Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXX

Am folgenden Morgen erhob sich Melusine früh, um nach dem Wetter zu sehen, von dem der geplante Ausflug abhing. Die ersten Sonnenstrahlen säumten schwarze Wolkenhaufen am mittleren Himmel mit kupfern funkelndem Rand. Mit wenig Hoffnung legte sie sich nochmals nieder, und als sie nach zwei Stunden wieder aufstand und das Fenster öffnete, hatten sich die Wolken dicht zusammengedrängt. Von den zäh zwischen den Bergen hängenden Nebelschwaden lösten sich Schleier, die leise in das Tal sanken. Auf den Höhen war Neuschnee gefallen. Zwar regnete es nicht andauernd, aber eisig nasse Lüfte sandten ihren unwirtlichen Hauch in das Tal hinab.

Im Frühstückszimmer von Floridsburg knisterte der Kamin. Die Offiziere und Graf Twelen waren eben fortgefahren. Koloman räumte ihre Tassen weg, als sich gerade die Brüder Holthoff und Melusine in dem behaglichen Glaserker trafen, wo gewöhnlich das Frühstück genommen wurde. Melusine blickte, noch nicht ganz ohne Hoffnung, nach den Bergen, wo sich von Zeit zu Zeit ein trügerisches Stück Bläue zeigte. Zu ihrem großen Leidwesen mußte aber die Besteigung des Niederkofel schließlich doch aufgegeben werden. Nichts wäre ihr heute lieber gewesen, als sich bis zur Erschöpfung der letzten Kraft körperlich anzustrengen.

Bald erschien auch Prinz Amadeus fröstelnd und wärmte sich die Hände am Feuer. Espérance kam niemals zum Morgentee, und der Prinz, der es nicht liebte, im Zimmer zu frühstücken, pflegte, wenn er bei ihr zu Gast war, darauf zu bestehen, daß sie an ihren bequemen Vormittagsgewohnheiten festhielt.

Angesichts des hoffnungslosen Wetters bot sich, während man um den Teetisch saß, Erich an, nach dem Mittagessen den Prinzen, Melusine und Ferdinand in seinem Auto nach Sensburg zu bringen, um dann baldigst nach Rolfsburg zurückzukehren, wo er den rechten Augenblick zum Handeln abwarten wollte. Während man noch darüber beriet, trat Espérancens Zofe ein mit der Bitte, Erich möge doch gleich nach dem Frühstück zu ihrer Herrin hinaufkommen.

Er fand sie im Salon. In einem Spitzenhäubchen, flüchtig gepudert, in meergrünem Morgengewand trat sie ihm entgegen und teilte ihm in fast kindlich zerfahrener Zusammenhanglosigkeit, die ihrer gewohnten Haltung so sehr widersprach, die Ergebnisse ihrer nächtlichen astrologischen Grübeleien mit.

Er war davon aufrichtig gerührt. Zum erstenmal im Leben sah er in ihr eine alternde Frau, er ergriff ihre Hand, und unwillkürlich geschah ihm, was zwischen ihnen nur in seltenen Augenblicken und jetzt schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen war, daß er sie duzte.

»Du weist,« sagte er, »daß ich diese Dinge, von denen ich nichts verstehe, deshalb nicht leugne. In einer Lehre, auf welche die Menschheit seit Jahrtausenden immer wieder zurückkommt, muß eine Wahrheit liegen. Also nicht als Skeptiker und noch weniger aus Leichtsinn lehne ich deine Warnung ab, aber ich muß und will diesen Weg gehen; wenn ich dabei persönlich mein Ende finde, so ist das kein Beweis, daß er falsch war, und der Prinz, der unter seiner liebenswürdigen Maske viel ernster denkt, als ihr alle wißt, ist ebenso entschlossen.«

»Ja, ja, ich weiß es,« erwiderte sie kleinlaut, »und das macht mich so unglücklich.« Plötzlich aber rüttelte sie sich auf und sagte entschlossen: »Weiß Gott, auch ich bin nicht feige, ich habe das Blut der Vendée in den Adern. Mein einziger Sohn ist in den Krieg gegangen, ohne viel zu überlegen, und als Mutter habe ich das Schicksal als Gottes Wille hingenommen, aber den fühle ich hier nicht. Was ihr tun wollt, das tut ihr aus euch selbst. Ungerufen fordert ihr das Schicksal heraus. Überhaupt das Wort Schicksal, das mag ich gar nicht hören. Warum ist denn unser Heiland auf die Welt gekommen? Hast du je darüber nachgedacht, Erich? Er hat uns doch von diesem gräßlichen Schicksal erlöst. Heute Nacht habe ich wieder einmal richtig gebetet, nicht nur so, wie man es täglich tut, sondern richtig, verstehst du das? Hast du überhaupt beten gelernt, Erich? Ich glaube nicht. Du bist ein Heide, und das ist es, was ich an dir oft nicht ertragen kann. Ich fürchte mich manchmal vor dir.«

Er drückte sie an sich.

