Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Haus Sir Pitt Crawleys in der Great Gaunt Street hatte gerade begonnen, sich für den Tag zu rüsten, als Rawdon in seinem Abendanzug, den er jetzt schon zwei Tage lang trug, an der erschrockenen Frau, die die Treppe scheuerte, vorübereilte und seines Bruders Studierzimmer betrat. Lady Jane war noch im Morgenrock oben in der Kinderstube und überwachte die Toilette ihrer Kinder und lauschte den Morgengebeten, die die kleinen Geschöpfe an ihrem Knie aufsagten. Jeden Morgen tat sie das mit ihnen allein noch vor der allgemeinen Andacht, die Sir Pitt leitete und zu der sich alle Bewohner des Hauses versammeln mußten. Rawdon setzte sich im Studierzimmer an den Tisch des Baronets, der mit schön geordneten Parlamentsberichten und Briefen, sauber beschrifteten Rechnungen, symmetrisch gestapelten Broschüren, verschlossenen Rechnungsbüchern und Depeschenkästen bedeckt war. Die Bibel, die »Quarterly Review« und der Adelskalender standen alle wie zur Parade, als ob sie die Besichtigung durch ihren Herrn erwarteten.
Ein Buch mit Familienpredigten, von denen Sir Pitt am Sonntagmorgen jeweils eine seiner Familie vorzulesen pflegte, lag auf dem Schreibtisch bereit und erwartete seine fachkundige Wahl. Neben dem Predigtbuch lag der »Observer«, noch feucht und sauber gefaltet, zu Sir Pitts Privatgebrauch. Sein Kammerdiener ergriff als einziger die Gelegenheit, die Zeitung durchzusehen, bevor er sie seinem Herrn auf den Tisch legte. Ehe er sie an diesem Morgen in das Studierzimmer gebracht hatte, hatte er darin einen glühenden Bericht unter dem Titel »Festlichkeiten im Gaunt-Haus« gelesen mit den Namen aller von Marquis Steyne geladenen hervorragenden Persönlichkeiten, die Seine Königliche Hoheit getroffen hatten. Nachdem er im Zimmer der Haushälterin mit ihr und ihrer Nichte seinen Frühstückstee und Röstbrot mit Butter eingenommen und dabei die Kommentare zu dem Fest vorgelesen hatte (er gab auch seiner Verwunderung Ausdruck, wovon die Crawleys denn bloß leben mochten), befeuchtete und faltete er die Zeitung von neuem, so daß sie dem Herrn des Hauses ganz frisch und unschuldig erscheinen mußte.
Der arme Rawdon nahm das Blatt und versuchte zu lesen, bis sein Bruder kommen würde. Aber die Buchstaben ergaben ihm keinen Sinn, und er hatte keine Ahnung von dem, was er las. Die Regierungsnachrichten und Ernennungen (die mußte Sir Pitt als Mann des öffentlichen Lebens lesen, denn sonst hätte er keine Sonntagszeitung in seinem Hause geduldet), die Theaterkritiken, der Boxkampf um hundert Pfund zwischen dem »Kläffenden Schlächter« und dem »Liebling von Tutbury«, sogar die Berichte vom Gaunt-Haus, die eine sehr schmeichelhafte, wenn auch vorsichtige Beschreibung der berühmten Scharaden und ihrer Heldin Mrs. Becky brachten – all das zog wie im Nebel an ihm vorüber, als er saß und das Familienoberhaupt erwartete.
