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Erich Holthoff hatte während des Krieges, um die volle Einigkeit des Landes herzustellen, ehe noch dergleichen in Deutschland geschah, den König zur Berufung eines Sozialdemokraten in sein Koalitionsministerium veranlaßt und bei der Zusammenarbeit mit ihm die besten Erfahrungen gemacht.
Friedrich Pausecker war noch vor zwanzig Jahren selbst Arbeiter gewesen. Heute sah er trotz seinem ganz weltlichen Schliff ein wenig gelehrtenhaft aus, wenigstens blickten die blauen Augen bald freundlich, bald trotzig durch eine etwas altmodische Goldbrille. Er besaß den Takt seltener, noch unverfälschter Männer des Volkes, es in gehobener Umgebung weder deren weltsicheren Vertretern durch einen plumpen Zynismus gleichtun zu wollen, noch mit Formlosigkeit zu kokettieren. Vielmehr war er stets ganz selbst, von ernster Sachlichkeit, wenn ihm etwas am Herzen lag, aber zugleich von einem trockenen Humor, der das Einzelne immer sofort relativierte. Nicht nur seines erworbenen Erfahrungsbesitzes fühlte er sich ganz und gar sicher, auch sein angeborenes Wesen verleugnete er nicht im geringsten. Die Formen einer neuen Umgebung vermögen viele kluge Menschen zu erlernen, aber in ihnen dann natürlich zu sein, das bringen gewöhnlich erst die Kinder oder Enkel fertig. Nun war freilich Pauseckers wahre Natur besonders liebenswürdig, und er hatte früh erfahren, daß ihr unbefangener Ausdruck für ihn die beste Empfehlung war.
Frauen mochten viel dazu beigetragen haben, den recht hübschen Mann mit dem weichen blonden Haar und dem sehr entschiedenen, eher kleinen Mund in seiner Art zu ermutigen. Man merkte sofort, daß er sich beim anderen Geschlecht sicher fühlte, als wisse er instinktiv, daß es dort nicht so sehr auf tadellose Vollkommenheit ankommt, daß Frauen vielmehr gerade kleine Ungeschicklichkeiten an einem bedeutenden Manne lieben, weil sie darin eine schöne Aufgabe für ihren Bemutterungstrieb erblicken. Seine Natur hatte etwas kindliches, aber ohne Einfältigkeit.
Als Pausecker in das letzte Ministerium Holthoff eintrat, war er Mitte der Dreißig, d.h. in den Jahren, wo früh erfolgreiche, begabte Männer meist der Gefahr unterliegen, daß die Worte, die einst lebendige Symbole waren, zu immer hohleren Hülsen werden – man nennt dies, sich selber treu bleiben. Nur wenige sind in diesen Jahren noch eines Erlebnisses fähig, das ihr ganzes Wesen in den Schmelztiegel zurückwirft, in dem sie nun umkommen oder neu geprägt werden. Friedrich Pausecker sollte diese Gnade zu teil werden, und das Erlebnis, dem er sie verdankte, war die Begegnung mit dem fast fünfzehn Jahre älteren Holthoff. Immer häufiger geschah es, daß beide nach den Sitzungen gemeinsam speisen gingen oder in Erich's Wohnung noch bis Mitternacht allein im Gedankenaustausch zusammensaßen, wie es sonst nur in den Studienjahren vorkommt, wenn sich zwei auf verschiedenen Wegen das Gleiche suchende Jünglinge begegnen.
