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Im Spätherbst 1917 las Ferdinand in einer Zeitung, die ihm durch Zufall in die Hände kam – regelmäßiger Zeitungleser war er nicht –, daß die berühmte Geigerin, Fräulein Melusine von Kaden, schwer leidend und vereinsamt in einem Sanatorium in Berlin lebe. Als Tochter eines baltischen Gutsbesitzers, Schwester eines höheren russischen Offiziers, und ehemaliger Liebling des Petersburger Hofes hatte sie unter besonders furchtbaren Umständen vor der russischen Revolution fliehen müssen.
Die Zeitung wußte von ihr eine erstaunliche Tat zu berichten. Rote Horden waren in das Schloß der Familie eingedrungen und hatten den alten Baron vor den Augen der Mutter und Tochter zu Tode gefoltert. Die Mutter erlöste ein plötzlicher Herzschlag, Melusine wurde in ein Gefängnis gesetzt, wo sie sich wochenlang eines wüsten Individuums zu erwehren hatte, das ihr indessen mehr durch Schamlosigkeit und List, als durch Gewalt zusetzte. Der Mensch stellte ihr in Aussicht, durch Hingabe an ihn ihren in Petersburg gefangenen Bruder vom Tode retten zu können. Da sie indessen sichere Nachricht besaß, daß dieser schon vor einigen Wochen erschossen worden war, machte sie einen Gegenvorschlag, um zunächst einmal aus ihrem Gefängnis heraus zu kommen. Sie erklärte dem Subjekt, sie sei bereit in aller Form Rechtens seine Ehefrau zu werden, wenn er sich ihr gegenüber inzwischen wie ein Herr verhalten und ihr ermöglichen wolle, frei ihren Beruf als Geigerin auszuüben. Verblüfft hörte er diesen Plan der zugleich Begehrten und wegen ihrer Unnahbarkeit Gehaßten an, der ihm einen ganz unverhofften Weg zeigte, nämlich sie als ihresgleichen rechtmäßig zu besitzen, so wie – bemerkte die Zeitung – wenn jemand einem Einbrecher sagt, er könne die gewünschten Gegenstände demnächst als gesetzliches Eigentum besitzen, falls er nur die Geduld haben wolle, auf die Ausfertigung der Schenkungsurkunde zu warten. Von diesem Augenblick an war der Prolet wie umgewandelt. Er nahm alle Bedingungen der »Barina« an, besonders ihre Forderung einer Verlobungszeit, in der er zu beweisen hätte, daß er ein anderer geworden sei. Sofort brachte er sie in einem Zimmer unter, umwarb sie und tat was sie befahl, um ihrer würdig zu scheinen.
Melusine pflegte später zu erzählen, wenn ihr nicht unvergeßlich die Schändlichkeit des Menschen im Gedächtnis geblieben wäre, hätte sie seine veränderte, achtungsvolle Art rühren können. Indessen dachte sie im Stillen nur an Flucht und verstand sogar, den Ahnungslosen ihren Plänen dienstbar zu machen, indem sie ihm erklärte, nachdem sie nun einmal zu ihm und seiner Sache gehöre, fühle sie sich nicht sicher ohne einen Paß, der ihre wahre Herkunft verschleiere. Geld konnte sie von ihm haben, soviel sie wollte, ja er achtete sogar ihr Bedürfnis, um ihrer Kunst willen viel allein zu sein. Anfangs war er wohl dagegen mißtrauisch gewesen, aber sie wußte ihn von der Harmlosigkeit dieser einsamen Stunden zu überzeugen. Bisweilen lobte sie ihn wegen seiner zunehmenden Gesittung, was ihn sehr befriedigte und ihr zugleich erlaubte, das letzte Ziel seiner Wünsche immer wieder hinauszuschieben; ja manchmal zeigte er sich so menschlich, daß Melusine mit dem Gedanken spielte, er wäre vielleicht dazu zu bringen, sie eines Tages aus Anständigkeit frei zu lassen, aber sie erlag solchen sentimentalen Regungen nicht. Ein tiefer Fraueninstinkt sagte ihr, daß die Bestie sofort wieder aufspringen würde, falls sie sich um den Preis für die Zähmung betrogen sähe, und daß sie dann nicht zögern würde, die Herrin lieber zu zerreißen als verloren zu geben.