Pünktlich mit dem schrillen Klang der schwarzen Marmoruhr auf dem Kaminsims, die gerade neun schlug, erschien Sir Pitt, frisch, sauber, glattrasiert, mit wächsernem Gesicht und steifem Hemdkragen, das spärliche Haar sorgfältig gekämmt und pomadisiert. Er kam majestätisch mit gestärkter Krawatte und im grauen Flanellschlafrock die Treppe herab und schnitt sich die Nägel – ein echter englischer Gentleman, das Musterbeispiel von Sauberkeit und Korrektheit. Als er in seinem Studierzimmer den armen Rawdon in unordentlichen Kleidern, mit blutunterlaufenen Augen und in das Gesicht hängenden Haaren erblickte, fuhr er zurück. Er glaubte, sein Bruder sei nicht nüchtern und habe die ganze Nacht bei irgendeiner Orgie verbracht. »Guter Gott, Rawdon«, rief er bestürzt. »Was führt dich in dieser Morgenstunde hierher? Warum bist du nicht zu Hause?«
»Zu Hause!« entgegnete Rawdon mit wildem Lachen. »Keine Angst, Pitt. Ich bin nicht betrunken. Mach die Tür zu, ich muß mit dir sprechen.«
Pitt schloß die Tür und trat an den Tisch. Er ließ sich in dem zweiten Armstuhl nieder, der dort für seinen Verwalter, seinen Beauftragten oder sonstige Besucher bereitstand, die mit dem Baronet vertrauliche Geschäfte abzuschließen hatten. Heftiger als je schnitt er an seinen Nägeln herum.
»Pitt, es ist alles aus!« sagte der Oberst nach einer Pause. »Ich bin erledigt.«
»Ich habe es immer gesagt, daß es noch dazu kommen würde«, rief der Baronet ärgerlich und trommelte mit seinen säuberlich geschnittenen Nägeln auf dem Tisch herum. »Ich habe dich tausendmal gewarnt. Ich kann dir nicht mehr helfen. Die Verwendung von jedem Shilling meines Geldes ist festgelegt. Selbst die hundert Pfund, die Jane dir gestern gebracht hat, waren meinem Rechtsanwalt für morgen früh versprochen, und daß sie mir jetzt fehlen, bringt mich in große Verlegenheit. Ich meine damit nicht, daß ich dir schließlich nicht doch helfen will. Aber wenn ich alle deine Gläubiger befriedigen sollte, so könnte ich ebensogut wünschen, die Staatsschuld bezahlen zu können. Es ist Wahnsinn, reiner Wahnsinn, daran auch nur zu denken. Du mußt zu einem Vergleich kommen, es ist schmerzlich für die Familie, aber alle tun es. George Kitely, Lord Raglands Sohn, hat vorige Woche vor Gericht gestanden und sich, glaube ich, mit seinen Gläubigern verglichen. Lord Ragland wollte keinen Shilling für ihn bezahlen, und ...«
»Ich brauche kein Geld«, unterbrach ihn Rawdon. »Ich komme nicht meinetwegen. Kümmere dich nicht darum, was aus mir wird «
»Worum handelt es sich denn?« fragte Pitt, etwas erleichtert.
»Es geht um den Jungen«, antwortete Rawdon mit heiserer Stimme. »Ich möchte gern, daß du mir versprichst, dich seiner anzunehmen, wenn ich nicht mehr da bin. Deine liebe, gute Frau ist immer gut zu ihm gewesen, und er liebt sie mehr als seine ... Verdammt! Sieh mal, Pitt, du weißt, daß ich Miss Crawleys Geld haben sollte. Ich bin nicht wie ein jüngerer Bruder erzogen worden, und man hat mich stets zu Verschwendung und Müßiggang ermuntert. Ohne das hätte ich ein ganz anderer Mensch werden können. Ich habe meine Pflichten beim Regiment nicht schlecht erfüllt. Du weißt, wie ich in bezug auf das Geld ausgebootet worden bin und wer es dann erhalten hat.«
»Nach den Opfern, die ich dir brachte, und der Art, wie ich dir beigestanden habe, halte ich diese Art von Vorwürfen für sinnlos«, sagte Sir Pitt. »Deine Heirat war dein Werk, nicht meins.«
»Das ist jetzt vorbei«, sagte Rawdon. »Das ist jetzt vorbei!« Die Worte entrangen sich ihm mit einem Stöhnen, und sein Bruder erschrak.
»Guter Gott, ist sie tot?« fragte Sir Pitt mit einem Ton wirklicher Unruhe und echten Mitleids.