Pausecker war ein Gärtnersohn. Er hatte persönlich als Kind weder unter Unterdrückung zu leiden gehabt, noch eigentlich schwere Sorge gekannt. Wohl wußte er nicht anders, als daß er und die Seinen zum Volke gehörten, und daß es über dem Volk eine Schicht von Reichen und Hochgestellten gab, aber da man daheim sein Auskommen hatte und er die bevorzugte Klasse nur als die kannte, welche die Erzeugnisse der väterlichen Gärtnerei kaufte, war nie ein Anlaß zur persönlichen Empörung gewesen. Zum Sozialismus kam er von der Religion her, beeinflußt durch einen um die soziale Hilfe in Arbeitergegenden verdienten Seelsorger, bei dem er konfirmiert worden war. Nichts hatte ihn mehr ergriffen, als sein erstes Gewahrwerden des luft- und lichtlosen Lebens des Proletariats, das grundverschieden war von dem seinen bei Saat, Blüte und Frucht. Wenn die Reichen daran Schuld waren, daß es den Armen so schlecht ging, nun, dann mußte man eben das gesellschaftliche System ändern. So war es ihm als eine Selbstverständlichkeit erschienen, daß er noch als Lehrling bei seinem Vater der sozialdemokratischen Partei beitrat, wo ihm bald ein volkstümlicher, derber Mutterwitz, der bei gedrückten Proletariern ebenso selten ist, wie bei ihren intellektuellen Führern, die Herzen gewann, und eine nie betonte, kleine soziale Überlegenheit schnell in Parteiämter verhalf.
Sehr früh merkte er indessen, daß es dem vom marxistischen Dogma eingeengten Geist der Genossen nicht weniger an Luft und Licht gebrach, als den Wohnungen der Proletarier. Den sozialistischen Schriftgelehrten erschien er als eine brave Mittelmäßigkeit, Individuell-menschliches sahen sie ja nicht. Man mußte ein bestimmter Typus sein, entweder der leidenschaftliche Revolutionär, der nicht abwarten konnte, bis es los ging, oder der spekulative gelehrte Sozialist oder auch der nüchterne gewissenhafte Parteibeamte. Was aber war Pausecker? Eine gute Haut, immer munter, gesprächig, nicht ganz ernst zu nehmen. Erst später, als er in den Wahlkampf eingriff und schließlich selbst in das Parlament gewählt wurde, begann man seine Fähigkeit zu schätzen, mit aller Art Leuten auf ihre Art zu reden, was weder die hitzigen Fanatiker, noch die auf Formeln schwörenden Wissenschaftler, noch die Parteibürokraten so recht können.
Er war Sozialist geworden, um zu helfen, daß es einmal kein Proletariat mehr gäbe, aber er mußte erfahren, daß die Genossen umgekehrt dachten. Das Proletariat war gerade recht so, nur sollte es weniger arbeiten und besser leben. Dennoch gab es unter den Arbeitern schon einzelne Menschen mit aufrichtig seelischen und geistigen Bedürfnissen, die Pausecker kaum mehr als Proletarier empfand. Ihnen reichte man Steine statt Brot, nämlich eine tendenziös-seelenlose und pseudogeistige Belehrung, die ihnen alles Wahre, Schöne und Gute der überlieferten Kultur als bürgerlich brandmarkte, ja alles das, was ihre heißeste Sehnsucht war, nämlich ein reinlicheres, wärmeres, freundlicheres Leben, wie sie es bei den Bessergestellten sahen. Schon die Jugend wurde ihren unbefangenen Spielen entrissen, und man begnügte sich nicht, den Hirnen einzuprägen, daß der Stand, dem sie angehörten, ein um seine Rechte kämpfender Stand ist, sondern man lehrte sie, daß alle anderen Stände aus volksaussaugenden Schurken und bestenfalls ahnungslosen Trotteln bestanden.
