daran gedacht, ihr Geld aus den Staatspapieren zu ziehen. Die Freundlichkeit seines Anerbietens wurde noch durch das Taktgefühl, mit dem es gemacht wurde, erhöht; sie versprach, sofort ihren Anwalt aufzusuchen und ihr kleines Kapital im richtigen Augenblick bereit zu haben.

Diese würdige Dame war Rebekka so dankbar für die Freundlichkeit bei der Angelegenheit und auch ihrem großmütigen Wohltäter, dem Oberst, daß sie ausging und einen großen Teil ihrer Halbjahreszinsen beim Kauf eines schwarzen Samtröckchens für den kleinen Rawdon ausgab, der übrigens jetzt für schwarzen Samt fast zu groß geworden war. Er hatte nun eine Größe und ein Alter erreicht, denen Männerkleidung angemessen war.

Er war ein hübscher Knabe mit offenem Gesicht, blauen Augen, lockigem Flachshaar und starken Gliedern, aber großmütig und weichherzig, liebevoll ergeben allen, die gut zu ihm waren: dem Pony, Lord Southdown, der ihm das Pony geschenkt hatte (er erglühte immer vor Freude, wenn er den freundlichen jungen Edelmann sah), dem Reitknecht, der das Pony pflegte, Mary, der Köchin, die ihn abends mit Gespenstergeschichten und Leckerbissen vom Abendessen vollstopfte, der Briggs, die er quälte und auslachte, und besonders seinem Vater, dessen Liebe zu dem Knaben auch merkwürdig zu beobachten war. Hier endete aber wohl der Kreis seiner Zuneigungen, als er etwa acht Jahre alt geworden war. Das schöne Bild der Mutter war nach einer Weile verblaßt. Fast zwei Jahre lang hatte sie kaum ein Wort mit dem Jungen gesprochen. Sie konnte ihn nicht leiden. Er hatte die Masern und den Keuchhusten. Er langweilte sie. Eines Tages war er, angelockt von der Stimme seiner Mutter, die Lord Steyne vorsang, herabgeschlichen und stand auf dem Treppenabsatz, als sich plötzlich die Tür des Salons öffnete und sie den kleinen Spion entdeckte, der noch vor einem Augenblick verzückt der Musik gelauscht hatte.

Seine Mutter kam heraus und gab ihm ein paar derbe Ohrfeigen. Er hörte drinnen im Zimmer den Marquis lachen (den die freie und offene Schaustellung von Beckys Temperament belustigte) und floh zu seinen Freunden in die Küche hinab und brach dort in kummervolle Tränen aus.

»Es ist ja nicht, weil es weh tut«, schluchzte der kleine Rawdon, »nur – nur « Heftiges Schluchzen und ein Strom von Tränen beendeten den Satz. Das Herz des kleinen Jungen blutete. »Warum darf ich sie nicht singen hören? Warum singt sie nicht auch einmal vor mir wie vor dem kahlköpfigen Mann mit den großen Zähnen?« Diese Äußerungen von Wut und Schmerz stieß er abgerissen hervor. Die Köchin blickte das Hausmädchen an, das Hausmädchen sah schlau den Diener an – die furchtbare Kücheninquisition, die in jedem Hause zu Gericht sitzt und alles weiß, sprach in diesem Augenblick ihr Urteil über Rebekka.

Nach diesem Vorfall wurde die Abneigung der Mutter zum Haß. Der Gedanke, daß das Kind sich im Hause befand, war ihr Vorwurf und Qual zugleich. Sein bloßer Anblick ärgerte sie. Aber auch im Herzen des Knaben erwuchsen Furcht, Zweifel und Widerstand. Vom Tage der Ohrfeigen an waren sie endgültig voneinander getrennt.

