Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXII

Was nun die Lage in Harringen nach der Revolution geradezu zu einem Chaos machte, war die Person des derzeitigen provisorischen Ministerpräsidenten Franz Morgenthau. Dieser war während des Krieges als leidenschaftlicher Pazifist tätig gewesen, hatte der Zimmerwalder internationalen Verbrüderung beigewohnt und verbrachte die letzte Epoche des Kriegs in Schutzhaft. Er war unbedingter Vertreter der Rätediktatur, aber als menschlicher Typus ganz und gar das Gegenteil der satanischen russischen und ungarischen Bolschewisten, bei denen sich ohne jede Gefühlsbindung ein äußerst zugespitzter Intellektualismus auf ein undifferenziertes, oft bestialisches Triebleben aufgepfropft hatte. Obgleich Jude, war Morgenthau deutscher Idealist und wirrer Träumer, ja fast kann man schon sagen: ein deutscher Narr mit langem, ergrauendem Patriarchenbart, Pathetiker, gescheiterter Dichter, gewandter Journalist und dilettierender Weltanschauungssucher, dem das Wort immer Tat und Gestalt ersetzt hatte. Ohne je im mindesten berechnender Streber gewesen zu sein, genoß er dennoch jetzt die Situation des Getragenwerdens von der Woge der Geschichte wie einen berauschenden Trunk, und er glaubte aus seinem aufgelockerten Innern würden nun von selbst Taten sprießen, wie Blumen und Früchte; ja diese rein leidende Hingabe an das Geschehen, dem von einer inneren wertenden Instanz her Richtung zu geben, ihm nicht einen Augenblick einfiel, schien ihm schon Handeln. Reich an Worten, die Massen hinrissen und seine nähere Umgebung bald bezauberten, bald befremdeten, ließ er oft hören, wie wenig er den Tod fürchte. Er hätte nichts dagegen, von der Welle, die ihn eben noch hoch trug, morgen in den dunklen Abgrund geschwemmt zu werden. Dies sei das Leben, und das mache es eben so herrlich. Er zitierte gern Hölderlin.

Erich verfolgte den Weg dieses Mannes mit einer Art Schauer und ahnte in ihm ein Zerrbild seiner selbst. An der Betrachtung Morgenthaus lernte er sein eigenes Wesen ein gut Stück besser verstehen. Jener ließ sich wie ein Kork von der Flut umherwerfen, war ganz und gar »Zeitgenosse« und redete unwillkürlich, was die Masse hören wollte, ja durch ihn sprach die Masse zu sich selbst. Durch Holthoff indessen ging die Flut hindurch. Auch er stellte sich ihr, aber er blieb dabei, der er war, wenn auch in steter Entwicklung. Er beeinflußte die Richtung der Flut des Geschehens, während sie sich an seinem eigenen Wesen brach. In Morgenthau mußte er daher die Sinnlosigkeit des Chaos selber sehen. Dauernd bewegt, ja aufgewühlt, aber selber wesenlos, war er ein Sammelbecken für die sich widersprechendsten Ideenströme, die in ihm zischende Wirbel bildeten. Er glaubte an die unmittelbare geistige Schöpferkraft der gestaltlosen Volksseele, wenn der Masse nur die Freiheit von ihren Bedrückern gegeben würde. Dazu schien ihm der seiner eigenen schäumenden Natur doch so unverwandte starre Marxismus als Mittel geeignet.

Dieser Morgenthau galt nun trotz seiner inneren Harmlosigkeit, der sich jene das Geniale streifende, aber nicht wirklich erfassende unverantwortliche Schicksalsgetriebenheit verband, vielen sowohl rechts als links als der »Krebsschaden des Landes«, wie der politische Jargon sagte, und von außen gesehen, ohne daß sein einfältiges Gemüt es selber ahnte, war er wirklich ein Verräter: als provisorischer Ministerpräsident der mehrheitssozialistischen Regierung liebäugelte er mit der ultraradikalen Opposition, die eine Diktatur des Proletariats anstrebte. Seine eigene innerlich ganz unsichere Regierung hielt es gar für einen Vorteil, einen bei den extremen Gegnern einflußreichen Mann an der Spitze zu haben, da er vielleicht doch die gespaltene Sozialdemokratie durch die Macht seiner beredten Persönlichkeit wieder einigen könnte. Dieser Glaube aber hatte nur die Wirkung, daß sich die Regierung von dem unzuverlässigen Manne verhindern ließ, den Landtag zu berufen und ihre gesetzmäßige Gewalt gegen das täglich anwachsende Chaos auszuüben.

Der Widersinn dieser Lage war es, der Männern wie Holthoff die Überzeugung gab, daß demnächst ein Zustand völliger Gesetz-, ja Staatslosigkeit eintreten würde. Wer dann mit einem zuverlässigen Regiment erschien und Ordnung schuf, war der Retter. Während es überhaupt keinen Staat gab, mußte das Neue in die entstandene Lücke treten. Auf diese Weise schien Holthoff die Wiederherstellung der Monarchie ohne das Odium der Gewalt möglich. Mochte in früheren Zeiten den Völkern oft eine Staatsform zu ihrem Heil aufgezwungen worden sein, heute war es ein nicht mehr zu verwischendes Kennzeichen der abendländischen Zivilisation, daß sie keinen Terror mehr gut hieß, mögen auch Bolschewismus und militaristischer Nationalismus noch manche Augenblickserfolge verzeichnen. Auf diese Auffassung des Zeitgeistes baute Holthoff seinen Plan.

Natürlich konnte er davon mit Pausecker nicht sprechen, um den Sozialisten nicht in Gewissenskonflikte zu bringen und vor seinen Parteifreunden bloßzustellen, aber sobald er die Ruder in der Hand hätte, wollte er zu Pausecker gehen, und ihm das eine mit den Worten überreichen: »Sie sind nicht verantwortlich für das, was geschehen ist, aber jetzt sind Sie der einzige Ruderer an Bord, der mir helfen kann, das Schiff in den Hafen zu bringen.« Er würde den Augenblick erkennen, wo aus dem Sozialismus ein schöpferischer Staatsfaktor gemacht werden könne.

Holthoff wählte Schloß Floridsburg, den Witwensitz seiner alten Freundin Espérance Waldegg, für die entscheidende Unterredung mit den Militärs. Gerade weil Espérance für eine gänzlich unpolitische, nicht allzu seriöse Frau galt, die sich unterhalten wollte, solange es anging und Besuche aus allen Ständen empfing, konnte eine Zusammenkunft bei ihr niemand auffallen.


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