Das Leben der sozialistischen Führer erschien ihm unsäglich nüchtern, ohne das harmlose Behagen des Kleinbürgertums; aber eben so fern war es jener doch nicht ganz freudlosen Ungebundenheit des Proletariers in der Liebe und im Wirtshaus. Die Führer trugen eine gewisse Strenge zur Schau, ähnlich der in der reformierten Kirche, die jede Wirkung auf Sinne und Gemüt als sündig verschmäht. Ihr Leben war Dienst für ein abstraktes Zukunftsideal, ja sie sahen gegenwärtige Verbesserungen nicht ganz gern, da sie in den Massen verfrühte Zufriedenheit hervorrufen konnten und dadurch den Zukunftsstaat in Frage stellten, in dem sie selbst einst die Führer sein würden. Pausecker aber liebte das Leben jetzt und hier, und freute sich unorthodox über jeden Lichtstrahl, der schon heute in das Dasein des Arbeiters fiel, ja er neigte selber zum Genießen. Das hätte indessen noch hingehen können, wenn sein Sinn nicht von vornherein auf Verfeinerung des Genusses gestanden wäre, eine, wie er selbst fühlte, entschieden bürgerliche Regung. Mit dem Ausschmücken seines Zimmers durch künstlerische Reproduktionen hatte es begonnen, dann war er zum Ankauf geschmackvoller Tischgeräte, zierlicher Vasen und Gegenstände für den Schreibtisch übergegangen, und schließlich pflegte er Frühstück und kaltes Nachtessen zuhaus von einem weißen Tischtuch zu verzehren. Bald ließ er von seinen Wänden die häßlichen Öldrucke, die Marx, Engels und Lassalle darstellten, verschwinden, die um nichts besser waren, als die Bilder der letzten drei Könige von Harringen in kleinen Bürgerhaushalten, und ersetzte sie durch Lithographien von Goethe, Schiller und Lessing. Bei seinen Kollegen dagegen wurde nicht selten eine Art Freude am Ungefälligen, Ungepflegten zur Schau getragen.
Dies sah Pausecker schweren Herzens, aber da er trotz seinem guten Verstand in erster Linie Gefühlsmensch war, trieb ihn seine Enttäuschung nicht zur Diskussion, die bald seinen Abfall von der Partei zur Folge gehabt haben würde. Vielmehr fand er einen Ausweg: er begab sich alljährlich mehrere Monate zu Studienzwecken ins Ausland, England, Amerika, Frankreich und Belgien. Dort gingen ihm nun die Augen auf. Außerhalb der deutsch sprechenden Länder kümmerte man sich wenig oder gar nicht um Marx'sche Dogmatik. Von Klassenhaß ließ sich wenig bemerken, dagegen eine beseelte und darum individuelle Menschlichkeit, die deutsche Genossen »bürgerlich« genannt haben würden. Viele Arbeiterführer, ja schon mancher Arbeiter waren innerlich »Gentlemen« und nicht wenige geborene Gentlemen Sozialisten. Hier fand Pausecker den positiven, ungiftigen Sozialismus verwirklicht, von dem er seit frühester Jugend geträumt. Nach Haus zurückgekehrt, fand er immer wieder Worte, Theorien, kraftlose Sehnsucht, fiebernde Geschäftigkeit und dahinter ein substanzloses, ungeformtes, oft zuchtloses und entwurzeltes Menschentum, bestenfalls schwärmerisch-idealistisch und ohne Sinn für geschichtlich-psychologische Entwicklungen, meist aber persönlich rachsüchtig, ressentimentvoll, wirrköpfig, händelsüchtig, ungezogen, taktlos und ehrgeizig in kleinem und kleinstem Stil. Jetzt aber wußte er, daß diese Lebenslust es ist, die in Mitteleuropa den Sozialismus immer wieder für Menschen von geistigem und menschlichem Niveau auf die Dauer unerträglich gemacht hat, während ein Sozialismus von seelischem und ethischem Rang wie er ihm vorschwebte, die Partei aller heute politisch obdachlosen Eliten sein würde.
