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In dem östlich an Harringen angrenzenden Teil Oberösterreichs liegt in einer breiten Talsohle zwischen kräftig profiliertem Kalkgebirg der alte Edelhof Sensburg. Von vereinzelten Bauernhäusern, Heustadeln und hie und da einer Kapelle unterbrochenes Wiesenland, das ein Flüßchen teilt, erstreckt sich bis zum Fuß der Berge, die aus dem dunklen Pelz dichten Nadelholzes in Höhen ragen, wo sie das Morgenlicht küßt, wenn es im Tal kaum zu dämmern beginnt. Es ist ein rauhes Land, in dem die Sonne spät kommt und früh verschwindet, aber wenn sie an wolkenlosen Sommertagen einmal über dem Gebirgskamm erschienen ist, dann erglühen die Felswände heiß und das lichtflimmernde Tal hält die Hitze wie ein Kessel in glimmender Asche.
Sensburg stammt aus den Zeiten des dreißigjährigen Kriegs und hat seitdem oft genug seine Besitzer gewechselt. Ehe es der jetzige Eigentümer, Ferdinand Holthoff, erwarb, war es von einer ursprünglich bäuerlichen, im Lauf einiger Geschlechter zu großem Wohlstand gelangten Familie bewohnt gewesen, welche eine berühmte, inzwischen zum Fabrikbetrieb erweiterte Sensenschmiede besaß. Die Familie war in Völlerei und Schwachsinn entartet, der letzte Besitzer, ein grämlicher, alter Sonderling, schwer verschuldet. So hatte Ferdinand das verwahrloste Herrenhaus, dessen größtenteils unbewohnte Räume längst der Fensterscheiben ermangelten und mit Holzbrettern vernagelt waren, am Anfang des Weltkriegs mit den noch übrigen zwölf bis fünfzehn Joch Grund vorteilhaft erworben und wieder in Stand setzen lassen. Die Äcker und Wiesen verpachtete er einem angrenzenden Bauern, dem Aloys Schandlhuber, der ihn während der Kriegsjahre mit Mehl, Butter, Eiern, Gemüse und »Schweinernem« beliefern mußte. Daraus wird nun der Leser am Ende voreilig schließen, der Träumer Ferdinand Holthoff habe sich inzwischen in einen pfiffigen Geschäftsmann verwandelt. Das wäre ganz und gar verfehlt. Hier hatte ihm wirklich nur das »Wu-Wei« geholfen. Er dachte bei dem Ankauf an nichts weniger, als ein gutes Geschäft zu machen, sondern nur daran, wie er, als immer wieder für kriegsdienstuntauglich erklärter Neurastheniker, dem Getöse der Zeit entgehen könne. So wenig wie früher war er zu stetigem Handeln fähig, aber noch blitzte in ihm bisweilen ein Gedanke oder besser noch eine Vision auf, die ihn ganz in ihren Bann schlagen konnte. So war er als junger Mann plötzlich nach Asien gereist, so entstanden seine Zeichnungen und Radierungen, so hatte er Sensburg erworben, so ... doch wir wollen nicht vorgreifen.
Der Edelhof, von dessen Verkäuflichkeit er auf einer Sommerreise zufällig gehört, erschien ihm gerade als der Elfenbeinturm, in den er vor der Zeit flüchten konnte. In den letzten Jahren hatte er wohl in Rolfsburg eine geräumige Wohnung gehabt, die er aber, nach wie vor mehr auf Reisen als daheim, meist seiner Wirtschafterin zur Hütung überließ. So kam der bleiche, noch immer nachdenklich in die Welt blickende Mann mit der schwarzen Hornbrille um sein vierzigstes Jahr zum erstenmal im Leben zu dem lang entbehrten eigenen Heim.
Das Herrenhaus war ein massiver, grauer Bau mit überhängendem ersten Stockwerk und barockgeschwungenen Erkern an den vier Ecken. Fast die ganze Vorderseite bedeckte dichter Efeu. Sehr steil schwang sich ein edel geschweiftes, braunes Ziegeldach, spitz zulaufend, bis zu einem kleinen Türmchen empor, dessen Glocke die jeweiligen Besitzer von Sensburg aus Gefälligkeit gegen die Bauern bei vorüberkommenden Leichenzügen, die dem nahen Bergfriedhof zustrebten, läuten zu lassen pflegten, da die nächste Kirche außer Hörweite lag. Diese seit alters bestehende Übung übernahm Ferdinand, den noch immer wenig Pflichten drückten, als ein heiliges Vermächtnis mit großem Eifer und zur Entlastung der alten Frau Betty, die ihm die Wirtschaft führte, zu welchem Amt das gewohnheitsmäßige Läuten der Totenglocke ganz gewiß nicht gehörte.