»Damals, in unserer Jugend, Espérance, als du dich nicht vor mir fürchtetest, sondern mein Schicksal in die Hand nahmst, da war ich allerdings nicht viel mehr als ein Heide. Heute weiß ich auch, warum Christus in die Welt gekommen ist. Du sagst es ganz recht: um uns von dem gräßlichen Schicksal des Heidentums zu erlösen. Durch ihn wissen wir, daß das Schicksal Gottes Wille ist und darum nichts Fremdes außer uns. Wenn wir ihn als Stimme in uns selber hören und erfüllen, gilt es gleich, ob wir leben oder sterben. Die Art der Frauen mag mehr Hinnehmen sein; darin bist du immer tapfer gewesen, und das Hinnehmen hast du mich damals gelehrt, aber es gibt auch ein aktives Schicksal, ein Tun müssen, weil man der ist, welcher man ist. Gewiß wäre ich frei, diese Stimme zu überhören, könnte zufrieden sein, aus dem Zusammenbruch Gesundheit, Wohlstand und ein paar liebe Freunde gerettet zu haben, mit denen sich auch jetzt vielleicht noch zwei Jahrzehnte behaglich leben ließe, aber ich will das nicht, Espérance. Ich brauche dazu keine Begriffe wie Pflicht und Ehre, mit denen der Prinz sich das zu begründen versucht, wozu ihn sein Inneres treibt, aber ich kann dir nur sagen, je mehr ich in mich hineinlausche – und das ist nicht viel anders, als wenn du richtig betest, wie heute Nacht, – desto deutlicher höre ich die Stimme, die mich vorwärts treibt. Ich bin sicher, auch du hast heute Nacht etwas gehört, und zwar etwas anderes als das, was du mir vorhin gesagt hast.

Espérance zitterte.

»Woher weißt du das?« fragte sie erschüttert. Konnte er denn in den Seelen lesen?

Nein, nein, er sei kein Zauberer, kein Gedankenleser und kein Astrolog, er habe nur ein wenig verstehen gelernt, auf welche Weise die Wege Gottes auf dieser Welt sich unserem Innersten offenbaren.

»Dann sage mir, was ich tun soll.«

Wie ihr denn heute Nacht nach ihrem Gebet zumute gewesen sei?

»Erst habe ich mich schlaflos bis gegen Morgen umhergewälzt, aber nachdem ich gebetet hatte, bin ich in tiefen Schlaf versunken.«

»Und wie war es heute Morgen beim Aufwachen...?«

Da habe sie wieder an alles das denken müssen, und deshalb sei sie wieder ganz verzagt geworden.

»Nun siehst du, ist das nicht deutlich genug? Du sagtest vorhin, daß du in dieser Sache die Stimme Gottes nicht hörst. Du hast sie gehört. Sie hat dir gesagt, du sollst das Kommende auf dich nehmen, und da wurdest du ruhig und konntest schlafen, aber sie hat dir gewiß nicht gesagt, du solltest mich warnen. Als du das tatest, dachtest du nur an menschliches Scheitern und Gelingen, worauf es doch gar nicht ankommt, und im Gedanken daran wurdest du sofort wieder unglücklich.«

»Erich, du bist ein besserer Christ als ich,« erwiderte sie, ihn voll Bewunderung anblickend. Ob er denn auch an ein Weiterleben nach dem Tode glaube?

Er sei sicher, daß für jeden, dem die innere Welt hier schon eine Wirklichkeit bedeute, ja die wahre Wirklichkeit, sich durch das leibliche Sterben gar nicht soviel verändert. Das Äußere, wozu aber auch alle Gedanken und Gefühle gehören, sei nur ein Sinnbild des Innern, und wenn man mit dem Tod sein weltliches Werk vollendet hat, gleich ob als Sieger oder Besiegter, dann könne man dies alles ruhig dahinfahren lassen.

»Wem aber die Welt die eigentliche Wirklichkeit ist, was wird aus dem?« fragte Espérance gespannt.

»Das ist eine Frage an deinen Beichtvater.«

Oh, seine Antwort wußte sie: Die Weltkinder kommen ins Fegefeuer oder in die Hölle.