»Ich wünschte, ich wäre es«, entgegnete Rawdon. »Wenn es nicht um den kleinen Rawdon ginge, so hätte ich mir heute früh die Kehle durchgeschnitten – und dem verdammten Schurken dazu.«
Sir Pitt erriet augenblicklich die Wahrheit und mutmaßte, daß Lord Steyne derjenige sei, dem Rawdon das Leben zu nehmen wünschte. Der Oberst erzählte seinem älteren Bruder kurz und in abgerissenen Sätzen die näheren Umstände. »Es war ein regelrechter Plan zwischen dem Schuft und ihr«, sagte er, »sie haben die Gerichtsdiener auf mich gehetzt: und mich festnehmen lassen, als ich Steynes Haus verließ. Als ich sie im Brief um Geld bat, schrieb sie, sie liege krank im Bett, und vertröstete mich auf den nächsten Tag. Als ich dann nach Hause kam, fand ich sie, von Diamanten strahlend, allein mit dem Schurken.« Er beschrieb darauf kurz den persönlichen Streit mit Lord Steyne. »Wie die Sache nun liegt«, meinte er, »gibt es natürlich nur einen Ausweg.« Nach der Unterredung mit seinem Bruder wolle er weggehen und die nötigen Anordnungen für die unvermeidliche Begegnung treffen. »Und da es verhängnisvoll für mich ausgehen kann«, sagte Rawdon mit gebrochener Stimme, »und da der Junge keine Mutter hat, so muß ich ihn bei dir und Jane lassen, Pitt. Es wäre mir ein großer Trost, wenn du mir versprechen wolltest, sein Freund zu sein.«
Der ältere Bruder war sehr bewegt und schüttelte Rawdon die Hand mit einer Herzlichkeit, die man bei ihm nur selten bemerkte. Rawdon fuhr sich mit der Hand über die buschigen Augenbrauen. »Danke, Bruder«, sagte er, »ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann.«
»Ich verspreche es, auf meine Ehre«, erwiderte der Baronet. So war mit wenigen Worten der Handel zwischen ihnen abgeschlossen.
Rawdon zog nun die kleine Brieftasche hervor, die er in Beckys Schreibpult entdeckt hatte, und entnahm ihr ein Bündel Banknoten. »Hier sind sechshundert«, sagte er. »Du hast nicht gewußt, daß ich so reich bin. Ich möchte, daß du das Geld der Briggs gibst, die es uns geliehen hat. Sie ist so freundlich zu dem Jungen gewesen, und ich habe mich immer geschämt, daß ich das Geld von der armen alten Frau genommen habe; und hier ist noch etwas – ich habe nur ein paar Pfund zurückbehalten –, das kann Rebekka bekommen, damit sie für den Anfang etwas hat.« Während er sprach, ergriff er die übrigen Banknoten, um sie seinem Bruder zu geben, aber seine Hände zitterten, und er war so erregt, daß ihm die Brieftasche entglitt und die Tausendpfundnote, der letzte Gewinn der unglücklichen Rebekka, herausfiel.
Pitt bückte sich und hob sie auf, erstaunt über solchen Reichtum. »Die nicht«, sagte Rawdon. »Ich hoffe, daß ich dem Mann, dem sie gehört, eine Kugel in den Leib jagen kann.« Er hatte sich gedacht, es wäre eine feine Rache, eine Kugel in die Banknote zu wickeln und Steyne damit zu töten.
