Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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VI

Die Art, wie Erich die neuerliche Änderung seiner Entschlüsse dem alternden Vater mundgerecht machen sollte, wurde ihm von den Umständen vorgeschrieben. Das erste, was ihm die tief niedergeschlagene Mutter bei seiner Heimkehr einschärfte, war, daß der Vater durch nichts aufgeregt werden dürfe, da er sich in beständiger Gefahr befand, einem Herzschlag zu erliegen. Erich war erschüttert, den noch vor kurzem tätigen und lebensfrohen Mann fahl und gedunsen wiederzufinden. Er schien nicht tief davon berührt zu werden, als der Sohn ihm mitteilte, er habe sich überzeugt, daß es besser sei, vor dem endgültigen Eintritt in die Bank seine juristischen und nationalökonomischen Studien zu vollenden, und zwar in Rolfsburg, wo die Fakultät besonders gut sei und er durch die Rothschilds wertvolle persönliche Beziehungen habe. Was war auch dagegen ernstlich einzuwenden? Fabian Holthoff hatte gehört, daß dergleichen heute üblich war und mancher große Bankherr eine Universitätsvorbildung und den Doktortitel besaß. Es war nicht anzunehmen, daß er den Augenblick noch erlebte, wo Erich, statt in das Bankfach zurückzukehren, in Harringen Referendar werden würde.

Inzwischen vollzog sich der Briefwechsel zwischen Erich und Espérance ganz nach ihrer Vorschrift. Es hatte schon etwas auf sich, daß sie sich gelegentlich eine Analphabetin nannte. Sie mochte, seit sie als junges Mädchen das bayrische Salesianerinnen-Kloster in Zangberg verlassen, kaum mehr ein Buch zu Ende gelesen haben. Daher fürchtete sie den hochdeutschen schriftlichen Ausdruck ein wenig und schrieb meist französisch. Erich bat sie gleich in seinem ersten Brief, sich doch des Deutschen zu bedienen, wie in ihrem mündlichen Gespräch. Sie erfüllte seinen Wunsch, aber nun glich ihr Ausdruck nicht im mindesten dem ihrer Rede. Er war steif und gezwungen. Sie hielt sich an feststehende Redensarten, die im französischen von einer geistreichen Tradition geformt sind, im Deutschen jedoch willkürlich und platt, oft sogar ganz ausgesprochen geschmacklos wirken. Sie liebte die Landschaft der Insel Wight »heiß«, beklagte sich aber über den Mangel an »idealer Weltanschauung« unter dem Publikum des Hotels, das sich ganz einem »schalen Genußleben« hingab, während sie oft in ihr »inneres Herzkämmerchen« blickte. Dies war ein rührender Versuch, in unverdächtiger Weise ihre Gefühle anzudeuten. Nichtsdestoweniger dachte sie »mit Wonne an das atemraubende prickelnde Gesellschaftsleben« in Paris zurück, und an »das nimmer rastende Hasten auf den Boulevards«. Sie konnte übrigens die Bewohner des »Seinebabel« nicht recht begreifen, wie sie dieses Dasein auf die Dauer ertragen konnten; offenbar hatten sie »überhaupt kein Innenleben«. Manchmal brach aber auch eine herzliche Regung durch Espérancens Briefe und dann verfiel sie unfehlbar in mundartliches, zum mindesten ungrammatisches Deutsch. Nun verlangte Erich, sie möge ihm entweder in Mundart oder doch wieder französisch oder auch beides durcheinander schreiben, ihr Hochdeutsch sei ihm zu »geschwollen«. Das verstand sie nur zu gut und war erleichtert, daß sie von dem Zwang erlöst war. Nun wagte sie frei zu reden, »J'espère que maintenant tu ne ›raunzeras‹ plus, sie je t'envoie des ›busserl‹ moitié en dialect, moitié en francais, ce qui d'alleurs exprime tout à fait mes sentiments. Je t'aime bien, mon petit chéri, und ich hab Dich lieb, mais jamais de la vie je t'écrirai: ich liebe Dich. Ce serait comme abgeschrieben aus einem Büchel.« Auf französisch sprach sie auch nicht von »unvergeßlichen Stunden«, sondern bewies durch launige Erinnerungen an Einzelheiten, daß sie sie nicht vergessen hatte. Ihre Briefe waren ja bei ihm gut aufgehoben, so daß sie nicht die Zurückhaltung zu üben brauchte, die sie ihm mit unerbittlicher Strenge auferlegt hatte. Sie machte aus, daß eine umgeknickte Ecke seines Briefbogens einen Kuß bedeuten solle, natürlich hatte sein nächster Brief vier Eselsohren.