Ferdinand hatte die Alte, einstige langjährige Köchin in seinem Elternhause, jetzt Witwe des weiland Holthoff'schen Bankdieners Krümlich, nachdem sie den Brüdern den Tod ihres Mannes angezeigt und sich zu etwaiger Verwendung angeboten hatte, aus dem zwar auch katholischen, aber ganz und gar verstädterten Rheinland zunächst für einige Jahre nach Rolfsburg, dann in diese Bauernwelt verpflanzt. Gegen deren Bräuche hatte sie freilich von ihrem hochzivilisierten Standpunkt aus mancherlei zu erinnern, ganz abgesehen davon, daß sie bei aller Treue zu den Holthoffs, die ihr eine Witwenpension zahlten, eigentlich das Arbeiten nicht mehr nötig und nur aus aufrichtiger Verachtung des Müßiggangs wieder eine Stelle angenommen hatte. Aber auf ihre alten Tage auf zugigem Dachstuhl eine Totenglocke für Bauernleichen zu läuten, das war sie doch nicht gewillt, und ihr einsichtiger Herr mutete es ihr auch gar nicht zu, tat es vielmehr selbst, und zwar nicht eigentlich ungern, denn, während er sich noch immer einzig dem ungreifbaren »Wu – Wei« zu überlassen wähnte, hatte er doch auch eine entschiedene Ehrfurcht vor allen heiligen Symbolen, die indessen von seiner Liebe zu allem Grotesken noch übertroffen wurde. Er genoß aber die Lage als zugleich ehrwürdig und düster humorig, wenn er sich durch den Wink des Todes aus der Bibliothek oder dem als Malatelier eingerichteten Nordraum im ersten Stock aufscheuchen ließ, um in geblümten, chinesischem Schlafrock das enge Holztreppchen hinaufzuspringen und das von den Bauern gewünschte Geläut des Jammerglöckleins anzuheben. Frau Betty mißbilligte eigentlich, daß ihr Herr sich zu so etwas hergab, in dem sie noch etwas von dem kleinen Prinzen sah, der als Dreijähriger einmal verbotenerweise bei ihr in der Küche erschienen war, um schon vor der Mahlzeit etwas von der Mehlspeise zu erhaschen, woraus dann eine schreckliche Geschichte mit Verhör und Drohungen entstanden war. Hätte sich damals die junge Betty benommen wie andere tun, nämlich schwer beleidigt ihre Stelle gekündigt, dann wäre sie nie Frau Krümlich geworden und jetzt nicht in Sensburg. Wu – Wei.
Noch immer schien ihr Ferdinand ebenso hilfsbedürftig wie damals, und das gab dem Verhältnis zwischen Herrn und Dienerin für beide Teile etwas hoch befriedigendes. Oh, er hatte für die Alte – sie war weit in den Fünfzig – unbedingt die allgemeine Autorität des Herrn, die er sogar gelegentlich zu betonen wußte, aber in allem Einzelnen war er ein Kind, für das sich Frau Betty Seiner Exzellenz dem Herrn Staatsminister Erich Holthoff gegenüber verantwortlich fühlte.
