Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XLIX

Erichs Entlassung aus dem Krankenhaus stand dicht bevor. Eines Tages schlug er Melusinen vor, nach Italien zu gehen, um dort einige Zeit in der Stille einer kleinen Stadt zu leben.

»Und Ferdinand?« war das erste Wort, das ihr unwillkürlich entfuhr.

»Ja, Ferdinand,« erwiderte Erich nachdenklich, »man kann ihn jetzt nicht sich selbst überlassen. Nehmen wir ihn mit.«

»Erich, du bist wirklich ein guter Mensch,« erwiderte sie beglückt und drückte seine Hand.

»Gut?« erwiderte er, »ich weiß nicht, ich glaube, ich bin gar nichts mehr, nicht gut und nicht böse, ich muß irgend etwas tun, aber ich könnte selbst nicht sagen, was.«

Nach diesem Gespräch telephonierte Melusine sofort an Ferdinand nach Sensburg und verabredete mit ihm, wie jetzt öfters geschah, einen Nachmittagsspaziergang. Es war ein klarer Spätoktobertag. Beide saßen auf einer besonnten Bank, von der man das Städtchen und in der Ferne Sensburg liegen sah. Nachdem sie bisher über Gleichgültiges gesprochen hatten, sagte Melusine plötzlich:

»Das Allerneueste ist übrigens, daß wir in acht Tagen nach Bergamo gehen, und das Brüderchen kommt mit.«

Ferdinand traf es wie ein Blitz. Er blickte sie an, und ihm war einen Augenblick, als sei nichts geschehen, seit jenen Nächten, in denen er mit ihr allein zwischen den Buddhas und den Barockheiligen in seinem Haus gesessen hatte. Er war keines Worts fähig, all das Zurückgedrängte stieg mit Macht wieder in ihm empor, und er erschauerte.

»Das ist ja nicht möglich,« flüsterte er nach einigen Minuten des Schweigens, während deren Melusine ihn mit den Blicken verschlang.

»Was wissen wir denn heute, was möglich ist,« sagte sie. Dann erhob sie sich und bemerkte, es sei Zeit heimzukehren, um nach dem Kranken zu sehen. Auf dem Rückweg sprach sie nur von den praktischen Vorbereitungen der Reise und bat ihn, morgen seinen Baedeker von Oberitalien ins Krankenhaus zu bringen.

Vierzehn Tage später waren die Brüder mit Melusinen in einem alten Palazzo in der Oberstadt von Bergamo einquartiert. Erich und Ferdinand machten oft allein Spaziergänge in der gebirgigen Umgebung, in der es noch spätsommerlich war, und Erich wußte sich vor Staunen nicht zu lassen über das, was ihm Ferdinand nun allmählich über seine inneren Wandlungen im Gefängnis erzählte. Er hatte ja nicht geahnt, daß sich in der Kindheit Ferdinand je als der Benachteiligte gefühlt hatte, vielmehr gestand er nun dem Bruder, daß er selbst sich als der Zurückgesetzte vorgekommen war, wenn er sah, wie der Jüngere bevorzugt und verhätschelt wurde. Er habe indessen seinen tiefen Schmerz darüber ganz in sich verschlossen.

»Siehst du,« sagte er, »darum bin ich dann so hart geworden; wenn ich nicht die Liebe der Menschen haben konnte, so wollte ich sie wenigstens beherrschen, und je mehr ich sie beherrschte, desto weniger liebenswert erschienen sie mir und erschien ich mir selbst, das ist das Geheimnis meiner Menschenverachtung. Einmal in meiner Jugend in Paris ist es mir freilich geschehen, daß sich mein Herz einer Frau voll Vertrauen öffnete, aber da geboten es die Umstände, daß ich meine Gefühle nicht voll verwirklichen durfte. Wohl ist ihnen ein kleiner Ausweg gelassen worden, was ja für den aufsteigenden Staatsmann vielleicht schon nahe daran war, meine eigene Haut zu werden, wenn du ihn nicht durchlöchert hättest. Darum hatte ich dir damals sofort verziehen, ja ich fühlte, daß ich dir eher danken sollte.«

Ferdinand machte eine heftige Bewegung der Abwehr.

»Ja danken,« wiederholte Erich, »ich war unempfindlich geworden, was ja für den ansteigenden Staatsmann vielleicht ein Vorteil ist, aber zugleich blind für die andere, schönere Hälfte der Welt...«

Plötzlich stockte er, Ferdinand aber sagte, innerlich zitternd: »Wenn dir die jetzt offensteht, so verdankst du das doch wohl jemand anderem als mir.«

Öfters kam das Gespräch bis zu diesem Punkte, aber dann brach es jedesmal ab, und nach kurzem Schweigen begann der eine oder der andere von etwas gleichgültigem zu sprechen.

Meistens gingen sie zu dritt spazieren, bisweilen auch Melusine und Ferdinand, aber nie kam es dazu, daß Erich und Melusine allein gingen, beide schienen es zu vermeiden. Es hing eine Wolke des Zweifels über allen dreien, Erich erschien einsilbig, fast schwermütig, aber der Gequälteste war Ferdinand. Melusine sagte ihm indessen oft, wenn sie allein waren, wie sehr er sich zu seinem Vorteil verändert habe, erst jetzt sei er er selber.

»Aber um was für einen fürchterlichen Preis,« erwiderte er. »Das ist jetzt gleichgültig,« meinte sie, »du hast sicher verkehrt gehandelt, aber du hast doch endlich einmal gehandelt und aus dir heraus.«

Wieder schrak er zusammen, wie auf jener sonnigen Bank daheim, als sie ihm gesagt hatte, daß er mit nach Italien reisen würde. Versuchte sie ihn von neuem, war sie am Ende doch ..? Er dachte an die bösen Gedanken, die er sich zuerst im Gefängnis von ihr gemacht hatte. Plötzlich quollen ihr die Tränen hervor. Er war ratlos, fragte sie, was ihr denn sei, und nun ergriff sie seine Hand und brach in die Worte aus:

»Ferdl, als ich dich im Gerichtssaal sah, da wußte ich, daß ich zu dir gehöre, daß ich dich brauche, wie du mich. Immer wieder sehe ich dich vor mir auf der Anklagebank – durch meine Schuld.«

Ferdinand mußte sich an einen Baum lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Erschüttert starrte er auf Melusine, die, nachdem sich ihr jene Worte entrungen hatten, sicher und aufrecht vor ihm stand.

»Melusine ...« brachte er zitternd hervor, »jetzt sind wir wieder da, wo wir waren, ehe ich ...«

»Ja ...« sagte sie fest.

»Melusine ... du bist ein Teufel,« preßte er durch die Lippen. Sie lachte fast frivol auf.

»Will ich denn, daß du wieder auf deinen Gott schießen sollst? Das war damals gewiß eine Dummheit von dir ... und auch von mir.«

Als Ferdinand stumm blieb, sagte sie kurz:

»Komm, laß uns jetzt heimgehen.«


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