Nach diesem Gespräch schüttelten sich die Brüder noch einmal die Hände und schieden. Lady Jane hatte von der Anwesenheit des Obersten vernommen und erwartete ihren Mann im anstoßenden Speisezimmer. Ihr weiblicher Instinkt ließ sie nichts Gutes ahnen. Die Tür stand zufällig offen, und als die beiden Brüder das Studierzimmer verließen, trat sie natürlich aus dem Speisezimmer heraus. Sie streckte Rawdon die Hand entgegen und sagte, sie freue sich, daß er zum Frühstück gekommen sei, obwohl sie aus seinem verstörten, unrasierten Gesicht und dem finsteren Blick ihres Mannes ersah, daß beiden wenig am Frühstück gelegen war. Rawdon murmelte ein paar Entschuldigungen wegen einer Verabredung und preßte die furchtsame kleine Hand, die ihm seine Schwägerin hinhielt. Ihr fragender Blick konnte nichts als Unheil in seinem Gesicht lesen, aber er ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Sir Pitt gab ihr ebenfalls keine Erklärung. Die Kinder kamen, um ihn zu begrüßen, und er küßte sie in seiner gewohnten kalten Art. Die Mutter hielt beide eng an sich gepreßt und nahm sie bei der Hand, als sie zum Gebet niederknieten, das Sir Pitt ihnen und den Dienstboten vorlas, die im Sonntagsstaat auf den Stühlen neben der zischenden Teemaschine saßen. Infolge der erwähnten Verzögerung fand das Frühstück an jenem Tag so spät statt, daß die Kirchenglocken schon zu läuten anfingen, als sie noch aßen. Lady Jane erklärte, es gehe ihr zu schlecht, um in die Kirche gehen zu können. Ihre Gedanken waren schon während der Familienandacht in weite Ferne gewandert.
Mittlerweile war Rawdon Crawley aus der Great Gaunt Street geeilt. Er klopfte an das große bronzene Medusenhaupt, das am Portal vom Gaunt-Haus steht, und der purpurne Silen in rotsilberner Weste erschien, der im Palast die Rolle des Portiers spielt. Der Mann war über das unordentliche Aussehen des Obersten ebenfalls erschrocken und vertrat ihm den Weg, als ob er befürchtete, daß der andere ihn erzwingen wollte. Oberst Crawley zog jedoch nur eine Karte hervor und legte dem Diener ans Herz, sie Lord Steyne zu bringen, die darauf geschriebene Adresse zu beachten und zu sagen, daß Oberst Crawley nach ein Uhr den ganzen Tag im Regent-Klub in der St. James' Street anzutreffen sei - also nicht zu Hause. Der dicke Mann mit dem roten Gesicht blickte dem Davonschreitenden erstaunt nach, ebenso die Leute in Sonntagskleidern, die so früh schon auf der Straße waren, die Waisenknaben mit glänzenden Gesichtern, der Gemüsehändler, der an seiner Tür lehnte, und der Wirt, der im Sonnenschein seine Fensterläden schloß, da der Gottesdienst begann. Am Droschkenstand machten die Leute sich über sein Aussehen lustig, als er einen Wagen nahm und dem Kutscher zurief, er solle ihn zu den Knightsbridge-Kasernen fahren.
Alle Glocken läuteten, als er sein Ziel erreichte. Wenn er hinausgeblickt hätte, hätte er seine alte Bekannte, Amelia, auf ihrem Weg von Brompton zum Russell Square sehen können. Trupps von Schulkindern marschierten zur Kirche. Das glänzende Pflaster und die Kutschendächer in den Vorstädten waren voll von Leuten, die sich ein Sonntagsvergnügen machen wollten. Der Oberst hatte es aber viel zu eilig, um von alldem Notiz zu nehmen, und als er in der Kaserne ankam, begab er sich schleunigst in das Zimmer seines alten Freundes und Kameraden Macmurdo, den er glücklicherweise in der Kaserne antraf.
Hauptmann Macmurdo, ein alter Offizier und Waterlookämpfer, der beim Regiment sehr beliebt war (nur der Mangel an Geld hinderte ihn, zu hohen Würden aufzusteigen), genoß den ruhigen Vormittag im Bett. Er hatte den Abend bei einer lustigen Gesellschaft verbracht, die der ehrenwerte Hauptmann George Cinqbars in seinem Haus am Brompton Square mehreren jungen Offizieren des Regiments und einer Anzahl Damen von einer Balletttruppe gegeben hatte. Der alte Mac, der mit Leuten jeden Alters und Standes vertraut war und mit Generalen, Hundezüchtern, Ballettänzerinnen, Boxern, kurz, allen Arten von Menschen verkehrte, ruhte sich, da er dienstfrei hatte, von den Anstrengungen der Nacht im Bett aus.
