Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XLVI

Ferdinand und Melusine erreichten ihr Reiseziel noch am Abend. Er begab sich in das Gasthaus, wo Prinz Amadeus wohnte. Am anderen Morgen schickte er diesem einen Brief in sein Zimmer mit der Frage, ob er es wagen dürfe, ihm noch einmal unter die Augen zu treten. Der Prinz ließ ihn zu sich bitten, und als Ferdinand hereintrat, umarmte er ihn und sagte:

»Sprechen wir nicht von dem Vergangenen, mein armer Freund, ich weiß, wie Sie gelitten haben.«

Erich hatte Melusinen eigentlich schon am gestrigen Abend zurückerwartet, indessen beunruhigte ihn ihre begreifliche Verspätung noch nicht. Die Nachricht von dem Ausgang des Prozesses und den Verhaftungen Melusinens und Ferdinands war in der kleinen Landstadt im Lauf des Tages bekannt geworden, und der Primararzt des Krankenhauses sah mit Unruhe dem folgenden Morgen entgegen, wo er seinem noch schwachen Patienten die Mitteilung machen müßte. Da kehrte nun in der Nacht Melusine zurück. Sie trat morgens freudig zu Erich herein, um ihm den Freispruch des Bruders und seine Anwesenheit mitzuteilen.

»Geh' und hole ihn gleich,« rief er aus, ehe sie ihm weiteres mitteilen konnte. »Sag ihm, wie ich über alles denke. Ich habe verziehen, und wir wollen sprechen, als mache er mir einen gewöhnlichen Krankenbesuch.«

Seit einiger Zeit durfte Erich mehrere Stunden des Tags aufsein. Während Melusinens Abwesenheit kleidete er sich an. Nach einer halben Stunde brachte sie Ferdinand herein. Erich saß, noch etwas blaß, in einem Lehnstuhl.

Es hatte in der Nacht geregnet. Das Fenster des Krankenzimmers stand offen. Draußen zwitscherten in frischer Oktoberbläue Vögel aus dem rotgelben, schweren Laub eines Kastanienbaumes, den leiser Wind bewegte.

Ferdinand stürzte sich vor Erich auf die Knie und küßte die blassen, mager gewordenen Hände, auf denen sich alle Adern abzeichneten.

»Steh auf, mein Lieber,« sagte dieser mit sanfter Stimme. Ferdinand erschauerte. Er blickte ihm in die dunklen Augen. Wie hatte er darin je einen lauernden Indianerblick sehen können? Sie waren milde, wie bei den Buddhastatuen daheim in Sensburg.

»Du siehst«, fuhr Erich fort, »ich lebe und ich leide nicht. Der Arzt verspricht, daß ich nächster Tage ein wenig in den Garten gehen darf.«

Trotzdem war Ferdinand voll Unruhe. Erregt, aber entschlossen sagte er:

»Erich... Du willst, daß von dem Vergangenen nicht gesprochen wird. Gut, lassen wir es, ich darf Dich ja auch heute noch gar nicht um Verzeihung bitten, aber ich habe jetzt erkannt, wie ich sie vielleicht bald gewinnen kann.«

Er berichtete nun dem Bruder von seiner und Melusinens Verhaftung nach dem Prozeß und der Tat Herbert Waldeggs. Eben hatte er auf der Straße ein neues Telegramm gelesen mit der Nachricht, daß in Rolfburg gestern Abend Morgenthau die Regierung wieder übernommen habe. Die Dinge lagen also wieder wie früher vor seinem Schuß.

Erich hörte diese Nachricht mit überraschtem Interesse. Ferdinand beugte sich zu dem Ohr des Bruders und sprach leise aber eindringlich:

»Erich... hör mich an... ich hatte mich wegen meiner Tat selbst zum Tod verurteilt, aber die Hunde haben mich um meine Strafe betrogen, sie sollen es bereuen. Ich nehme jetzt dieses Leben wieder an, aber im Dienst für Deine Sache. Falle ich dabei, dann ist es mir recht, bleibe ich am Leben, dann will ich den Freispruch des Schicksals anerkennen.«

»Was hast Du denn vor?« fragte Erich unruhig, die fiebernde Hand Ferdinands erfassend. Dieser flüsterte ihm in's Ohr und zog zugleich Melusinen an der Hand herbei, damit sie es hören konnte:

»Ich werde den Morgenthau erschießen ... hört Ihr... dann ist der Weg wieder frei für Dich... Du brauchst dann nur zu kommen und das ganze Land wird hinter Dir stehen...«

Melusinens Augen leuchteten auf.

»Ferdinand«, rief sie, »das wäre die Rettung«.

Erich griff beider Hände und sagte:

»Ihr seid ja wahnsinnig alle beide. Du willst also, nur um Dein Gewissen zu beruhigen, noch einmal schießen...?«

»Aber dieses Mal auf den Richtigen«, brachte Ferdinand gepreßt hervor.

»Es gibt keinen Richtigen und keinen Falschen«, erklärte Erich.

Beide schauten ihn schweigend an, als erwarteten sie, von ihm ein Orakel zu hören.

»Was Du mir da von Morgenthau sagst,« fuhr er ruhig fort, »ist allerdings sehr wichtig, und wenn Du mir Deine Kräfte zur Verfügung stehen willst, so nehme ich sie an. Aber dann mußt Du etwas ganz anderes tun.«

Erich richtete sich in dem Lehnsessel auf. Er sah aus wie früher. Sein Auge leuchtete lebhaft, aber Ferdinand bemerkte auch jetzt darin nichts mehr von einem Indianerblick.

»Sobern lebt hier in der Nähe auf einem Gut«, sagte er leise. »Während Melusine ihn hierher holt, versuchst Du an einer verborgenen Stelle über die Harringische Grenze zu gehen. Es ist Herbst. Niemand wird Dich erkennen, wenn Du abends in einem Radmantel mit aufgeschlagenem Kragen in Rolfsburg erscheinst. Gehe in Pauseckers Wohnung und frage ihn, ob er zusammen mit Sobern die Ordnung wieder herstellen will«.

»Und der Prinz? Wird Pausecker für die Monarchie zu haben sein?«

»Um die Frage handelt es sich nicht mehr. Der Prinz hat sich, wie Ihr wißt, nie zur Krone gedrängt. Jetzt geht es nur noch um die Einrichtung eines geordneten Staatslebens. Wir haben ja oft darüber gesprochen, so daß Du Pausecker weiter nichts zu sagen brauchst. Wenn möglich, bringe ihn gleich hierher, damit er sich mit Sobern für alle Fälle besprechen kann.«

»Ich tue alles für Dich«, antwortete Ferdinand, »aber welche Rolle behältst Du Dir selbst dabei vor?«

»Gar keine,« erwiderte Erich, »ich muß jetzt in den Hintergrund treten.«


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