Lord Steyne war dem Knaben ebenfalls von Herzen abgeneigt. Wenn sie sich unglücklicherweise begegneten, machte er gegenüber dem Kind sarkastische Verbeugungen oder Bemerkungen oder starrte es wild an. Rawdon starrte ihm dann ebenfalls ins Gesicht und ballte die kleinen Fäuste. Er kannte seinen Feind; von allen Herren, die ins Haus kamen, war dieser es, der ihn am meisten ärgerte. Eines Tages traf ihn der Diener, wie er mit den Fäusten auf Lord Steynes Hut im Vorzimmer einhieb. Der Bediente erzählte dies als einen guten Witz Lord Steynes Kutscher, dieser wiederum Lord Steynes Kammerdiener und dem ganzen Gesindezimmer. Als bald darauf Mrs. Rawdon Crawley im Gaunt-Haus erschien, wußten alle über sie Bescheid oder bildeten sich ein, es zu wissen: der Portier, der das Tor öffnete, die Diener aller Ränge in der Halle und die Lakaien in weißer Weste, die von Treppenabsatz zu Treppenabsatz den Namen des Obersten und Mrs. Rawdon Crawleys ausriefen. Der Mann, der ihr Erfrischungen brachte und hinter ihrem Stuhl stand, hatte ihren Charakter mit dem langen Herrn im buntscheckigen Anzug an seiner Seite besprochen. Bon Dieu! Diese Dienstboteninquisition ist etwas Entsetzliches. Du siehst eine Dame auf einer großen Gesellschaft in einem prächtigen Salon, von treuen Bewunderern umgeben, die funkelnde Blicke austeilt, vollendet gekleidet, frisiert und geschminkt ist und glücklich lächelt. Aber die Entdeckung tritt ihr respektvoll entgegen in Gestalt; eines riesigen gepuderten Mannes mit dicken Waden und einem Tablett voll Eis und hinter ihm die Verleumdung (die ebenso verhängnisvoll ist wie die Wahrheit) in Gestalt des unbeholfenen Burschen, der die Waffeln trägt. Madame, Ihr Geheimnis werden diese Männer noch heute abend im Wirtshausklub besprechen. James wird Charles bei einer Pfeife und einem Krug Bier seine Ansichten über Sie mitteilen. Einige Leute auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit sollten Stumme als Diener haben, die nicht schreiben können. Wenn du schuldig bist, so zittere! Der Bursche hinter deinem Stuhl kann ein Janitschar sein, der in der Tasche seiner Plüschhose schon die seidene Schnur zum Erdrosseln für dich trägt. Wenn du nicht schuldig bist, so hüte dich vor dem Schein, der oft ebenso verderblich ist wie die Schuld.

War Rebekka schuldig oder nicht? Das Femegericht des Bedientenzimmers hatte gegen sie entschieden.

Und ich schäme mich, es zu sagen: Hätte man sie nicht für schuldig gehalten, hätte sie keinen Kredit mehr gehabt. Der Anblick von Lord Steynes Wagenlaternen, die vor ihrer Tür in finsterer Mitternacht leuchteten, hielt Raggles mehr aufrecht, wie er später sagte, als Rebekkas Künste und Schmeicheleien.

So – sehr wahrscheinlich schuldlos – drängte und stieß sie sich vorwärts, hin zu etwas, was man »eine Stellung in der Gesellschaft« nennt; aber schon deuteten die Dienstboten auf sie als verloren und ruiniert. So kann man morgens Molly, das Hausmädchen, sehen, wie sie eine Spinne beobachtet, die ihren Faden am Türpfosten spannt und mühsam daran emporklettert, bis das Mädchen, des Spiels müde, den Besen erhebt und Faden samt Schöpferin hinwegfegt.

Ein paar Tage vor Weihnachten machten sich Becky, ihr Mann und ihr Sohn auf die Reise, um die Feiertage auf dem Sitz ihrer Ahnen, in Queen's Crawley, zu verbringen. Becky hätte den kleinen Balg gern daheimgelassen und hätte es auch getan, wenn nicht Lady Jane den Knaben dringend eingeladen hätte und nicht Zeichen von Unzufriedenheit und Empörung über die Vernachlässigung ihres Sohnes bei Rawdon spürbar geworden wären. »Er ist der feinste Junge in England«, sagte der Vater in vorwurfsvollem Ton zu ihr, »aber du scheinst dir nicht soviel aus ihm zu machen wie aus deinem Schoßhund, Becky. Er soll dich nicht viel stören. Zu Hause wird er weit weg von dir im Kinderzimmer sein, während der Reise kann er außen mit mir fahren.«

»Wo du selbst nur fährst, weil du deine gemeinen Zigarren rauchen willst«, erwiderte Mrs. Rawdon.

»Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, wo sie dir gefielen«, entgegnete ihr Mann.

Becky lachte. Sie war fast immer guter Laune. »Das war damals, als ich noch auf Beförderung diente, du Dummchen«, sagte sie. »Nimm Rawdon mit auf den Außensitz, und gib ihm auch eine Zigarre, wenn du Lust hast.«

Rawdon wärmte seinen kleinen Sohn nicht auf diese Weise während der Winterreise, sondern er und die Briggs hüllten ihn in Schals und Decken, und er wurde an dem dunklen Morgen unter den Lampen des »Gasthofs zum Weißen Roß« respektvoll auf das Kutschendach gehoben. Mit großem Entzücken sah er den Tag allmählich anbrechen und machte seine erste Reise zu dem Ort, den sein Vater noch immer »zu Hause« nannte. Die Reise bedeutete für den Knaben eine unendliche Freude. Er beobachtete alles mit nimmermüdem Interesse, und sein Vater beantwortete ihm alle Fragen, die damit zusammenhingen. Er erzählte ihm, wer in dem großen weißen Haus rechts wohnte und wem der Park gehörte. Seine Mutter im Wageninneren mit ihrer Kammerjungfer und ihren Pelzen, ihren Schals und Riechfläschchen machte so viel Wesens, daß man hätte meinen können, sie sei noch nie in einer Postkutsche gefahren, geschweige denn, daß sie einstmals vor mehr als zehn Jahren auf einer gewissen Reise aus derselben Kutsche hinausgewiesen worden war, um einem zahlenden Fahrgast Platz zu machen.

Es war bereits wieder dunkel, als der kleine Rawdon geweckt wurde, um in den Wagen seines Onkels in Mudbury zu steigen. Verwundert blickte er hinaus, als das große Eichentor aufflog und die weißen Stämme der Lindenbäume vorbeistrichen, bis sie schließlich vor den erleuchteten Fenstern des Schlosses hielten, das von weihnachtlichem Glanz strahlte. Die mächtige Eingangstür wurde aufgerissen, in dem großen alten Kamin brannte ein gewaltiges Feuer – über dem schwarzgewürfelten Steinboden lag ein Teppich ausgebreitet. Das ist der alte türkische, der früher in der Damengalerie lag, dachte Rebekka, und im nächsten Augenblick küßte sie Lady Jane.

Sie und Sir Pitt führten dieselbe Begrüßung mit großem Ernst aus, aber Rawdon hielt sich von seiner Schwägerin zurück, weil er geraucht hatte. Ihre beiden Kinder sprangen dem Vetter entgegen. Während Matilda ihm die Hand hinstreckte und ihn küßte, stand Pitt Binkie Southdown, der Sohn und Erbe, ein wenig beiseite und betrachtete ihn prüfend wie ein kleiner Hund einen großen.

Hierauf führte die freundliche Wirtin ihre Gäste in die gemütlichen Zimmer, in denen Kaminfeuer munter prasselten. Später kamen dann die jungen Damen und klopften an Mrs. Rawdons Tür, unter dem Vorwand, sie wollten sich so gern nützlich machen. In Wirklichkeit wollten sie den Inhalt ihrer Bänder- und Hutschachteln begutachten und ihre Kleider besichtigen, die zwar schwarz, aber doch nach der neuesten Londoner Mode waren. Sie erzählten ihr, wie sehr das Schloß sich zu seinem Vorteil verändert habe und daß die alte Lady Southdown fort sei und daß Pitt seine Stellung in der Grafschaft geltend mache, wie es einem Crawley tatsächlich zukam. Dann, als die große Tischglocke ertönte, versammelte sich die Familie zum Essen, wobei der jüngere Rawdon neben seine Tante, die gutherzige Hausherrin, gesetzt wurde. Sir Pitt Crawley erwies der Schwägerin zu seiner Rechten ungewöhnliche Aufmerksamkeit.