Das Heimweh, das die Entwurzelte nicht selten nach dem Rhein fühlte, wurde bald aufgewogen durch das Ansehen, das sie durch ihre höhere Intelligenz und Erfahrung, was sie zusammen gern ihre Bildung nannte, unter der einfachen Bevölkerung gewann. Dadurch daß man sie regelmäßig in der Messe, bei Beichte und Abendmahl sah, war das Mißtrauen schnell behoben, das ihre schärfere rheinische Mundart zunächst erweckte; dazu kam, daß sie gerade mit einem in ihrer Heimat seltenen Leiden behaftet war, das aber in diesem Lande geradezu als nationale Eigenart anzusprechen ist, nämlich einem schon Kropf zu nennenden, die Leute anheimelnden Blähhals, dem in den späteren Nachmittagsstunden eine Spitzenkrause, eigentlich zum Verbergen bestimmt, erst recht Relief gab. Zu scherzen war mit ihr nicht. So scheute sie sich nicht, wenn auch nur bei eigentlich tragischen Anlässen im Leben ihres oft schwer den rechten Entschluß findenden Herrn, diesen unumwunden einen Narren zu schelten, wobei sie sich mit Fug und Recht auf dessen sich jetzt gewiß im Grab umwälzende Eltern zu berufen pflegte. Oft bezog sie sich auch auf den Herrn Minister. Was der sagte, war für die Alte ein eben so untrügliches Orakel des Holthoff'schen Familienlaren, wie ihr Ferdinands Träumereien als unmaßgeblich erschienen. Häufig kam jener über den Sonntag von Rolfsburg in drei Eisenbahnstunden nach Sensburg, bisweilen um einen Rehbock zu schießen, besonders aber, um sich von den in den Kriegsjahren kaum mehr zu bewältigenden Amtsgeschäften, die häufige Frontreisen unterbrachen, in der geistig ausgefüllten Muße des Bruders ein wenig zu erholen, der wie auf dem Sirius lebte, als gäbe es keinen Krieg, dazu zwischen Eiern, Butter und »Schweinernem«.
Daß diese Lebensgüter wirklich und in der bedungenen Weise von dem Schandlhuber geliefert wurden, dessen schlauen grauen Bauernaugen ihre scharfen Blicke gewachsen waren, dafür sorgte Frau Betty. Während dieser seinen Vorteil nach altem ländlichen Herkommen im Verwirren der Tatbestände suchte, so daß sich keiner mehr recht auskennen möchte, fuhr ihre Intelligenz wie ein Kugelblitz durch das Nebelgebräu seiner dumpfen Schlauheit und zerteilte es. Wenn dann die Sachlage klar wie die abgeteilten Felder einer Flur vor Augen lag, dann schlug der Schandlhuber mit der Faust auf den Küchentisch und schwur voll Bewunderung, wenn die Frau Betty nur zehn Jahre jünger wäre, möchte er sie gleich als Bäuerin auf seinem Hof haben, indem daß er selbst ein Witwer sei. Dann lächelte Frau Betty überlegen und ermaß im Stillen die Kluft, welche der Bildungsunterschied zwischen ihr und dem Schandlhuber schuf. Indessen hörte sie ihm gern zu, bot ihm auch bisweilen einen Kaffee an, und so lernte sie allmählich die Mundart verstehen und die Familien- und Wirtschaftsverhältnisse der Gegend begutachten. Der Schandlhuber nannte sie immer wieder ein »Urviech«, und sie war nun schon hinreichend mit der Lokalfarbe des Landes vertraut, um die hohe Anerkennung zu würdigen, die in einem solchen Ausdruck lag, zumal im Munde eines durch Wohlstand, Witz und Gerissenheit gleich hoch geachteten Kumpans wie der Schandlhuber.
Es versteht sich, daß der Haushalt gänzlich unter Frau Bettys Leitung stand. Die Einstellung des nötigen Personals, eines Stuben- und Küchenmädchens, so wie etwaige Kündigungen waren ihr überlassen. Mit jenen Hilfskräften besorgte sie sogar die Gartenarbeit. Fuhrwerk zu halten gestattete sie Ferdinand nicht, denn das hätte männliche Dienerschaft vorausgesetzt. Diese Klippe verstand Frau Betty gut zu umschiffen. Bei besonderer Gelegenheit, etwa wenn Gäste an der Bahn abzuholen waren, konnte man jedesmal ein Viktoriawägelchen vom Schandlhuber haben, und im übrigen war es für den stubenhockerischen Ferdinand viel gesünder, er schweifte nachmittags zu Fuß in der Gegend umher, deren mit lieblichen Wiesentälern abwechselnde düstere Bergschroffheit ihn immer mehr bezauberte.
