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Espérance Waldegg hatte sich während des Kriegs, von wechselnden Gästen umgeben, auf ihr Schloß Floridsburg am Fuß der Harringer Alpen zurückgezogen. Sie war fest davon überzeugt, daß ihr der revolutionäre Pöbel nichts anhaben würde. Wie denn? Diese Haufen hatten Führer, und diese Führer waren Männer, und mit Männern ließ sich doch reden. Sie würde sie einfach im Fall eines unerwarteten Besuchs zum Frühstück bitten und sie bezaubern, wie es ihr bei dieser auf Fröhlichkeit und Lebensbehagen eingestellten Bevölkerung vom Fürsten bis zum Bauern, vom Minister bis zum Mann auf der Straße, zeitlebens gelungen war. Schlimmsten Falls ginge man aber zur Guillotine wie die Marquisen in der Conciergerie, lachend und in guter Gesellschaft.
Natürlich würde sie die zum Teil gewiß berechtigten Forderungen der Leute anhören – hatten sie denn nicht recht, nach oben zu streben, wo allein das Leben einen Sinn hat? – dann die Massen durch einen schnell improvisierten Bal champêtre im Park versöhnen und sich am Arm des gefährlichsten Rädelsführers auf dem Balkon zeigen, so wie einst die Königin Marie-Antoinette mit Mirabeau, während er ihr die Hand küßte, in Versailles auf der Altane vor dem von Paris heranflutenden Volk erschienen war. Diese Ausflucht dünkte die noch schöne Vierzigerin, nachdem sie während des ganzen Revolutionswinters von ihr mit allen denkbaren Einzelheiten ausgeschmückt worden war, so reizend, daß ihr fast etwas fehlte, als Monat auf Monat verging, ohne daß die Revolution von ihrer hübschen Einsamkeit in Floridsburg Notiz nahm.
Espérance war eine stattliche, amazonenhafte Erscheinung geworden. Die ein wenig über die Unterlippe hervorragende Oberlippe und die kräftig geschwungene Nase verliehen ihr ein Adlerprofil, während die lichten blauen Augen dem Blick etwas anheimelndes, geradezu gemütliches gaben, so daß jeder in ihrer zunächst Abstand betonenden Nähe, war er erst einmal in ihre Atmosphäre eingetreten, sich durchaus in seinem Fahrwasser befand, sein wahres Wesen zeigte und ihr die Möglichkeit gab zu einer sehr umfassenden und treffenden, wenn auch allzusehr vereinfachenden Menschenkenntnis. Ihr blondes Haar mit dem leicht rötlichen Schimmer und die zwar nicht kleinen, aber klassisch geformten Hände hatten vor dem Krieg in der Gesellschaft Europas für unübertrefflich gegolten. Ihr Ruf war – sagen wir: etwas verschwommen, und zwar nicht darum, daß man ihr eine bestimmte Untreue gegen ihren Gatten nachsagen konnte, sondern weil man sich ganz und gar nicht vorzustellen vermochte, daß diese das Dasein so offensichtlich liebende, selbstbewußte Frau sich irgendeine Laune versagt haben sollte; und wie könnte denn dieses lebhafte Temperament keine Launen gehabt haben in der Gesellschaft des im ersten Kriegsjahr gefallenen, ganz vortrefflichen, aber nicht sehr anregenden Grafen Waldegg? Die Gerüchte, die von Zeit zu Zeit in Rolfsburg über sie auftauchten, waren indessen so unbestimmt und einander widersprechend, daß wir uns nicht überreden können, sie für wahr zu halten. Wir verweisen sie vielmehr ins Reich der Fabel.
Espérances Sohn Herbert, der als Freiwilliger am Krieg teilgenommen hatte, war mit einer langwierigen, aber ungefährlichen Wunde davon gekommen und lebte zur Zeit in der Hauptstadt eines neutralen Landes, wo er nach dem Wunsch seiner Mutter die Welterziehung und das Vergnügen suchen sollte, die seiner Jugend gebührten, zur Zeit aber in der Heimat nicht zu finden waren.