Der kleine Rawdon zeigte einen vortrefflichen Appetit und benahm sich sehr anständig.

»Hier macht es mir Spaß zu essen«, sagte er zu seiner Tante, als er seinen Teller leergegessen hatte. Nach Beendigung des Mahles und einem angemessenen Dankgebet wurde der kleine Sohn und Erbe hereingebracht und auf einen hohen Stuhl neben den Baronet gesetzt, während die Tochter sich auf einen Platz neben der Mutter setzte und das kleine Weinglas ergriff, das dort für sie stand. »Hier macht es mir Spaß zu essen«, sagte Rawdon der Jüngere und sah zu dem freundlichen Gesicht der Tante auf.

»Warum?« fragte die gute Lady Jane.

»Zu Hause esse ich in der Küche oder sonst mit der Briggs«, entgegnete Rawdon der Jüngere. Becky war jedoch so mit dem Baronet, ihrem Wirt, beschäftigt und ergoß eine solche Flut von Komplimenten und Bewunderungsrufen über den kleinen Pitt Binkie, den sie als ein außerordentlich schönes, intelligentes, edel aussehendes Geschöpfchen bezeichnete, das seinem Vater so ähnlich sei, daß sie das, was ihr eigenes Fleisch und Blut am anderen Ende der langen glänzenden Tafel äußerte, nicht vernahm.

Da Rawdon der Zweite hier Gast war und da es der erste Abend nach der Ankunft war, durfte er lange aufbleiben. So erlebte er nach der Teestunde, wie ein großes vergoldetes Buch vor Sir Pitt auf den Tisch gelegt wurde und alle Dienstboten des Hauses hereinströmten und Sir Pitt eine Abendandacht abhielt. Es war das erstemal, daß der arme kleine Knabe solch eine feierliche Handlung hörte und sogar daran teilnahm.

Das Haus war in der kurzen Zeit der Regierung des neuen Baronets schon bedeutend schöner geworden, und als Rebekka es in seiner Begleitung besichtigte, nannte sie es vollkommen, bezaubernd und entzückend. Dem kleinen Rawdon, der es unter Führung der Kinder erforschte, erschien es als wahres Zauberschloß voller Wunder. Da gab es lange Galerien, altertümliche Prachtschlafzimmer, Gemälde, altes Porzellan und Waffen. Dann waren da die Zimmer, in denen Großpapa gestorben war und an denen die Kinder mit furchtsamen Blicken vorübergingen. »Wer war Großpapa?« fragte er, und sie erzählten ihm, daß er sehr alt gewesen und in einem Rollstuhl umhergefahren worden sei. Eines Tages zeigten sie ihm den Rollstuhl, der in einem Geräteschuppen stand und vermoderte, seitdem man den alten Herrn in die Kirche gefahren hatte, deren Turm sie über den Ulmen im Park schimmern sahen.

Die Brüder waren mehrere Vormittage lang damit beschäftigt, die Verbesserungen zu besichtigen, die Sir Pitts Talent und Sparsamkeit bewirkt hatten. Während sie so gingen oder ritten und sich alles ansahen, konnten sie sich unterhalten, ohne einander zu sehr zu langweilen. Pitt trug stets Sorge, seinem Bruder zu erzählen, wieviel Geld diese Verbesserungen verschlungen hätten und daß ein Mann trotz Grundbesitz und Staatspapieren oft um zwanzig Pfund in Verlegenheit geraten könne. »Da ist zum Beispiel das neue Parktor«, sagte Pitt und deutete bescheiden mit dem Bambusstock darauf. »Ich kann es vor den Januarzinsen ebensowenig bezahlen, wie ich fliegen kann.«

»Bis dahin kann ich es dir borgen, Pitt«, antwortete Rawdon recht kläglich. Dann gingen sie und sahen sich das wiederhergestellte Pförtnerhäuschen an, wo das Familienwappen gerade neu in Stein gehauen wurde. Zum erstenmal seit langen Jahren hatte die alte Mrs. Lock dicht schließende Türen, ein festes Dach und unzerbrochene Fenster.


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