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Im Jahre 1919 kamen in Harringen erst anfangs Juli wirkliche Sommertage. Durch eine Wiese vom Park getrennt, gehörte zu Floridsburg ein kleines Wäldchen, in dessen Mitte ein sonniger Teich lag. In lichtem Oval spiegelte sich darin der Himmel, von einem dunklen Kranz des Eichen- und Buchenlaubs umgeben. Espérance hatte das ziemlich breite Becken mit dem auf wasserspeienden Delphinen einherbrausenden Neptun von dem Schlamm reinigen lassen und ihre Gäste mit einer Bade- und Schwimmgelegenheit in der von einem Bach durchspülten, von springenden Strahlen bewegten Flut überrascht. Während der ganzen Kriegszeit war diese Einrichtung unbenutzt geblieben. Nun lud sie wieder zu heiterem Gebrauch, auch die geschweiften grünen Holzbänke, die um die Kieswege standen, waren wieder hergestellt.
Über der blitzenden Fläche zitterte das heiße Licht; auf dem in allen Tönen der Verwitterung spielenden stark geschwungenen Steinrand des Beckens hüpften Spatzen und Finken; hie und da schwebte eine Libelle über dem Spiegel. Unter einer dunklen mächtigen Cypresse war rot und grau gestreiftes Zeltleinen gespannt. Hier konnte man sich aus- und ankleiden, und Espérancens Zofe, bunt wie ein Zeisig in der etwas verzierlichten Tracht der einheimischen Bauerndirnen, hielt Badewäsche bereit. Die Gäste kamen in Schwimmanzügen oder Bademänteln hervor, einige Damen bereits entsprechend der neuen Nachkriegsmode sehr kurz geschürzt mit röckchenartigem Volants wie Ballettänzerinnen auf der Probe. Espérance selbst verschmähte das ihr zu kalte Gebirgswasser, denn sie war körperlich trotz ihrer im ganzen guten Gesundheit etwas empfindlich und begnügte sich mit einem Sonnenbad, das sie in einem cremefarbigen Bademantel mit purpurnem griechischem Randmuster auf einem Ruhebett nahm, den Kopf vom Baumschatten geschützt. Bei dieser Gelegenheit sah man, daß ihre Füße, an denen sie geschnürte Sandalen trug, würdige Gegenstücke ihrer klassischen Hände waren.
Während einige der Gäste sich schwimmend, spritzend und lachend im Wasser um die schwarz glänzenden Bäuche der Delphine vergnügten, unterhielt Espérance die um sie auf den Bänken Sitzenden oder auf Leintüchern am Boden Ausgestreckten über die gerade in Mode kommende Astrologie, ihr jüngstes Steckenpferd. Wie alle im Grund primitiven Naturen, fühlte sie einen starken Hang, zu ihrem von der Schönheit der äußeren Dinge erfüllten Leben in den Schauern vor dem Wunderbaren, Übernatürlichen einen Gegenpol zu suchen. Eine Zeitlang hatte sie sogar die Mode des Spiritismus mitgemacht, aber vor der sehr angreifenden, bisweilen tastbaren Nähe des Unerklärlichen war ihre gesunde Natur bald zurückgeschreckt. Da erwies sich die Astrologie doch bedeutend unbedenklicher, vor allem reinlicher und ließ einer gern mit mannigfachen Möglichkeiten spielenden Einbildungskraft ein weiteres und bunteres Feld, als die ewig graue, übel dunstende Kloake des Spiritismus. Natürlich vermochte Espérance nicht selbst die verwickelten Berechnungen zu machen, welche die Aufstellung eines Horoskops erfordert, aber dafür gab es in der Nähe eine Volksschullehrerin, ein mathematisch ganz unbeschreiblich begabtes Fräulein Hilde Hasenöhrl, das sich vor astronomischen Zahlen, Sinus, Cosinus, sphärischen Dreiecken und dergleichen Abracadabra gar nicht fürchtete. Hingegen war in der Ausdeutung des fertigen Horoskops Espérancens Spürsinn einzig. Sie begann nun munter von uranischen und saturnischen Begegnungen auf dem Lebensweg zu fabeln, und der Hörer erfuhr zu seinem großen Heil, daß Streiche, die er verübt und schwer hatte bezahlen müssen, neptunischen Ursprungs waren, sowie daß gewisse kleinere Vorfallenheiten dieses Daseins auf eine tückische Quincunx oder ein biederes Bissextil zurückzuführen seien. Was indessen auch ernste Leute wie Holthoff erstaunte und fesselte, war die Treffsicherheit, mit der Espérance an der Hand eines aufgezeichneten Horoskops mit darunter geschriebenen Aspekten von den Leuten Charakterbilder entwarf, die im wesentlichen zu stimmen pflegten.