An den Wänden seines Zimmers hingen Box-, Jagd- und Tanzbilder, die ihm seine Kameraden geschenkt hatten, wenn sie aus dem Regiment ausschieden, sich verheirateten oder sich in ein ruhiges Leben zurückzogen. Da er nun beinahe fünfzig war und vierundzwanzig Jahre seines Lebens beim Korps zugebracht hatte, so besaß er ein einzigartiges Museum. Er war einer der besten Schützen Englands und für einen Mann von seiner Körperfülle ein guter Reiter. Tatsächlich waren er und Crawley Rivalen, als dieser noch bei der Armee war. Kurz und gut, Mr. Macmurdo – ein ehrwürdiger, borstiger Krieger mit einem kleinen Kopf und kurzgeschnittenem grauem Haar, einer seidenen Nachtmütze, rotem Gesicht und ebensolcher Nase und einem mächtigen, gefärbten Schnurrbart, lag im Bett und las in »Bell's Life« den Bericht über den schon erwähnten Kampf zwischen dem »Liebling von Tutbury« und dem »Kläffenden Schlächter«.
Als Rawdon dem Hauptmann sagte, er brauche einen Freund, da wußte dieser sofort, welcher Freundschaftsdienst von ihm erwartet wurde, denn er hatte schon Dutzende solcher Affären mit größter Klugheit und Geschicklichkeit für seine Freunde erledigt. Seine Königliche Hoheit, der verstorbene, allgemein betrauerte Oberbefehlshaber der Armee, hatte in dieser Hinsicht die größte Achtung für Macmurdo gehegt, und Herren, die sich in Schwierigkeiten befanden, suchten bei ihm Rat und Hilfe.
»Worum dreht sich denn der Streit eigentlich, Crawley, mein Junge?« fragte der alte Krieger. »Etwa Spielgeschichten, wie damals, als wir Hauptmann Marker erschossen?«
»Es geht um – um meine Frau«, entgegnete Crawley, schlug die Augen nieder und wurde rot.
Der andere gab einen Pfiff von sich. »Ich habe ja schon immer gesagt, sie wird dir noch einmal davonlaufen«, begann er. Tatsächlich hatten die Welt und Rawdons Kameraden Mrs. Crawleys Charakter so geringgeschätzt, daß man im Regiment und in den Klubs bereits Wetten über Oberst Crawleys mutmaßliches Schicksal abschloß. Als Macmurdo jedoch den wütenden Blick bemerkte, mit dem Rawdon diese Meinungsäußerung beantwortete, hielt der Alte es für besser, sich nicht weiter darüber auszulassen.
»Gibt es keinen anderen Ausweg, alter Junge?« fuhr der Hauptmann in ernstem Ton fort. »Ist es nur ein Verdacht? Oder – oder was ist es? Hast du Briefe? Kannst du es nicht in aller Stille abmachen? Man schlägt doch wegen so einer Angelegenheit keinen Lärm, wenn es sich vermeiden läßt.« Merkwürdig, daß er erst jetzt dahintergekommen ist, dachte der Hauptmann bei sich, und ihm fielen hundert ausführliche Unterhaltungen in der Offiziersmesse ein, bei denen Mrs. Crawleys Ruf in Fetzen gerissen worden war.
»Es gibt nur einen Ausweg«, entgegnete Rawdon, »und einer von uns muß auf der Strecke bleiben, Mac – verstehst du das? Mich hat man aus dem Weg geräumt, festgenommen, ich überraschte die beiden, als sie allein zusammen waren. Ich sagte ihm, er sei ein Lügner und Feigling, und dann schlug ich ihn zu Boden und verprügelte ihn.«
»Geschah ihm recht«, erwiderte Macmurdo. »Wer ist es denn?«
Rawdon antwortete, daß es Lord Steyne sei.