Anfang September kehrten die Waldeggs nach Harringen zurück, um einige Herbstwochen in ihrer Stadtwohnung in Rolfsburg zu verweilen. Nun wurden Espérancens Briefe etwas förmlicher, und einmal schrieb sie sehr überlegen: »Vous trouverez les choses bien changèes depuis nos jours folâtres à Paris, mon ami. Je suis sûre que, tout en ne les oubliant pas, vous envisagerez la situation nouvelle en homme d'esprit que vous êtes.« Sicher hatte sie gerade Madame de Sévigné gelesen.

Ende Oktober erschien der Student Erich Holthoff in Rolfsburg. Graf Arthur machte ihm wenig Schwierigkeiten. Er lernte in ihm einen liebenswürdigen und taktvollen Gatten kennen, der den Wert Espérancens zu fühlen schien und sie nicht mit Kleinigkeiten quälte. Er war ein vielleicht allzu vollendetes Gattungsgeschöpf, wie es die Götter lieb haben, die Menschen aber leicht etwas langweilig finden, das Muster eines ritterlichen, schönen und obendrein nicht charakterlosen Mannes und mit allen den Eigenschaften begabt, die eine Frau standhaft machen können, falls nicht »der deplorable Fall« eintritt, für den Gräfin Gandolphine in der Erziehung ihrer Tochter so weise vorgesorgt hatte. Der elegante Mann, mit dem nach damaliger Mode langgezogenen und an den Ecken etwas nach oben gebogenen schwarzen Schnurrbart reiste übrigens bald wieder in das »tötliche Nest« seines beruflichen Dienstes ab. wohin ihm Espérance erst zu Weihnachten mit dem kleinen Herbert folgen sollte.

Etwas mehr Schwierigkeiten bereitete Erich die seelische Einordnung einer anderen Persönlichkeit, des jungen Prinzen Amadeus von Harringen, der, wie nun bald er selbst, fast täglich bei Espérance aus und einging. Anfangs sah er auch in ihm nichts als ein »Verkehrshindernis« wie einst in Monsieur de La Brillière und Fräulein von Oberfuhr-Civetta. War Erich jedoch mit Espérance allein – und das ermöglichte sie ihm immer öfter, je sicherer sie sich überzeugte, daß er die Lage wirklich »en homme d'esprit« betrachtete – dann zeigte sie sich fröhlich und unbefangen mit ihm wie in Paris, und bald fühlte er wieder die unverlierbare Freundin. Es war tatsächlich schwer denkbar, daß sie dem noch ein wenig albernen jungen Prinzen, den sie bemutterte, ähnliche Gefühle entgegen bringen sollte wie ihm.

Amadeus war ein munterer, zutraulicher junger Bursch mit gefühlvollen, aber zugleich schalkhaften, braunen Augen, einer schönen Stirn und etwas welligem kastanienfarbenem Haar. Seine vollkommenen Hände hatten etwas frauenhaftes. Für Erich hegte er »wegen seines unglaublichen Wissens« sofort eine aufrichtige Bewunderung, was Espérance, die hier offenbar klüglich vorgearbeitet hatte, sehr freute. Überhaupt benahm sich Prinz Amadeus recht manierlich und sogar bescheiden. Ein wenig lästig war es, wenn er sein Markenalbum mitbrachte, das die Größe einer Gutenbergbibel hatte. Ein Hoflakai pflegte es hereinzutragen. Die Sammlung war allerdings von bemerkenswerter Vollständigkeit, da sowohl das Auswärtige Amt wie die Staatsbank dafür bemüht waren. Gerade hatte der Postminister einer südamerikanischen Republik, die von Harringen eine Anleihe erhalten, Proben sämtlicher Postwertzeichen dieses seltenen Staates von den niedrigsten bis zu den höchsten, dem Auswärtigen Amt auf Wunsch eingesandt. Das Wertvollste, in der Größe einer Kinderhand, befand sich zwischen zwei Glasplatten in einem Samtetui. Ein strenger Blick aus Espérancens Augen zwang Erich, diesen Herrlichkeiten seine Bewunderung zu zollen, und siehe, es gelang ihm. Vor kurzer Zeit noch wäre ihm eine solche »Unaufrichtigkeit« viel zu unbequem gewesen, aber nun merkte er zu seinem Erstaunen, während er sich zu einigen Liebenswürdigkeiten zwang, die den Prinzen herzlich beglückten, daß solche Freundlichkeit auf einmal echt wurde. Dieser Prinz mußte im Innersten doch ein ganz vortrefflicher Junge sein, da er, von Kindheit an wahrscheinlich umdienert und umschmeichelt, so menschlich geblieben war. Seine Menschlichkeit war freilich noch die eines Kindes, aber dafür unverfälscht. Als Erich später dies zu Espérance sagte, war sie sehr zufrieden. Erichs Erziehung machte rasende Fortschritte.