An diesem sonnigen Morgen erklärte sie einem aus dem Krieg heimgekehrten Major mit noch nicht wieder aufgebauter Situation, er habe bisher zu ausschließlich unter dem Einfluß des Mondes, das heißt seiner äußeren Persönlichkeit gelebt; gelänge es ihm nun, sich mehr unter den Einfluß seiner Sonne, d.h. seiner inneren Individualität zu stellen, dann könne es ihm künftig nicht fehlen. Der etwa Fünfundvierzigjährige mit Glatze und angegrauten Schläfen lauschte kindlichen Blickes und bat, später unter vier Augen einige weitere Fragen stellen zu dürfen.
In diesem Augenblick erschien der alte Kammerdiener Koloman in erbsengelber Livree, ein Greis mit toten Fischaugen in pergamentenem, bartlosem Gesicht und einem wie Elefantenhaut gänzlich verrunzelten Hals und meldete Besuch. Einige Schritte hinter ihm unter den Bäumen wurde bereits Erich Holthoff in grauem Sommeranzug sichtbar.
Für den Abend dieses Tages war in Floridsburg das Zusammentreffen des Prinzen Amadeus mit den Militärs geplant. Nachdem in Harringen unter der mehrheitssozialistischen Regierung zur Zeit keine bolschewistische Willkür zu befürchten war, konnte der Prinz wieder wagen, heimatlichen Boden zu betreten. Erich berichtete nun Espérance, die zu ihm in den Schatten der Bäume getreten war, von einem Automobilunfall, den sie, auf einem Ausflug begriffen, hier in der Nähe gehabt. Der Prinz wolle vermeiden, sich in einem der nahen Landgasthäuser zu zeigen, wo man ihn gewiß erkennen und ihm vielleicht Ovationen bereiten würde. So möge sie ihn, der schon im Schloß sei, gleich hier behalten, während er mit Ferdinand und Melusine, die Espérance noch nicht kannte, aber ebenfalls für den Abend geladen hatte, gegen sechs Uhr zurückkommen werde. Davon wollte sie indessen nichts hören. Sie war hinreichend versorgt, sie alle zusammen schon am Mittag zu bewirten und schickte sich an, schnell ins Haus zu eilen, um sich zum Empfang des Prinzen anzuziehen. Erich hielt sie davon ab. Als der Prinz von Koloman gehört habe, wo sie sich befinde, sei er geradezu entzückt gewesen, da er schon lange gewünscht hatte, dieses famose, in der Residenz früher viel besprochene Bad einmal im Betrieb zu sehen. Indessen wolle er als Kunsthistoriker Dr. Schenk vorgestellt werden. Die ihn erkennen würden, möge man zum Schweigen veranlassen, übrigens sei gar keine Gefahr, der vergnügte Kreis bilde vielmehr ein besonders willkommenes Mittel, die wahre Absicht dieser Reise zu verhüllen, wozu ja auch der Umstand diente, daß Ferdinand und Melusine mitgeladen waren. So wurde die Zofe in die Küche geschickt, um die Ankunft von noch vier Gästen zu melden.
Dann ging Erich über die Wiese zurück, von wo er die drei anderen Besucher sich dem Wäldchen nähern sah.
»Ist es wahr?« fragte der Major, der Erich erkannt hatte, »daß Holthoff zu der sozialistischen Regierung übergehen wird?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen,« erwiderte Espérance, während sie sich auf das Ruhebett setzte. Nachdem sie ihren Gästen die unerwarteten Besucher angekündigt, fragte der Major, ob dieser Dr. Schenk wohl einer der sozialistischen Freunde seiner Exzellenz sei.