Noch immer beschickte er gelegentlich Kunstausstellungen und wunderte sich selbst höchlich, wenn ein Blatt einen Käufer fand. Mit viel mehr Leidenschaft aber war er nun Antiquitätensammler, was Frau Betty ihm hingehen ließ, seit Se. Exzellenz erklärt hatten, eine bessere Vermögensanlage sei zur Zeit gar nicht auszudenken, besonders, wenn jemand so viel davon verstehe wie Ferdinand. Auch seine philosophische Gedankenwelt hatte er weiter ausgebaut. Seit einem Jahrzehnt arbeitete er an der Wiederlegung eines Systems, das er in der Jugend vor der Asienreise keck aufgestellt und dessen Entwurf er höchst leichtfertigerweise in hundert Exemplaren für seine Freunde auf handgeschöpftem Papier hatte drucken lassen. Tatsächlich pries es, wenn man die letzten Folgen daraus hätte ziehen wollen, ein bedenkliches Epikuräertum; dieses war inzwischen einem künstlerisch beseelten Spiritualismus gewichen, der indessen auch Raum ließ für die Pflege von Küche und Keller. Da die hundert Empfänger jener sündigen Maienblüte seiner unbelehrten Jugend nicht mehr namentlich zu erreichen waren, ging er in seiner Gewissenhaftigkeit so weit, die von ihm verbreitete Irrlehre in Gestalt eines Buches öffentlich abschwören zu wollen, und, wenn ihm etwas schwere Sorge machte, war es die Furcht, seine Trägheit und mangelnde Stetigkeit würde es niemals dazu kommen ergänzt: lassen. In Sensburg nahm er auch die in den letzten Wanderjahren etwas vernachlässigte Musik wieder auf. Sein Klavierspiel genügte, um ihn zu einem gesuchten Gast auf den umliegenden Landgütern zu machen, wozu indessen auch ein durch Herzlichkeit gemilderter treffsicherer Witz beitrug; indessen zog er der planmäßigen Fortbildung seines musikalischen Könnens die fruchtlose Beschäftigung mit krausen veralteten Instrumenten vor, denen er oft bis tief in die Nacht bald erbärmliche, bald Schrecken erregende Töne entlockte. Dies billigte natürlich Frau Betty weniger, wagte es aber nicht, davon zu Sr. Exzellenz zu sprechen, aus Angst, es könne sich dann herausstellen, daß auch dieser Aberwitz in einer ihr unbekannten Weise gerechtfertigt sei. Gut hingegen fand sie, daß Ferdinand öfters im Winter auf eine Woche in die nahegelegenen Städte fuhr, wo er alte Freunde sah, Konzerte besuchte und sich bei Althändlern herumtrieb, während sie dann Zeit hatte, das Haus gründlich zu reinigen.
Bei der Schilderung dieses Hauswesens darf zweier Geschöpfe nicht vergessen werden. Eines hatte Ferdinand von dem früheren Besitzer als genius loci mit übernommen, das gänzlich verwilderte Tier Skanny. Es galt als Hund, glich aber eher einer rabenschwarzen Fledermaus, der ein grausamer Witzbold die Flügel abgeschnitten hat. Andere Hunde erkannten Skanny nicht als ihresgleichen an, mieden oder befeindeten ihn. Das hinderte ihn anfänglich nicht, sie zu lieben und vertrauensvoll ihren Umgang zu suchen, was aber nie gut ausging. So beschloß er, wie Richard III., ein Bösewicht zu werden, wozu ihm indessen, außer seinem Furcht einflößenden schwarzem Äußeren, so gut wie alles fehlte, sowohl die Bosheit als die Kraft. Er begnügte sich daher damit, gelegentlich unhörbar aus dunklen Ecken hervorzutreten, was freilich in dem, der das zum erstenmal erlebte, bleichen Schrecken, das zweite Mal aber schon ungetrübte Heiterkeit erregte. Ferdinand war der Erste und Einzige, der ihn als Hund ernst nahm. Er erkannte in ihm den Vertreter einer seltenen, höchst vornehmen Bullyfamilie, und so sah Skanny, von nun an wohlgepflegt und nahezu geruchlos, einem heiteren Lebensabend entgegen. Freilich hatte er die Gunst seines Herrn mit einer ebenso vornehmen, weißen, blauäugigen Angorakatze zu teilen, einer Prinzessin von Geblüt, namens Cora. Während man Skanny ansah, daß er in Ferdinand schlechthin ein Ideal erblickte, – »so sollte man womöglich sein« – schien sich Cora ihre eigenen, und nicht gerade ehrfürchtigen Gedanken über ihn zu machen. Die beiden Tiere liebten sich natürlich nicht, aber ein angeborener Takt gestattete ihnen, einander örtlich nahe, innerlich weltenweit entfernt zu leben und dennoch peinliche Szenen zu vermeiden.