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Noch eine andere Persönlichkeit drang alle paar Tage in Ferdinands Einsamkeit. Es war der Advokat Dr. Brunnthaler, der ihm vom Gericht als Verteidiger bestimmt worden war.
Zuerst erschien er in Gegenwart des Untersuchungsrichters, später ließ dieser sich durch eine Gerichtsperson vertreten, und schließlich blieb auch diese aus. Es war ja im Revolutionswinter, wo es sich alle Angestellten so bequem wie möglich machten, und der Untersuchungsrichter drückte ein Auge zu.
Der Rechtsanwalt Dr. Brunnthaler war ein schwammiger Mann mit der Blässe der Zuckerkranken, listigen Äuglein, sinnlichem Mund und einer hohen, honigsüßen Stimme. Er wurde durch Ferdinands noch immer hartnäckige Weigerung, nähere Angaben über seine Tat zu machen, recht nervös.
»Es ist ja sehr schön von Ihnen,« sagte er in gemütlichem Plauderton, »daß Sie offenbar die Dame schonen wollen, aber hier handelt es sich in erster Linie um Sie, Herr.«
Ferdinand blieb indessen dabei, daß keine Frau im Spiel sei.
Eines Tages brachte Dr. Brunnthaler die Nachricht, Erich und Melusine, die ihn pflege, wären inzwischen im Krankenhaus kommissarisch vernommen worden und hätten beide zugegeben, daß Ferdinand, der in Melusinen seine Braut sah, als er sie in der Nacht im Zimmer seines Bruders überraschte, nicht anders habe glauben können, als daß er von den beiden ihm nächststehenden Menschen unter seinem eigenen Dach aufs schändlichste betrogen wurde. Über den wahren Grund ihrer nächtlichen Zusammenkunft verweigerten indessen beide die Aussage. Erich hatte übrigens die Frage für unzulässig erklärt, da sie in keinem Zusammenhang stehe mit der Tat. Für diese sei nur wichtig, wie die Situation dem Bruder erscheinen mußte.
Ferner erzählte Dr. Brunnthaler, Prinz Amadeus von Harringen sei selbst bei dem Bezirksrichter erschienen und habe jene Aussage bestätigt. Persönlich sei er zwar überzeugt, daß die nächtliche Zusammenkunft harmlos war, daß sie aber einen unvorbereitet hinzukommenden Liebhaber, der vielleicht das Jawort noch nicht ganz sicher empfangen hatte, unbedingt aufs äußerste erregen mußte. Nun, auf alles das, meinte Dr. Brunnthaler, ließe sich eine aussichtsreiche Verteidigung aufbauen. Er würde die Harmlosigkeit jener nächtlichen Zusammenkunft natürlich mit Ironie bestreiten, und das Wort, – er glaube es sei von Ulpian – anführen: » Unus cum una noctu in uno lecto inventi non putabuntur paternoster orare«.Findet man einen mit einer Nachts ln einem Bett, so wird man nicht glauben, daß sie das Vaterunser beten.
Dr. Brunnthaler schloß seine Mitteilungen mit der Bemerkung, so bald es möglich sei, wolle er den Minister Holthoff selber im Krankenhaus aufsuchen, da man deutlich dessen Absicht sehe, den Bruder zu entlasten. Er merke sogar in den Aussagen der Baronin Kaden, sowie des Prinzen, der den Kranken bisweilen besuche, die juristische Regie des Ministers, wenn ein solcher Ausdruck erlaubt sei. Auch das Personal von Sensburg habe nicht anders geglaubt, als daß Ferdinand Fräulein von Kaden bald heiraten würde. Nach romanischer Judikatur, die stärker auf die Gefühle Rücksicht nehme, würden diese Umstände den Freispruch begründen. Hierzulande bestehe, besonders seit der Revolution, eine starke Neigung, sich der romanischen Auffassung anzunähern.
»Freispruch?« schrie Ferdinand wie in Empörung aus.
»Ist Ihnen das vielleicht nicht recht?« scherzte Dr. Brunnthaler.
Ferdinand drückte die Hände auf die Augen und rief:
»Um Gottes Willen, was soll dann aus mir werden?«
»Aber ich bitte Sie, Herr Holthoff, ein unabhängiger Mann wie Sie, ein Künstler ... diese ganze Geschichte wird Sie berühmt machen. Denken Sie doch: eine solche Reklame ...«
Durch Ferdinands Hornbrille fielen derartige Blicke auf Dr. Brunnthaler, daß es diesem unbehaglich wurde und er sich für heute empfahl.