»Zum Henker! Ein Marquis! Man erzählte doch, er ... das heißt, man erzählte, du ...«
»Was, zum Teufel, meinst du eigentlich!« brüllte Rawdon. »Willst du etwa damit sagen, daß du jemals gehört hast, wie ein Kerl die Tugend meiner Frau bezweifelte, und du hast mir nichts davon erzählt, Mac?«
»Die Welt ist äußerst kritisch, alter Junge«, erwiderte der andere. »Was, zum Henker, hätte es genützt, wenn ich dir erzählt hätte, was ein paar Narren schwatzen?«
»Das war verdammt unkameradschaftlich, Mac«, sagte Rawdon, ganz überwältigt. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und nun übermannte ihn die Erregung. Bei diesem Anblick konnte selbst der alte Haudegen sein Mitgefühl ihm gegenüber nicht verbergen. »Kopf hoch, alter Junge«, sagte er. »Vornehm oder nicht – wir werden ihm doch eine Kugel in den Leib jagen, dem verdammten Kerl. Und was die Weiber angeht – die sind alle so.«
»Du weißt nicht, wie lieb ich diese eine hatte«, sagte Rawdon kaum vernehmlich. »Verdammt, ich bin ihr nachgelaufen wie ein Lakai. Ihretwegen habe ich alles aufgegeben. Ich bin ein Bettler, bloß weil ich sie unbedingt heiraten mußte. Beim Zeus, ich habe meine eigene Uhr versetzt, um ihre Launen zu befriedigen, und sie – sie hat die ganze Zeit in ihren eigenen Beutel gewirtschaftet, und für mich hat sie nicht einmal hundert Pfund gehabt, um mich aus dem Loch zu befreien.« Hierauf erzählte er wutschnaubend und unzusammenhängend in einer Erregung, die sein Ratgeber bei ihm nicht kannte, die ganze Geschichte. Macmurdo fiel ihm ab und zu ins Wort. »Trotz alledem kann sie doch unschuldig sein«, meinte er. »Sie sagt es jedenfalls. Steyne ist vorher hundertmal allein mit ihr im Hause gewesen.«
»Schon möglich«, entgegnete Rawdon traurig, »aber das sieht nicht sehr nach Unschuld aus.« Und damit zeigte er dem Hauptmann die Tausendpfundnote, die er in Beckys Brieftasche gefunden hatte. »Das hat er ihr gegeben, Mac, und sie hat sie vor mir versteckt; und mit diesem Geld im Haus hat sie mir ihre Hilfe versagt, als ich eingesperrt war.« Der Hauptmann mußte zugeben, daß das Verheimlichen des Geldes sehr häßlich wirkte.
Während sie sich noch berieten, schickte Rawdon Hauptmann Macmurdos Diener in die Curzon Street mit dem Auftrag an die Dienstboten, ihm einen Beutel mit Kleidungsstücken zu schicken, welche der Oberst notwendig brauchte. Als der Diener fort war, verfaßten Rawdon und sein Sekundant mit großer Mühe und unter Zuhilfenahme von Johnsons Wörterbuch, das ihnen sehr gute Dienste leistete, einen Brief, den der Hauptmann an Lord Steyne abschicken sollte. Hauptmann Macmurdo habe die Ehre, dem Marquis von Steyne in bezug auf Oberst Rawdon Crawley seine Aufwartung zu machen, und erlaube sich anzudeuten, daß er von dem Oberst bevollmächtigt sei, alle Vorkehrungen für die Begegnung zu treffen, auf die der Marquis zweifellos bestehen würde und die durch die Ereignisse des Morgens unvermeidlich geworden sei. Hauptmann Macmurdo bitte Lord Steyne höflich, einen Freund zu nennen, mit dem er (Hauptmann M.) sich ins Einvernehmen setzen könne, und er wünsche, daß das Treffen so bald wie möglich stattfinden möge.
In einer Nachschrift stellte der Hauptmann fest, daß sich in seinem Besitz eine Banknote von sehr hohem Wert befinde, die, wie Oberst Crawley wohl mit Recht vermute, Eigentum von Lord Steyne sei, und im Auftrag des Obersten wünsche er sehr, dem Eigentümer die Note zurückzugeben.