Geist sprach man Espérance nicht ganz mit Recht zu. Noch immer war ihr Vorzug vielmehr eine geradezu entwaffnende Natürlichkeit, deren überraschende Äußerungen unwiderstehlich originell wirken mußten in einer Zeit, wo sich jeder bemüht, genau das zu sein, was man aus Standes- oder Berufsrücksichten von ihm erwartet und wo daher schon für eigenartig und geistreich gilt, was nur unbefangen ist. Espérance blieb freilich immer in den Grenzen der großen Dame und tat und sagte nichts, was eigentlich aus diesem Rahmen herausfällt, aber sehr vieles, was andere Damen innerhalb dieses Rahmens heute aus Angst vor dem Urteil der anderen weder zu tun noch zu sagen wagen, so lange sie nicht ein Beispiel dafür in ihrer näheren Umgebung gesehen haben.
Schloß Floridsburg, südöstlich vom Hochgebirg, nordwestlich von Heide und Moor begrenzt, war ein stattlicher, weißer Barockbau, dessen zwei Seitenflügel in rechtem Winkel zum Mittelbau standen, mit dem sie einen Hof bildeten. Ein kunstgeschichtlich berühmtes, vergoldetes Gitter aus Schmiedeeisen schloß ihn gegen die hundertjährigen Eichen und Linden des weitläufigen Parkes ab, in dessen Lichtungen man Fasanen begegnete. Dies war Espérances Witwensitz. Bald empfing sie hier wieder ihre intimeren Freunde, unter denen nach wie vor Erich Holthoff, der nie vergaß, daß er ihr das Finden seines Lebenswegs verdankte, und Prinz Amadeus die nächsten waren. Zwischen ihnen bildete sie das Bindeglied. Ohne sie hätten sich diese beiden Männer kaum gefunden, so aber gehörte der Prinz für den viel beschäftigten Staatsmann in jene heitere Welt der Freundin, in der er immer wieder seine Kräfte sammelte. Für den Prinzen aber blieb Erich Holthoff die Brücke zu der tätigen und geistigen Welt, deren meist einseitige Vertreter sein universeller, urbaner Geist sonst schwer aushielt. Hingegen zog ihn Erichs sich nie selbst mit den Geschäften identifizierendes Darüberstehen ungemein an und erfüllte ihn mit Bewunderung. Diese teilte auch Espérance aus vollem Herzen. Längst waren die Rollen zwischen beiden, ziemlich Gleichalterigen vertauscht. Anfangs hatte ihr das sofort in ganzer Vollkommenheit aus der Mädchenknospe hervorbrechende Frauentum die naturhafte Überlegenheit über den Werdenden gegeben. Dann aber erlebte sie das höchste Glück der Geliebten und Mutter zugleich, daß das, was ihre Liebe erschaffen hatte, in die überlegene Zone des Geistes hineinwuchs, welche die Frau allein nicht erreicht, in der ihr indessen eine schöpferische Liebe das Bürgerrecht verleiht.
Soweit es die Mittel erlaubten, versuchte sie in Floridsburg auch während des Kriegs die Geselligkeit zu erhalten, zumal sie immer einige Zimmer für erholungsbedürftige Verwundete zur Verfügung hielt. Im ganzen hatte sie Glück mit der Auswahl. Sie beschränkte sich nicht etwa auf Offiziere oder Standesgenossen, nahm aber keinen auf, aus dessen Vorgeschichte sie sich nicht hinsichtlich seiner »Stubenreinheit« ein Urteil bilden konnte. Wenn eine Photographie zu haben war, entschied ihr Menscheninstinkt schnell nach dem Gesichtsausdruck, und so kam tatsächlich keiner nach Floridsburg, mit dem man nicht gerne ein wenig am Kamin plauderte oder im Park spazieren ging.