Kaum war Ferdinand allein, als er sich in tiefer Verzweiflung auf das Bett warf. Von der eigentlich so nahe liegenden Seite hatte er die Dinge bis jetzt überhaupt nicht angesehen, daß beide vielleicht wirklich unschuldig waren. Wieso konnte denn diese Möglichkeit so ganz außerhalb seines Denkens bleiben? O, er sah nun klar, er hatte gewünscht, daß Erich schuldig sei, und nicht nur in diesem Fall, er hatte es immer so gewollt. Erich sollte durchaus Kain sein, damit er der gute Abel war. Wie recht hatte der Priester, als er sagte, das sei ein vollendeter Unsinn, diese alten Geschichten von Kain und Abel gingen ihn gar nichts an. Er war so wenig der gute Abel – das hätte er ja gar nicht ausgehalten – wie der wirklich böse Kain. O, jetzt fiel ihm auch ein, wie alles gekommen war. Als ihnen die Mutter einst die Geschichte von Kain und Abel las, da warf er den ersten Blick des Hasses auf den stärkeren Bruder und entschied, daß jener Kain und er der gute und klügere Abel sei. So war diese Maskerade entstanden, und durch sie konnte er den Bruder aushalten. Mochte der nun der Stärkere bleiben, dafür war er der Bessere, dem natürlich Unrecht geschah. Als Erich gar die Rollenverteilung stillschweigend annahm, die Mutter gönnerhaft beschützte und dem frommen Abel die kindliche Liebe zu ihr ließ, da war scheinbar alles gut, so daß er jahrzehnte lang seinen Haß vergaß, ja er hatte Erich »verziehen«, er, der heimliche Neider dem großmütigen Versteher. Dies alles log er sich vor, fand es ganz in Ordnung, daß Erich mehr galt als er, dafür war er doch der Bessere. Aber dann kam Melusine und sagte zu ihm: »Brüderchen«, und nun hätte er sich als der edle Abel bewähren können, aber da merkte er, daß er gar nichts verziehen hatte, vielmehr sie begehrte, die doch ganz gewiß dem Bruder bestimmt war. Eine kurze Zeit lang war er selig gewesen, als er glaubte, Melusine liebte den Abel in ihm, das Brüderchen, aber als er sie unerwartet nachts bei Erich traf, da faßte ihn teuflischer Argwohn. Der gute Abel, das war ja für ihn viel zu wenig. Nun war plötzlich er Kain. Ha, ha, welche unverhoffte Glanzrolle, die wollte er sich nicht nehmen lassen, sie wenigstens bis zum Ende spielen; und in Wirklichkeit war er gar nichts, weder stark wie Kain, noch gut wie Abel, sondern nur gemein und schwach, rein gar nichts, ein Dreck, ein Schauspieler, ein Feigling, der sich ein paar Tage daran berauscht hatte, er sei ein Mörder. Gut gespielt hatte er die Rolle, das konnte man sagen, nichts mehr von der alten Wu-Weipose, aber dafür eine andere: schaut her, ich bin der mutige Kain, nicht er; ich verlange, was einem Mörder gebührt, die Todesstrafe, um diesen Lohn lasse ich mich nicht betrügen, lehne mildernde Umstände ab, ein Mörder vom Scheitel bis zur Zehe, so wie ein rechter Mörder sein soll, gegen den die Verbrecher nebenan kleine Dilettanten sind. Wahrhaftig ein schöner Komödiant war er! Sünde, Strafe? Meinetwegen, wenn nur anerkannt wird, daß ich ein Mörder bin. So hatte er sich's gedacht. Welche Szene vor Gericht! In alle Zeitungen wäre es gekommen. Und nun war vielleicht all das gar nicht wahr. Sicher nicht! Nicht einen Augenblick hatte Erich versucht, Melusine zu nehmen, und zu Haus bei der Mutter war es dasselbe gewesen. Gab es irgend einen wirklichen Grund zu glauben, die Mutter habe Erich bevorzugt? Keinen andern, als den, daß Erich wirklich der vorzüglichere war. Und wegen dieser Komödie eines Schwächlings soviel Unglück! Wenn auch Erich genas, sein großes Werk war zerstört und damit auch der Lebensinhalt eines lieben Freundes, des Prinzen Amadeus. Und was mochte alles in Harringen vorgehen, nur als Folge dieses dummen Schusses? Jetzt sah er erst, was er getan hatte.