Vor allem kannten ja diese Führer das Volk gar nicht, hatten innerlich nicht die geringste Beziehung zu ihm; der Proletarier war für sie ein Mythos, der all ihr zersplittertes Denken und zerfahrenes Fühlen vereinheitlichen sollte. Er, Pausecker, dagegen kannte das Volk, er wußte, wie elend es war, wie ihm Hilfe not tat, aber gerade darum gab er sich nicht den geringsten Täuschungen hin über seine Unzulänglichkeit. Ja, gutmütig und rührend dankbar waren die meisten, wenn man sich ihrer annahm, aber ein ernstliches Bedürfnis über das Materielle hinaus war immer nur bei Einzelnen zu finden. Gab man ihnen etwas Schönheit, die meisten würden sie vorläufig gar nicht verstehen. Und diese Masse wollte man nun plötzlich, so wie sie war, zur Herrschaft bringen? Nicht nur würde sie keine Führer, nicht einmal die nötige Anzahl mittlerer und kleiner Beamter aus sich hervorbringen können. Das wollten sie ja auch gar nicht. Revolution war ein in sie künstlich hineingetragener Begriff, keine in ihnen glimmende Urleidenschaft wie die Parteiliteraten faselten. Etwas mehr Lohn und freie Zeit wünschten sie sich. Schaffte man ihnen das, so war vielleicht an ihre Erziehung zu höherer Menschlichkeit zu denken, und man konnte nur wünschen, daß die bürgerliche Gesellschaft sich noch so lange hielt, bis diese Erziehung einige Früchte trug. Was daheim wirklich noch an echtem geistigem Leben erwuchs, stammte, das konnte Pausecker nicht länger entgehen, weil es fast keine Ausnahme gab, aus dem, wenn auch weithin vertrocknenden Boden der alten Schichten. Dort gab es doch noch – und nicht gar so selten – differenzierte und universelle Hirne, die ein Ding von mehreren Seiten, unabhängig von religiöser, politischer und selbst ständischer Zugehörigkeit ansehen konnten.
Vor allem aber hatte man in deutschen Landen die Pflege zweier Eigenschaften, ohne die wahre Menschlichkeit keinen Augenblick atmen kann, ganz der befeindeten Klasse überlassen, deren bessere Vertreter sie immerhin noch übten, nämlich Takt, den Pausecker in seinem glücklichen Temperament von Natur besaß, und Geschmack, den er stets bemüht gewesen war zu erwerben. Im Ausland, wo er sich unbefangen fühlte, entfaltete sich in ihm diese dort überall selbstverständliche Eigenschaft schließlich ganz von selbst. Wie war das möglich gewesen? Er war sich darüber ziemlich klar.
Eines Nachts als er einsam auf dem Deck des Amerika-Dampfers, der ihn zum letztenmal heimbrachte, unter dem Sternenhimmel träumte, da erkannte er, was ihn von den Genossen unterschied: Er besaß die von jenen verachtete Eigenschaft der Ehrfurcht vor Werten, welcher Art auch immer, während sie an alles, ohne es überhaupt tief auf sich wirken zu lassen, sofort kritische Maßstäbe legten, um festzustellen, wie weit es sich mit ihrer Doktrin vertrug. Von ihr aus gesehen, waren Geschmack und Takt bürgerlich, wahrscheinlich auch der Sternenhimmel, sicher aber einer, der sich müßig dessen Betrachtung hingab, so lange noch die wichtigsten Parteiwünsche unbefriedigt waren. Die »Gemeinheit« des Bürgertums bestand vor allem darin, daß es seine tatsächlichen Werte nicht kampflos hingeben wollte – an die Versprechungen der marxistischen Doktrin. Fußte man auf dieser, war daher jedes Kampfmittel gegen die erlaubt, welche durch ihren Egoismus allein »die allgemeine Glückseligkeit« hemmten. Pausecker sah voraus, daß die eines Tages zu einem völlig wirklichkeitsblinden Terror führen konnte.