Daß die gesellschaftlichen Schutzwände zwischen den Ständen wie im Heer, so daheim, merklich dünner wurden, war eigentlich ganz nach ihrem Geschmack. Voll Interesse ließ sie sich Friedrich Pausecker im Theater zeigen und lorgnierte aufmerksam einen Mann mit mennigrotem Gesicht, schlaffen triefenden Lippen und einem Bauch wie ein Faß. Sie verhehlte ihren Abscheu nicht und fragte, wer denn der gut aussehende und vertrauenerweckende Herr neben jenem Plebejer sei, und nun stellte sich heraus, daß eben dieser der sozialistische Minister, das Faß hingegen ein völkisch politisierender Gutsbesitzer war, der davon träumte, nach dem Krieg auf seinem Besitz Teutenburg zwecks deutscher Wiedergeburt ein rein arisches Menschengestüt zu errichten.
Espérance wußte, daß Holthoff jenen Sozialdemokraten dem König zur Berufung in sein Ministerium empfohlen hatte und daß er des Lobes voll war über die fruchtbare Zusammenarbeit mit ihm. Sie bat Erich, ihn zu ihr in die Loge zu bringen. Nach kurzem Gespräch lud sie beide Männer zum Tee in ihre Stadtwohnung ein. Pausecker ließ sich von ihr fast knabenhaft bezaubern, antwortete ihr aber auch gern mit einem ihren Scherzen gewachsenen Mutterwitz, der stets das menschlich Gemeinsame fand, und gewann sie ganz und gar. Kunstwerke, besonders Bilder und gute Musik, entzückten ihn, vor allem aber einige kleine Neffen und Nichten Espérances, die wohlerzogen und appetitlich, zugleich aber ganz unbefangen waren, ohne jede Verlegenheit vor dem fremden Besucher und doch voll Bescheidenheit. Eher war er selbst, der vor Erwachsenen seine Sicherheit längst nicht mehr verlor, vor diesen blumenhaften Wesen etwas verlegen. Er wußte nicht recht, wie er sie anreden sollte. Als sie ihn aber ganz einfach duzten, fragte er sie nach ihren Vornamen und sie nahmen ihn gleich als ihren neuen Onkel an.
Er war zu feinfühlig, um die Gedanken, die Espérancens Umgebung in ihm erweckte, allzu lebhaft zu äußern, aber Erich las sie aus seinen leuchtenden Blicken, die zu sagen schienen: »Nun das alles ist doch wert, daß es erhalten bleibt, ja sich noch weiter ausbreitet. So einfach wie die Parteigenossen sich die Dinge vorstellen, liegen sie eben doch nicht. Proletarische Kultur an Stelle der aristokratischen und bürgerlichen? Das hat wohl noch eine gute Weile.«
Er sprach gerne und gut, besonders, wenn seine Zigarre ordentlich brannte, und wußte sehr anschaulich und humoristisch aus feinem reichen Leben zu erzählen. So wurde er bald in Floridsburg ein häufiger und gern gesehener Gast.
Während des Krieges war dort so etwas wie ein Salon entstanden. Espérance erklärte gerne, gute Gesellschaft sei eine Mischung von Aristrokaten, die etwas Geist besaßen, mit denen unter den gescheiten Menschen, die Lebensart hatten, und damit behielt sie in der Praxis recht gegen die Vorurteile der allzuguten Erziehung, die nur Klüngel, und der allzuschlechten, die nur Zweckverbände oder Horden zu bilden vermag. In Floridsburg blühte daher menschlich-lebendiges geselliges Leben, ohne die Ersatzmittel des Sports, Tanzes und Kartenspiels. Die Menschen hatten sich etwas zu sagen und wollten vor allem noch etwas voneinander hören; dabei hätten sie solche Notbehelfe einer erstarrten Geselligkeit als empfindliche Störung empfunden. Exklusiv war man nur gegen Langeweile, auch wenn sie vornehm war, und gegen Geschmacklosigkeit, auch wenn sie sich mit Begabtheit verband.