Von Tag zu Tag wurden ihm nun die Dinge klarer. Hatte er denn wirklich je Erich gehaßt? Auch das war nicht wahr. Geliebt, verehrt, bewundert hatte er ihn, aber sein Ich war zu klein gewesen, diese edeln Gefühle zu ertragen. Warum nur? Er hatte doch immer anerkannt, daß er eine dienende, der Bruder eine herrschende Natur war. Ja, er hatte es anerkannt, aber doch war sein Gefühl beleidigt, wenn er Erichs männlichschützende Liebe der Mutter gegenüber sah. Solche Liebe schien ihm kalt, ja war es überhaupt Liebe, verglichen mit seinem eigenen knabenhaft hingebenden Gefühl? Und bei Melusine war es dasselbe. Hatte er es nicht dem Bruder geradezu verübelt, daß er ihr gegenüber kühl und überlegen blieb? Die männliche Liebe aber ist es, die erobert, die Jünglingsliebe wird höchstens freundlich hingenommen. Das war es gewesen, was er so schwer ertragen, zuerst gar nicht verstehen konnte, aber jetzt, wo er gern sterben wollte, Erich nicht mehr beneidete, sondern ihm das Beste wünschte, jetzt war das alles vorbei, und es blieb, rein und echt, seine Liebe zu dem Bruder übrig. Das war ja etwas Wirkliches, was ihn aus dem Nichts rettete. Daran konnte er sich klammern, da war ein Stück von seinem Selbst, diese Liebe war keine Komödie, nur die Kain- und Abelmasken hatten sie dazu gemacht. Nun fielen die Larven plötzlich von seinem und Erichs Gesicht, aber da dachte er mit Entsetzen plötzlich an Melusine.
War er schuldig, so war sie es noch mehr. Sie hatte ihn dazu gebracht, zum erstenmal im Leben diese Maskerade ernst zu nehmen, ohne sie wäre aus dem immerhin ungefährlichen Abel nie Kain geworden. Dann war sie ja aber auch eine Hexe, eine Teufelin, wie die Frauen, die er früher gekannt. Mehrere Nächte lang richtete sich nun sein Haß auf sie. Aber wenn sie ihn zum Haß gegen den Bruder aufreizen wollte, was tat sie dann in der Nacht in Erichs Zimmer? Er entsann sich, wie sie sich als »Schwesterchen« rührend und fromm an ihn geschmiegt, einig mit ihm gegen Erich, dessen Werk sie verfluchte. Spielte sie ein doppeltes Spiel? Warum aber? Wenn sie Erich liebte, warum dann ... Gequält schweifte er von dem Bild des Schwesterchens im Salon zu dem Bild des leidenschaftlichen Weibes, das sich vor Erich gestellt halte, um den Schuß abzuwehren. Kein Zweifel, sie liebte Erich. Nein, nein, das war kein Doppelspiel. Ihm hatte sie ja nicht gesagt, daß sie ihn liebe. Gerade, weil sie ihm Schwester war, konnte sie dem Bruder Geliebte sein, aber – nun verstand er plötzlich auch dies – die Stolze hatte sich lange dagegen gewehrt und bei dem Brüderchen untertauchen wollen, so wie sie sich als Kind in den Wäldern vor den Erwachsenen zu verstecken pflegte. Nein, sie hatte ihm nicht das Geringste versprochen. Er, der falsche Abel, hatte sie in jenes Brüderchen-Schwesterchenspielen verlockt, darin eine Verlobung sehen wollen, hatte Rechte beansprucht, und so war der heuchlerische neidische Abel Kain geworden. Nun hatte er ein Loch in diese Scheinwelt geschossen, aller Trug brach zusammen, und darum konnte er sich nach der Tat zuerst wie befreit fühlen, aber da stand jetzt nackt ein schuldiger Mensch, den der Trotz der Schwäche fast zum Mörder gemacht hätte. Fast! Welch eine Gnade, daß Erich lebte! Er aber wollte nun die Strafe hinnehmen, nicht mehr im Stolz, ein Mörder zu sein, sondern als Büßender. Welch ein Glück lag in der Strafe! Wie gut schien ihm doch im Grund diese Menschenwelt trotz aller Ungerechtigkeit eingerichtet, daß sie selbst dem elendesten Verbrecher in der Strafe die Möglichkeit gibt, das zerstörte Gleichgewicht wieder herzustellen. Er versank in ein Gebet für das Leben des Getroffenen und segnete im Stillen Erichs Bund mit Melusinen. Das war das Gleichgewicht. Seinen Nächten nahte nun wieder der Schlaf, der sie lange gemieden, und, wenn er einmal eine Stunde wach lag, dann war es nicht in qualvollem Grübeln, sondern in befreiendem Erkennen.