Als der Brief abgefaßt war, kehrte der Diener des Hauptmanns von seinem Botengang zum Hause von Oberst Crawley in der Curzon Street zurück, aber ohne Reisetasche und Beutel, die er doch hatte holen sollen, und mit sehr verdutztem Gesicht.
»Die wollen nichts rausgeben«, sagte der Mann. »Es ist ein ordentlicher Spektakel im Haus, und alles geht drunter und drüber. Der Hauswirt ist gekommen und hat alles beschlagnahmt. Die Bedienten saßen im Salon und tranken. Sie sagten – sie sagten, Sie wären mit dem Silber auf und davon, Oberst.« Nach einer Pause fuhr der Mann fort: »Einer von den Dienern ist schon weg, und Trotter, der Kammerdiener, der wirklich ziemlich laut und betrunken war, sagte, es soll ihm nichts aus dem Haus, bis er seinen Lohn hat.«
Dieser Bericht von der kleinen Revolution in Mayfair verwunderte die beiden Offiziere höchlich und brachte etwas Heiterkeit in ihre sonst so traurige Unterhaltung. Sie lachten über Rawdons Mißerfolg.
»Ich bin froh, daß der Kleine nicht zu Hause ist«, sagte Rawdon und kaute an den Nägeln. »Erinnerst du dich an ihn, in der Reitschule, Mac? Wie er sich auf dem ausschlagenden Pferd festhielt, weißt du noch?«
»Ja, ganz genau, alter Junge«, sagte der gutmütige Hauptmann.
Der kleine Rawdon saß gerade zu dieser Zeit unter fünfzig anderen Stiftsschülern in der Kapelle der Whitefriars-Schule; aber er dachte nicht an die Predigt, sondern daran, daß er nächsten Sonnabend nach Hause fahren dürfe und daß sein Vater ihm sicher Geld geben und ihn vielleicht auch mit ins Theater nehmen würde.
»Er ist wirklich ein Prachtkerl, der Junge«, fuhr der Vater fort, der in Gedanken noch immer bei seinem Sohn war. »Hör mal, Mac, wenn es schiefgehen sollte – wenn ich nicht zurückkomme – möchte ich dich bitten – zu ihm zu gehen, weißt du, und ihm zu sagen, daß ich ihn sehr liebgehabt habe und so weiter. Und – zum Henker – alter Junge, gib ihm diese goldenen Manschettenknöpfe, es ist alles, was ich habe.« Er bedeckte das Gesicht mit den schwarzen Händen, und als die Tränen darüberrollten, zogen sie weiße Furchen. Mr. Macmurdo sah sich ebenfalls genötigt, seine seidene Nachtmütze abzunehmen und sich damit über die Augen zu fahren.
»Geh hinunter und bestelle ein Frühstück«, befahl er seinem Bedienten mit lauter, munterer Stimme. »Was möchtest du, Crawley? Sagen wir, geröstete Nieren und einen Hering! Und, Clay, suche etwas zum Anziehen für den Oberst heraus. Wir sind immer ungefähr gleich groß gewesen, Rawdon, mein Junge, und keiner von uns beiden ist mehr so leicht zu Pferde wie damals, als wir in das Korps kamen.« Mit diesen Worten kehrte sich Macmurdo zur Wand, damit sich der Oberst umkleiden könne. Er setzte seine Lektüre in »Bell's Life« fort, bis sein Freund fertig war und er selbst sich umziehen konnte.
Da der Hauptmann einem Lord begegnen sollte, machte er besonders sorgfältig Toilette, wichste seinen Schnurrbart, daß er glänzte, und legte eine enge Krawatte und eine hübsche Weste an. In der Messe, wohin ihm Crawley schon vorangegangen war, machten ihm alle jungen Offiziere wegen seines Aussehens beim Frühstück Komplimente und fragten, ob er an diesem Sonntag heiraten wolle.