Eines Tages fand sich nun die Möglichkeit zur Flucht. Es war ihr gelungen, von ihrem Beschützer einen Teil ihres Familienschmuckes und »zur Erinnerung an die Vergangenheit« eine Miniaturensammlung ihres Vaters zurückzuerhalten, deren Wert die Räuber nicht ahnten und die in einem leicht tragbaren Köfferchen untergebracht war. Reichliche Bestechung bahnte den Weg, und eines Nachts überschritt Melusine mit ein paar Schicksalsgenossen auf einem Schlitten die polnische Grenze. Sie begab sich, hinreichend mit Mitteln versehen, nach Berlin, wo sie von der Vorkriegszeit her einen großen Ruf als Künstlerin hatte, aber das Entgegenkommen, daß sie hier fand, vermochte nicht die Hemmung zu überwinden, wieder zur Geige zu greifen, obwohl ihr Gönner ein altes italienisches Instrument verehrten. So lange sie um ihre Freiheit kämpfte, waren ihre Nerven in einer Hochspannung gewesen, die sie zu allem fähig machte. Kaum aber hatte sie in Berlin ein sicheres Dach über sich, als ihre Kräfte völlig aussetzten. Dem wiedererrungenen Leben stand sie gefühllos gegenüber und war daher unfähig, die ihr gemachten Anerbietungen anzunehmen. Die wie im Traum erlebte letzte Vergangenheit machte ihre Rechte geltend und verlangte gebieterisch, jetzt erst im Gefühl nacherlebt zu werden.
Schließlich wurde die Künstlerin von Freunden in jenes hauptsächlich von Kriegsverletzten, unter Nahrungsmittelmangel leidende Sanatorium gebracht, im letzten Kriegsjahr noch immer der günstigste Aufenthalt für jemand in ihrer Lage, aber doch ganz ungenügend zu wahrer Erholung; von hier aus gelangten die äußeren Tatsachen ihrer Geschichte in die Zeitung.
Während Ferdinand davon las, erinnerte er sich mit Entzücken der Geigerin, deren Konzerte er einst, wenn er in derselben Stadt war wie sie, nie zu versäumen pflegte. Er sah sie wieder vor sich, nicht eigentlich schön im Sinne vollkommener Wohlgeratenheit. Dazu war schon ihre Gestalt nicht eindrucksvoll genug, die gerade noch Mittelgröße hatte. Das Gesicht belebten keine ausgesprochenen Farben, vielmehr zeigte die zarte Haut einen sehr feinen, aber nicht ganz gesunden Muschelglanz. Die Nase war klein, doch scharf profiliert, der Mund sehr ausdrucksvoll geschnitten, aber entschieden etwas boshaft, wenn nicht gar grausam. Ferdinand fühlte sich von dem nicht eben blendenden Äußeren der Künstlerin kaum weniger, als von ihrem Spiel angezogen, und so war er immer in den vordersten Reihen gesessen. Da hatte er wahrnehmen können, daß sie, wenn sie sich lächelnd verbeugte, unter den feinen Lippen kleine Katzenzähnchen entblößte, deren Ton mehr ins Bläuliche, als in das gesündere Gelb spielte. Man sah einige Goldplomben. Prachtvoll war das reiche, sandfarbene Haar; die grazile Figur erschien ebenmäßig und nicht ohne Fülle. Das Bedeutendste an ihr waren indessen die langbewimperten grau-grünen Augen, obwohl weder besonders groß, noch von ausgesprochener Farbe, aber ihr Blick heftete sich, wenn er nicht geflissentlich auswich, tief in die Blicke dessen, der sie im Augenblick interessierte, und Ferdinand, der sich mehrmals so von ihr angeschaut sah, hatte gefühlt, daß gleichzeitig etwas rätselhaftes sich in ihn versenkte und ein vergessenes Stück aus ihm emporhob. Er wußte nicht, ob dieser Blick frivol, traumhaft oder ekstatisch war, jedenfalls verwirrte er ihn dermaßen, daß er sich stets etwas gescheut hatte, Melusinens Bekanntschaft zu suchen.
Nun aber gar ihr Spiel! Das war ein anderes Rätsel, das mit dem ihrer Person nicht das geringste zu tun zu haben schien. Während sie geigte, stand da eine mäßig große Frau, fast wie ein unscheinbares Futteral, aus dem ein bunt leuchtender Schmuck hervorgenommen wird. Die kräftigen weißen Finger schienen automatisch zu spielen, als würde es ihnen so von irgendwoher diktiert. Mit dem, was da in der Luft aufstieg, schien dieser geigende Mensch gar nichts zu tun zu haben. Sie spielte fast nur klassische Musik, und die schlechthin vollkommen. Es war allgemein bekannt, daß sie dabei völlig unbeeinflußt von der Umgebung war, obwohl sie als Mensch für ziemlich nervös galt. Hielt sie die Geige in der Hand, dann hatte sie nie ein schlecht besuchter Saal gestört, die Verzweiflung aller Anfänger, noch ein unruhiges Publikum, wie sie es später oft im Ausland fand. Ein Wort von ihr war im Umlauf, sie würde sich getrauen, im Getöse eines Bahnhofes, ja einer Schlacht, genau so zu spielen wie im Konzertsaal, während sie andererseits nicht schlafen oder lesen konnte, wenn nicht völlige Ruhe um sie herrschte.