Sein innerer Konflikt wirkte sich am schmerzlichsten aus in seiner Beziehung zur Frau. Die Kultureinflüsse, die er während seines Lebens empfangen, hatten immer in erster Linie differenzierend auf sein Gefühl gewirkt. Er konnte es sich daher nicht länger verhehlen: die Frauen seiner eigenen Klasse waren ihm fürchterlich. Jahrelang hatte er sich gezwungen, das zu übersehen, das schablonenmäßige Fühlen, das selbstverständliche Voraussetzen gemeiner oder zum mindesten kleinlicher Triebfedern, und dann das Äußere: das schlecht frisierte Haar, die zweifelhaften Fingernägel, die vulgäre Sprache, und, was das Schlimmste war, die Tatsache, daß jede noch so flüchtige Berührung mit der Bildung nicht tiefere Seelenkultur, aber sofort dogmatische Schulmeisterei, hochmütige Besserwisserei hervorbrachte. Er fühlte dem Weib gegenüber ritterlich, aber der Ritter sucht nun einmal die Dame. Wenn davon seine Parteifreunde etwas geahnt hätten, sie würden ihn ohne weiteres als einen eitlen Snob abgetan haben. Oh, er hatte sich ernstlich geprüft, wie weit dabei Eitelkeit im Spiel war, von der er sich durchaus nicht frei wußte, erfüllte es ihn doch mit großer Befriedigung, daß er, der einstige Gärtnerbub, heute auf gleich und gleich mit Menschen der höchsten Bildungsschicht verkehrte; aber in seiner Stellung zur Frau, mochte sie gelegentlich auch snobistisch wirken, äußerte sich sein tiefstes Seelengeheimnis. Er erlebte die Frau als unbedingt rätselhaft, als Mysterium, aber dieses Mysterium hat zwei Gesichter: ein reines, heiliges, und ein unreines, verruchtes. Es kann den Mann über sich selbst emporheben oder aber ihn bei seinen Schwächen packen und diese so belasten, daß er an sich selber zu Grund geht. Die Frau, das war für ihn das Ewigweibliche, das uns hinanzieht, die »Weiber« erschienen ihm als die Urschuldigen, warum es mit dem Einzelnen und der Menschheit so langsam vorwärts geht. Das war in seinen persönlichen Erlebnissen begründet. Wenn er der Mutter gedachte, so sah er sie mit Besen und Kochlöffel tyrannisch das Hausregiment führen oder mit den Nachbarinnen klatschen. Vor diesem Unwesen der Weiber in Küche, Kammer und am Gartenzaun hatte er als Kind wie vor einer unheimlichen Hexenwelt Angst gehabt. Als Heranwachsender begann er es als »Weiberwirtschaft« stillschweigend zu verachten. Wie gut verstand er dagegen den Vater, der nach der Arbeit in der Dämmerstunde auf die Seite schlich und zum Schöppchen in einer nahen Wirtschaft ging, was dann bei seiner Rückkehr nicht selten von der Mutter mit Keifen bestraft wurde. Er nahm das stillschweigend hin, denn trotz allem wußte er, was er an der tüchtigen Frau hatte, die das schwer verdiente Geld zusammenhielt. Beide Töchter waren hübsch und putzsüchtig und hatten etwas von der lebhaften Intelligenz des Bruders. Sie wollten, wie man sagte, »hoch hinaus« und wurden darin von der Mutter mit einfältig nichtswürdigen Ratschlägen bestärkt. Eine heiratete bald den Besitzer des Geschäftes, in dem sie als Blumenbinderin beschäftigt war, und stellte binnen kurzem eine so nackte Verkörperung »bourgeoiser« Grundsätze dar, wie sie im erbeingesessenen Bürgertum nicht leicht vorkommt. Ein Dorn im Auge war ihr die sozialistische Laufbahn des Bruders, dessen sie sich schämte. Nach außen nur auf Repräsentation vor »den Kunden« im Laden bedacht, jener blumenkaufenden Menschenklasse, vor der sie Ehrfurcht erfüllte, und die sie in der Anrede stets in den Adelsstand erhob, hatte sie im Haushalt die »Weiberwirtschaft« ihrer Mutter