Eines Nachts dachte er wieder jener chinesischen Lehre des Wu-Wei, der er bisher zu folgen geglaubt hatte. War er denn wirklich dem stummen Wirken der Weltkräfte rückhaltlos offen gewesen, hatte er nicht vielmehr durch jene künstliche Abelmaske gerade verhindert, daß sich ihr Sinn in seinem Leben echt auswirkte? Diese Maske hatte ihm eine bequeme Trägheit ermöglicht, indem sie alle seine tätigen Kräfte band in der falschen Überlegenheit des schwächlichen Träumers und Idealisten, während er Schaffen und Gestalten als böse dem Kain überließ. Weil er es diesem doch nicht gleichtun konnte, hatte er lieber auf Tun überhaupt verzichtet und diesem Nein die Gloriole der Weisheit gegeben. Der Tattrieb ließ indessen seiner nicht spotten, aber die blindlings hervorbrechende Tat überwältigt uns, ist Verbrechen. Wie viel tiefer hatte doch Erich das Wu-Wei erfaßt! Er hielt nicht eigensinnig den Pendel des Geschehens fest, weder bei dem Pol der Untätigkeit, noch bei dem der Tätigkeit, sondern überließ die Bewegung ohne Willenskrampf und ohne Trägheit der geheimen Macht des Werdens. So stand er selbst jenseits von Tun und Leiden.
Eines Abends ergriff er die Hand des Priesters und stammelte:
»Ich habe endlich verstanden ... mein Verbrechen ist viel, viel größer, als ich glaubte, ich bin ja gar nicht Kain, kein Mörder, der handelt, wie ein Mörder handeln muß, wofür ihm Gott verzeihen kann, ich bin etwas viel schlimmeres, ein Lügner vor Gott und den Menschen, mir kann niemand verzeihen, ehe ich ganz gebüßt habe.«
Der Priester verstand zwar diese Worte nicht recht, aber er fühlte, daß Ferdinand nun auf dem Weg zur Einsicht war. Er stellte einige Fragen, und als jener zerknirschend ausrief, er sei nichts, ein Schauspieler, eine leere Maske, da faßte er seine Hände, schaute ihn fest an und sagte:
»Jetzt, wo aller Hochmut der Gescheiten Sie verlassen hat, kann ich Ihnen sagen, daß Sie in Ihrer Demut mehr sind, als Sie je waren, mehr als viele arme Erdbewohner. Sie sind ein Mensch, dem die Gnade verholfen hat, den Schein zu durchschauen. Fast alle, die Idealisten, wie die Wirkenden leben in den Masken der Lüge, nur erfahren sie es nie, sind nicht böse, sind nicht gut, sie spielen ihre Rollen bis zum Tod, aber der Herr hat die Lauen ausgespien aus seinem Munde und liebt und erleuchtet ja gerade die großen Sünder. Was Sie jetzt erkennen, darauf sind Sie nicht mit dem hochmütigen menschlichen Verstand gekommen. Das hat Ihnen Gottes Stimme selbst eingegeben, weil Sie gewiß auch mehr geliebt haben, als andere.« Der Geistliche schlug das Kreuz über ihn. In den nächsten Tagen fuhr Ferdinands Anwalt zu Erich, um sich mit ihm über die Prozeßführung zu verständigen. Er nahm einen Brief von Ferdinand mit, in dem dieser ihn ganz kurz um Verzeihung anflehte. Noch sei er nicht fähig, ihm näheres über seine Tat zu Sagen. Erich antwortete ihm, er verstehe alles, und es sei verziehen. Er möge ihn indessen ermächtigen, durch Melusine in Sensburg nach dem Rechten sehen zu lassen. Ferdinand gab diese Ermächtigung. Während er sinnend auf seinem Bett lag, hörte er bisweilen Klopfen an den Wänden. Das konnten nur andere Gefangene sein, die ihn offenbar in ihre Interessen zu ziehen versuchten. Auch Winken und Augenzwinkern war ihm auf den Gängen bisweilen aufgefallen. Sie hatten wohl gemordet wie er oder auch nur geraubt oder gestohlen, aber sie schienen diese Possen noch nicht müde zu sein und dachten offenbar nur an die Welt draußen, um das Maskenspiel, das sie jetzt büßen mußten, bei nächster Gelegenheit wieder zu beginnen. Er nickte ihnen auf den Korridoren traurig-freundlich zu, wie ein Erwachsener, der, mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, an spielenden Kindern vorüberkommt, die seine Aufmerksamkeit zu erwecken suchen.