In den nächsten Tagen, nachdem Ferdinand den Zeitungsbericht gelesen, schweifte er viel in den Bergen umher, wo ihn das plötzlich herauf beschworene Erinnerungsbild Melusinens geradezu besessen hielt. War das eine Schickung des »Wu-Wei«? Plötzlich schien er sich darüber klar zu sein, warum ihm ohne sein bewußtes Zutun gelungen war, in Sensburg mitten in einer kriegszerrissenen Welt eine solche idyllische Zuflucht zu schaffen. Das alles sollte offensichtlich nur dazu dienen, um nun diese merkwürdige Frau aufzunehmen. Noch am selben Abend schrieb er ihr in diesem Sinn. Er sei ein alter Verehrer ihrer Kunst und habe, ohne es selbst zu wissen, den einzigen Ort in Europa geschaffen, wo heute noch Erholung für sie möglich sei. Mit Humor schilderte er sich selbst als einen für Frauen ganz ungefährlichen Menschen und legte den Photographien von Sensburg ein besonders abschreckendes Paßbild von sich bei, auf dem er aussah wie ein dümmlicher Hase, der sich hinter einer Hornbrille verbirgt. Da ihn seine bescheidene Kunst nicht legitimieren konnte, verwies er nebenher auf seinen hochbeamteten Bruder.
In den Tagen, während deren er auf die Antwort aus Berlin wartete, irrte er ruhelos in der kahlen Natur zwischen den herbstlichen Baumgespenstern umher. Er gedachte unwillkürlich seiner früheren Erlebnisse mit Frauen. Alle hatten ähnlich geendet. Jeder war er hörig geworden, und jede hatte das auf ihre persönliche Weise auszunutzen verstanden, mochte es sich dabei um kindische, aber kostspielige Albernheiten oder um einen durch beruflichen Ehrgeiz verschleierten tieferen Egoismus handeln. Nie war er einer Frau gewachsen gewesen, wie ihm der Bruder einmal vorwarf, während er ihn gerade einer besonders putz- und geldsüchtigen Person entriß und schnell nach Italien verfrachtete; aber darauf hatte er überlegen lächelnd die Antwort gefunden, daß ihn das auch nicht im mindesten beglücken würde. Ob es etwa beglücke, Spielball einer boshaften Hexe zu sein, hatte Erich gefragt. Nein, das war freilich auch nicht gerade wünschenswert, und darum hatte der nun weiser gewordene Vierziger in den letzten Jahren dauernde weibliche Beziehungen vermieden. Nun aber schien sich ihm, ohne daß er es sich ganz bewußt zugestand, die Möglichkeit zu bieten, einer Frau zu dienen, die es wert war. Er glaubte die Künstlerin und die Leidende eingeladen zu haben, aber unwillkürlich beschäftigten sich seine Gedanken am meisten mit dem Weib, das ebenso gefühlssicher, wie gedankenklar die Oberhand über jene russische Bestie gewonnen hatte. Was gehörte dazu für Charakterstärke!
Ferdinand brauchte nicht lange auf Antwort zu warten. Melusinens Zeilen verrieten zumindest das eine, daß er ihr gegenüber den rechten Ton getroffen hatte. Das Menschliche in ihnen rührte, das Geistige interessierte sie offenbar. Im Augenblick könne sie sich wohl nicht zu der weiten Reise und dem Abbruch der ärztlichen Behandlung entschließen, sie bat aber aufrichtig um Fortsetzung des Briefwechsels, der ihr überraschend wohl tue. Einen Augenblick war Ferdinand enttäuscht, da er gehofft hatte, sie schon in wenigen Tagen in Sensburg einziehen zu sehen, dann aber bezauberte ihn immer mehr die Mischung von Wärme und Zurückhaltung in Melusinens Brief. Auch ihre Schriftzüge heimelten ihn an, denn es wäre wunderbar, wenn ein so vielseitiger Geist wie der seine sich nicht auch etwas mit Graphologie befaßt hätte. Das ging sogar so weit, daß er sich gelegentlich in weibliche Schriften verliebte. Hier fand er nun nicht jene trügerische, unter heutigen Damen schon konventionell gewordene künstliche Steilschrift, deren unverhältnismäßige, im Augenblick geradezu napoleonisch wirkende Größe einem Kenner wie Ferdinand die innere Leere und Schwäche erst recht sichtbar macht, sondern eine fast altmodische, aber schwungvolle deutsche Schrift, eher klein, doch mit zierlich sich rundenden Buchstaben. Ferdinand antwortete nach wenigen Tagen, und nun entstand ein allwöchentlicher Gedankenaustausch, der sich bis in's Frühjahr hinzog.