übernommen und nutzte in ihrer Reinemachewut jedes Jahr mehrere, meist minderjährige billige Dienstmädchen bis zur Erschöpfung aus. Bei der anderen Schwester äußerte sich die aufsteigende Tendenz der Pausecker'schen Familie darin, daß sie »nur mit besseren Herrn ging«, und eines Tages, als sie von dem ehrenfesten Vater vor die Alternative gestellt wurde, eine anständige Arbeit zu tun oder ihre eigenen Wege zu gehen, die zweite Möglichkeit wählte und nun auf ihre Art in Wien irgendwie verkam. Ihr Bruder Friedrich hatte sie dort einmal besucht und ihr eine Tätigkeit mit größerer Selbständigkeit als daheim versprochen, aber sie hatte den »Herrn Parteisekretär« in einem nach Patschuli duftenden Mietszimmer von oben herab behandelt, ihn mit dem Frou-Frou ihrer seidenen Unterröcke zu verblüffen gesucht und dann erklärt, er sei ein Sozi, sie aber eine Dame, die es nicht nötig habe zu arbeiten, und es sei nur schade, daß gerade ihr Freund nicht da sei, ein »Von«, der sie demnächst heiraten würde. Der würde ihm schon den Standpunkt klar machen. Daraufhin reiste Friedrich Pausecker wieder nach Hause. Sie war seine Lieblingsschwester gewesen.
Die Frauen, die er bei seiner Tätigkeit kennen lernte, nötigten ihm oft durch ihren Ernst Achtung ab, aber auf seine Gefühle wirkten sie nicht. Keiner von seinen Kollegen, der selbst aus dem Proletariat aufgestiegen war, hatte eine Proletarierin geheiratet. Sie alle strebten nach der »bürgerlichen« Frau, und das Ergebnis war dann meist wieder jene kleinbürgerliche »Weiberwirtschaft«, die Pausecker seit seiner Kindheit kannte. Die dem kultivierten Bürgertum entstammenden Genossen hatten meistens gebildete Frauen. Bei ihnen war Pausecker allgemein beliebt; ihm aber schien, daß sie eben das besonders stark betonten, was ihm in der Partei fremd geblieben war, und was er nur im Interesse des praktischen Ziels hinzunehmen sich gewöhnt hatte, nämlich die wirklichkeitsfremde Ideologie, die graue Theorie, in deren Verfechtung merkwürdiger Weise gerade so gern die Frauen die Hauptsache sahen und sich bisweilen erbittert bis zum Blutdurst zeigten.
Wohl erquickte Pausecker in den Häusern dieser Frauen das ästhetische Niveau der Lebensführung, aber die Geselligkeit zersetzte sich auch hier immer in überspitzter Debatte, ja offenem Zank, so daß er, wenn er hinaus in frische Schneeluft oder unter sommerliche Bäume trat, nicht weniger aufatmete, als nach Parteiversammlungen. Dann hatte er das Bedürfnis nach Entspannung und entzog sich gern den Genossen, die noch zusammen in ein Wirtshaus gingen. Lieber setzte er sich allein in einen Bierkeller mitten unter das in der großen Mehrheit nicht sozialistische Volk und ließ es sich wohl sein, im Sommer im Freien, im Winter in weiten Hallen bei Bier, Zigarre und Musik. Hier knüpfte er auch wohl gelegentlich weibliche Bekanntschaften an; meist waren es Mädchen mit ausgesprochen bürgerlicher Geschmacksrichtung, die aber eine bessere Stellung vorläufig der eigentlichen »Weiberwirtschaft« entzog. Sie kleideten sich gefällig, liebten Musik und Theater, lasen wohl auch einmal einen guten Roman, aber verschmähten politische Traktate wie unschmackhafte zähe Speisen. Pausecker fand das geradezu erfrischend! Er gewöhnte sich daran, ein Doppelleben zu führen. Als er Mitte der Dreißig war, befand er sich in der Lage der meisten Männer zwischen Alpen, Rhein und den nördlichen Meeren: er hatte ein oder das andere Mal ohne vollen Erfolg geliebt und des öfteren Sinnenfreude ohne eigentliche Liebe kennen gelernt.