Die letzten schönen Herbsttage zogen sich lange hin. Oft fuhren Erich und Espérance morgens im Wagen bis zum Rand der unermeßlichen Wälder, die Rolfsburg umgeben, und streiften dann zwischen dem bunten Laub umher, solange es ihnen behagte. Manchmal drangen sie tief in die Einsamkeit vor und verzehrten das mitgenommene Mahl in einer von der Mittagssonne erwärmten Jagdhütte. Schließlich aber kamen doch die Novembertage, wo der Wald unwirtlich wird. Sie verbrachten nun die Abende am Kamin, nicht selten zu dritt, mit Prinz Amadeus. Espérance sorgte dafür, daß er das Markenalbum nur dann mitbrachte, wenn ein wirklich nennenswerter Zuwachs zu verzeichnen war. Da sie es ausgezeichnet verstand, beiden jungen Leuten genau die richtige Stelle einzuräumen, diesem die des lernenden Knaben, jenem die des Zukunft versprechenden Jünglings, knüpfte Gewohnheit um die so Verschiedenen bald ein vertrauliches Band. Des Prinzen Fähigkeit, aufmerksam zuzuhören, öffnete Erich die Lippen, und da die Abende, die er mit Espérance allein sein konnte, doch in der Mehrzahl waren, wurde ihm Amadeus ein ganz willkommener Gast. Ehe Espérance zu Weihnachten zu ihrem Gatten fuhr, konnte sie Erich berichten, daß der König sie für ihre Bemutterung des noch etwas unfertigen Prinzen dadurch belohnen wollte, daß der Graf im Frühling an die Gesandtschaft nach Wien versetzt würde, für ihn eine erhebliche Verbesserung, für sie und Erich eine große Freude dank der kurzen Entfernung zwischen Wien und Rolfsburg.

Dennoch weilte auch in den kommenden Jahren Espérance meist einige Wochen mit oder ohne Gatten in Rolfsburg. Die Sommermonate verbrachte sie größtenteils auf dem nicht sehr entfernten Stammsitz der Waldeggs, Schloß Floridsburg. Die Freundschaft des Paares mit Erich und Prinz Amadeus nahm die Residenz als gesellschaftliche Tatsache hin. Die Stellung Espérancens wurde von Jahr zu Jahr bedeutender. Niemand kümmerte sich um ihre Moral, mehr und mehr lobte alle Welt ihren Takt. Das lag aber nicht an den Rolfsburgern, die sonst genau so kleinlich und mißgünstig waren, wie die Bewohner anderer Städte, sondern einzig und allein an Espérance, und zwar noch mehr an ihrer Natur, als an ihrer Kunst.

So erfuhren beide, unter welchen einzigartigen Bedingungen Freundschaft zwischen Mann und Frau allmählich möglich werden kann, nämlich als zeitlich unbegrenzte Nachfeier einer gegenseitigen Liebe, die sich weder zu versagen brauchte, noch immer ganz erfüllen konnte, darum ihren Zauber nie erschöpft, aber ihn allmählich so verwandelt, daß aus flammender Glut trauliche Wärme wird.


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