»Nun, vielleicht ist es so,« antwortete Erich, ihr lächelnd in die Augen blickend, die wie die eines Kindes zu ihm aufschauten. »Überlege dir doch einmal, wie einem geistigen Wesen zumut sein muß, das in dem Irrtum befangen ist, die Materie sei die Wirklichkeit, zu der es daher hoffnungslos drängt, aber das Mittel, sie zu erreichen, der Körper, ist nicht mehr da. Einen solchen Zustand kann man schon Hölle nennen.«

»Ja, ja,« sagte sie ruhig, »jetzt kann ich wieder glauben.«

Ob sie denn das nicht mehr gekonnt habe? »Nicht mehr richtig, und das hat mich so unglücklich und vor allem so verzagt gemacht.«

»Weil das Glauben allein uns heutigen Menschen nicht mehr genügt, wir müssen auch verstehen. Der große Fehler der Kirche war, daß sie immer die, welche auch verstehen wollten, verdammt hat. So sind die Frommen nur zu oft einfältige Schäflein geworden, die Denker haben mehr und mehr die Gnade verloren, werden immer spitzfindigere und unweisere »Wissenschafter«, und die geistblinden Männer der Tat taumeln ohne das Licht der Erkenntnis im Chaos der Zufälligkeiten.«

»Jetzt verstehen wir uns wieder,« sagte sie, »und von jetzt an kann ich wieder treu zu dir halten, mag kommen was da will.«

Inzwischen schlenderten der Prinz, Ferdinand und Melusine, in Regenmäntel gehüllt, über die feuchten Wege des Parks. Die Luft war voll nassen Dunstes, wie in einer Waschküche, doch kalt.

»Nun sind also die Würfel gefallen,« sagte Ferdinand nach einigen Minuten allseitigen Schweigens, aber die beiden andern gingen auf diese Worte nicht ein.

Der Prinz schlug vor, die amerikanischen Regenbogenforellen anzuschauen, die vor einiger Zeit in einen Teich gesetzt worden waren. Bei dem trüben Wetter kämen sie gern an die Oberfläche. An dem fahlen Wasser riefen sie den alten Fischmeister aus seinem Holzhaus und waren froh, daß er, während er sie auf nassem Steg bis fast mitten in den Teich führte, weitschweifige Schilderungen von dem Leben und der Vermehrung der Forellen und Saiblinge zum Besten gab.

So ging eine Stunde dieses trübseligen Vormittags herum. Dann zog sich der Prinz in sein Zimmer zurück. Ferdinand hoffte nun auf ein Gespräch mit Melusine, aber sie entwich ihm wiederum und ging ebenfalls in ihr Zimmer.

Ferdinand irrte allein umher, blickte in die Wirtschaftsräume und die dämmerigen Ställe. In dem weiten niedrigen Schafstall wurde sein Malerauge von dem Gewimmel der Hunderte von graubraunen Tierrücken gefesselt, auf denen das Zwielicht spielte. Er nahm sein Skizzenbuch hervor und zeichnete mit einigen stilisierenden Linien eine wollige Flut. Dann schaute er die Zeichnung lange sinnend an und schrieb darunter: »Meer«. Auf seinem Zimmer betrachtete er sie nochmals und ergänzte die Unterschrift: »Meer vor dem Sturm«.

Bei Tisch sah Espérance auffallend ungünstig aus. Man bemerkte, daß sie seit gestern Abend viel geweint hatte. Das Gespräch war sehr einsilbig. Nach dem Essen bat sie den Prinzen hinauf in den Salon und wünschte ihm mit Zärtlichkeit Glück.

»Ich weiß jetzt, das es so sein muß,« sagte sie, »und bin auf alles gefaßt.«

Als er ihre Hand küssen wollte, ergriff sie seinen Kopf. Sie küßte ihn, der etwas kleiner war als sie, auf die Stirn und flüsterte:

»Gott segne dich, Amadeus.«

Er wischte sich die Augen. Dann geleitete sie ihn hinunter zu dem Auto, wo Melusine und Ferdinand mit dem Chauffeur Wildgruber warteten. Koloman holte noch schnell eine Decke, dann rollte der Wagen davon.

Kurze Zeit blickte sie ihm nach, während er durch die Lindenallee fuhr. Die dichte Himmelsdecke war durchbrochen und wie aus einem umgekehrten Krater troffen zwischen Wolkenzacken Wasserströme in das Land. Espérance kehrte in das einsame Schloß zurück. Hinter der Zimmertür Tante Olgas tobte das Grammophon in einem Czardas.


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