»Das ist eine Idee,« rief Espérance wie elektrisiert, »ich bin sicher, daß er uns da einen Roten einschmuggeln will.«
»Dann erlauben Sie mir, gnädigste Frau Gräfin, daß ich mich als früherer, noch immer königstreuer Offizier entferne.«
Der Major war aufgesprungen. Sein Schwimmanzug umspannte beträchtliche Fleischmassen. Inzwischen war Holthoff mit seinen drei Begleitern herbeigekommen. Der Major traute seinen Augen nicht, als er auf den ersten Blick den Vetter des Königs erkannte. Instinktiv fuhr er mit dem nackten Arm empor, als wolle er einen militärischen Gruß andeuten, aber Espérance, die sich an der Lage weidete, flüsterte ihm zu:
»Bitte um etwas Diplomatie, Herr Major, es ist Dr. Schenk Wohlgeboren, weiter nichts.«
Prinz Amadeus trug zu Ehren des schönen Sommertags einen breiten Panamahut, eine lustige, blaue Halsschleife über der weißen Weste, und um das Handgelenk einen dünnen Lederriemen, an dem ein Bambusstock mit Knopf aus Rosenquarz hing.
Espérance, die durch Erich über Melusinen viel Günstiges vernommen hatte, fühlte sich bei dieser ersten Begegnung etwas enttäuscht, was Melusine sofort merkte, aber, nach dem was sie über Espérance gehört, gar nicht anders erwartet hatte. Sie wußte nur zu wohl aus Erfahrung, daß sie außerhalb eines ihr unbedingt ergebenen Stabs von Freunden auf manche Menschen gar nicht, auf viele, besonders Frauen, abstoßend wirkte. Als Kind hatte sie darunter gelitten und war wie ein scheues Wild in die Einsamkeit der Wälder des heimatlichen Gutes geflohen. Als dann aber ihr Eigenwesen sich in der Musik einen mächtigen Ausdruck schuf, der sie wiederum in die Welt führte, da zeigte sich ein klarer Verstand ihrer besonderen Lage gewachsen. Je mehr sie die Menschen kennen lernte, desto besser begriff sie, daß die meisten mit einem Wesen, wie sie war, wirklich nicht viel anfangen konnten und gerade in solchem Fall heißt alles verstehen alles verzeihen. Sie nahm ihnen ihre Abneigung gar nicht übel, war sogar in einem für eine Frau besonders erstaunlichen Maß bei der Bildung ihres Urteils über die andern von deren Antipathien unabhängig und im Stand, ihnen durchaus gerecht zu werden. So erkannte sie bereitwilligst Espérancens augenfällige Vorzüge an, aber, was sie in Erichs Leben bedeutet hatte und noch bedeutete, das hätte ihr doch niemand klar machen können, und in diesem Punkt war sie nicht größer als der Durchschnitt der Frauen. Ihr erster Eindruck von Espérance war: Nun, die zwei passen zueinander, und mit diesem Ausdruck meinen Frauen nie etwas Gutes.
Melusinens Gebärden zeigten, wie es erklärlich ist bei Menschen, die schwer an sich selber tragen, nicht die freie Selbstverständlichkeit, die bei Espérance doch mehr Natur als Erziehung, bei Erich bewußt gewählte Selbstzucht war. In Sensburg zwischen den beiden Männern hatte sie sich geben können, wie sie war, auch mit gelegentlichen Ecken und Kanten, und eben darum fielen solche Unebenheiten nicht auf. Heute fühlte sie sich nach anderthalb Jahren zum erstenmal wieder in Gesellschaft, und sofort nahm sie jene Zurückhaltung an, die Befangenheit verrät, und in so großem Gegensatz steht zu dem süddeutsch-österreichischen Gesellschaftston, der solche Anstrengung nicht braucht, weil man ja das Persönliche hinter einer das allgemein Menschliche leicht hervorkehrenden Freundlichkeit eher noch besser vor unerwünschtem Einblick schützen kann, als hinter betonten Abstand. Das halten nun wieder derartige nordischen Charaktere für Falschheit, während sie selbst durch ihre schon zur zweiten Natur gewordene Befangenheit mit eben solchem Unrecht in den Ruf der Kälte und Unnatur kommen. Wirkte Melusine in diesem Kreis auch durchaus norddeutsch, so doch gar nicht preußisch, denn als Baltin hatte sie wie ihre Vorfahren stets in der breiten russischen Natur gelebt. So zeigte sie bei aller Zurückhaltung nichts von der plumpen Gespreiztheit, die nicht in die Welt hinausgekommene Frauen oft für gute Form halten, vielmehr bewegte sie sich, wenn auch gehalten, so doch ungeziert, aber der erste Blick verriet, daß sie kein Gesellschaftswesen war. Das zeigte sich schon in der Kleidung. Sie verschmähte die kleinen »Fanfreluches«, wie Schleifchen, Schleier, Rüschen, mit denen süddeutsche Damen die auf dem Land in rauhem Klima unerläßliche, derbe Kleidung zu verlieblichen wissen. Wie ein Mann legte sie in ihrem Anzug hauptsächlich Wert auf gutes Material und einwandfreien Schnitt. Espérance gefiel diese Art abweisender Vornehmheit nicht. Sie liebte, daß man, besonders eine Frau, das Scharfe verhüllte, wie die Spitzen eines nur zum sportlichen Spiel dienenden Floretts. Melusine war ihr entschieden zu wenig »wattiert«.