Im Ausland, besonders in England, wo der Sozialismus nicht gehässig und daher längst gesellschaftlich ist, war Pausecker auch mit bürgerlichen Frauen in Berührung gekommen. Er fühlte dort ein sicher in sich gegründetes Sein, für das individueller Wohlstand die natürliche Ausdrucksform ist, ja, man konnte Sozialist sein, ohne seine höhere Gefühlskultur aufzugeben. Dadurch zwang man die Aufsteigenden diese anzunehmen, statt im Proletariertum selbst einen Ruhm zu suchen. Da war die »Weiberwirtschaft« nicht durch die Theorie, sondern durch die Ausbildung eines höheren individuellen weiblichen Seins überwunden.
Trotz diesen schmeichelnden Eindrücken blieb indessen sein Gemüt unbestechlich, sein Auge klar. Mit starrem Staunen hatte er jene Heere nichtsnutziger Mädchen und Frauen betrachtet, die in Mitteleuropa erst seit dem Krieg in ebenso handgreifliche Erscheinung getreten sind, wie in den angelsächsischen Ländern, jene Töchter und Gattinnen schnell verdienender Männer, die alle öffentlichen Orte, Straßen, Bahnen, Hotels, Theater, laut auf sich aufmerksam machend, überfluten. Die meist die Stirn bis zur Nasenwurzel bedeckende Haartracht oder Kopfbedeckung ließ als Mittelpunkt des Gesichts einen stets zu inhaltlosem Geschwätz oder dummem Gelächter offenen, nicht selten geschminkten Mund erscheinen. Ihre Hauptbeschäftigung war das Einkaufen von kostspieligen Nichtigkeiten, Bonbonnieren, Puppen, Grizzlybären u. dergl., die sie in ihren in rosa-weiße Krallen auslaufenden Händen trugen. Öffentlich zogen sie Spiegel und Puder hervor und bearbeiteten damit die affigen Frätzchen. Ihre geistige Nahrung waren halbangelesene Magazine und Damenzeitschriften von unbeschreiblicher Albernheit, ihr Ideal die Kinodiva als Freundin oder ein guter Sportsmann als Gatte. Alles an ihnen war dirnenhaft, nur fehlte ganz jene menschliche Tragik, die auch die niedrigste Dirne umweht, weil sie durch ihre Preisgabe jeden Augenblick sich selber aufs Spiel setzt. Pausecker sagte sich, wenn er dieses Gelichter in den Straßen und Untergrundbahnen betrachtete: »Solang es das gibt, ist mir unbegreiflich, wie ein einigermaßen verständiger Mensch nicht Sozialist sein kann.«
Das innerlich nun ganz verworrene Verhältnis Pauseckers zu seiner Partei wurde bei seiner letzten Rückkehr von Amerika dadurch plötzlich geklärt, daß acht Tage später der Krieg ausbrach. Diesen gerade hielt er selber für die Folge langer bourgeoiser Mißwirtschaft. Andererseits erschien er ihm als die schicksalgegebene, nie wiederkehrende Möglichkeit, das gesellschaftliche Außenseitertum des Proletariers in eine erlebte Zugehörigkeit zum ganzen Volk zu verwandeln. So begann er eine Politik, deren Ziel die Überwindung, wenn nicht des noch unvermeidlichen Klassenkampfes, so doch des Klassenhasses war, durch loyale Anerkennung der Tatsache, daß im Augenblick die Partei hinter dem Vaterland zurückstehen müsse. Der Erfolg war seine Berufung in das letzte Ministerium Holthoff. Auf Holthoffs dringenden Rat behielt er sein Portefeuille, als jener selbst aus außenpolitischen Gründen zurücktrat.