Die Gesellschaft verteilte sich bald so, daß Dr. Schenk und Ferdinand mit einem holländischen Kunstsammler und seiner blaubebrillten gelehrten Frau in eifrigem Gespräch über spätbyzantinische Elfenbeindiptychen auf- und abgingen, während sich Melusinens sofort die blonde, etwas zu viel lachende Baronin Querini, eine Verwandte des Hauses, bemächtigte, die in Scheidung lebte, und, vorläufig insgeheim, von einer Bühnenlaufbahn träumte. Sie hielt sich für eine sehr moderne und aufgeklärte Frau und pflegte das in Redensarten, wie diese zu äußern? »Was bin i' denn? Eine Baronin, nun, was is' das schon? Von uns spricht heut' kein Mensch, eine Künstlerin dagegen vom Theater oder vom Kino, das is' wer.«
Mit ihr drang zum erstenmal in diesen Kreis jener moderne Menschentyp, den man zwei-dimensional nennen könnte. Er nimmt alle sinnlichen, ja auch manche geistigeren Eindrücke auf, ohne aber irgend etwas auf ein eigenes Wesen zu beziehen, das sie verarbeiten und dabei zu Wertunterscheidungen kommen würde. Die Dimension der Tiefe kennen sie nicht, vielmehr beziehen sie alle Eindrücke nur aufeinander, und dadurch entsteht eine Vorstellungswelt, die vielleicht weit, aber lediglich Fläche ist und alles wahllos, eins neben dem andern, duldet. So konnte sich die kleine Querini tatsächlich einbilden, daß sie durch ihre Scheidung und ihre Bühnenhoffnungen und Melusine durch ihr Künstlertum Genossinnen seien gegen diese in Vorurteilen befangene Umgebung. Sie trug ein enganliegendes grünes Badekostüm und tummelte sich in der Sonne mit ihrem kraus- und flachshaarigen Buben, dem fünfjährigen Tonerl, der nackt herum sprang und sich immer wieder an den wasserspeienden Delphinen entzückte. Natürlich war sie imstande, jede aufgeschnappte und gelesene Redensart sofort ohne Gefühl für Perspektive zu verwenden. Sie begann daher das Gespräch mit Melusinen so:
»Wissen Sie, Sie haben Augen, unergründlich wie das Meer.«
Sie war an der Adria gewesen.
Melusine vertrug dergleichen schlecht und wünschte sich einige Meilen fort.
Baronin Querini schnatterte indessen unaufhaltsam weiter. Sie erzählte sofort, wie begabt das Buscherl sei. Neulich hätte sie ihn einem Kinoregisseur vorgeführt, der sei einfach paff gewesen. Am liebsten hätte er ihn gleich mitgenommen und ausgebildet. In Amerika gäbe es bereits einen fünfjährigen Buben, der für einen der größten Filmstars gelte. Der Tonerl sei leider noch ein bißchen zart, aber später, in zwei drei Jahren ...
Melusine war durch dieses Geschwätz derart gereizt, daß sie sich nicht enthalten konnte zu sagen:
»Warum werfen Sie ihn nicht lieber gleich auf den Mist?«
Baronin Querini fand diese Bemerkung höchst originell und lachte laut auf, dann sagte sie, man merke doch gleich, daß Melusine nie Mutter gewesen sei.