Sie erzählte ihm mancherlei aus ihrer Kindheit. Der Name Melusine war aus Mela, einer Abkürzung von Melanie, entstanden und ihr anfangs scherzhaft gegeben worden, weil das seltsame, am liebsten einsam in Wäldern und an Teichen umherschweifende Kind schon den nächsten Angehörigen geheimnisvoll und märchenhaft erschienen war. Später hatte sie sich den Namen bewußt zugeeignet, da ihr jene Sage tiefen Eindruck machte, in der ein Weib, das eigentlich kein Menschenwesen ist, einwilligt, mit Menschen zu leben, unter der Bedingung, daß man es einen Tag in der Woche mit seinem Geheimnis allein läßt. Ja, ihr Geheimnis! Sie verstand es selber nicht. Es offenbarte sich ihr in immer wiederkehrenden Träumen, denen sie viele Tagesstunden nachzusinnen gezwungen war. Da sah sie die Erde bersten, aus Kraterlöchern sprangen Wasser- und Feuersäulen auf, die wie lebendige Ungeheuer das Land an sich zu reißen schienen und die Wohnsitze der Menschen zerstörten. Dann sah sie sich in unterirdischen Felsenkammern eingesperrt oder zwischen glatten Basaltsäulen, die sie dicht umgaben und bis in das Blau des Himmels ragten, so daß es kein Entrinnen gab. Oder sie lebte in Palästen, die einstürzten, während Riesenschildkröten aus dem Boden stiegen und sie zur Entscheidung zwangen, von ihnen auf der Stelle verschlungen zu werden oder ihre Königin zu sein. Dieser Besessenheit durch die Träume entrann sie in die Musik. Die leidenschaftliche Beschäftigung mit ihr – aber nur wenn sie sich damit bis zum äußersten erschöpfte – gab ihr ruhige Nächte. Man warf der Heranwachsenden bald Herzenskälte, bald allzu heftige Leidenschaftlichkeit in Liebe und Haß vor; ja man fürchtete sie unwillkürlich. Nie hatte jemand gewagt, ihren Willen ernstlich zu beugen. So überließ man sie erst ihren kindlichen Wunderlichkeiten, dann ihrem Geigenspiel und wagte ihr nicht zu widersprechen, als sie gegen Sitte und Brauch zum Zweck ihrer Ausbildung allein in die Städte des Auslandes zog, wo sie, die üblichen Fremdenpensionen vermeidend, in einsamen Zimmern zu hausen pflegte. So war sie, besonders, als sie draußen berühmt geworden war, immer wieder voll Anhänglichkeit zu den Ihren auf das kurische Gut zurückgekehrt. Dummtrotzige Auflehnung gegen gegebene Verhältnisse wie schwächliche Unterwerfung unter unwürdige Zumutungen waren ihr gleich fremd, und dadurch hatte sie den tatsächlichen Gegensatz zwischen ihrer Herkunft und deren überlieferten Werten auf der einen und ihrer individuellen Entwicklung auf der anderen Seite nicht als unbedingt feindseligen, sondern mehr und mehr als ein sie bereicherndes Widerspiel empfunden.
»Glauben Sie aber nicht,« schrieb sie an Ferdinand, »daß ich deshalb ein harmonisches Wesen ohne Konflikte geworden bin, nur liegen sie etwas tiefer, als diese modernen Kindereien, wie sie sich zwischen wild gewordenen Backfischen und putenhaften Müttern oder ekelhaften Vätern abzuspielen pflegen. Lesen Sie wieder einmal in Schwab's Sagen das Märchen von der »Schönen Melusine«, die dem edlen Ritter Lusignan angetraut war, ihm aber verbarg, daß sie sich jeden Freitag in ein Wasserweib mit Fischschwanz verwandelte, und den Gatten schließlich verlassen mußte, als er durch seine Neugierde hinter das Geheimnis gekommen war. Mir tut der arme Ritter leid, denn er ist im Recht. Kann es ihm gleichgültig sein, daß sich seine Frau jede Woche einen Tag einschließt, und was soll aus seiner Ehe werden, wenn er gar den Grund dieser Heimlichkeit erfährt? So, nun wissen Sie auch, warum ich nicht geheiratet habe, obwohl ich schon dreißig bin.«
Das wußte zwar Ferdinand noch nicht, aber er erriet bald etwas davon auf seinen Spaziergängen. Diese letzten Sätze hatten ihn in der Tiefe erregt. Auf Märchen- und Sagensymbole verstand er sich, auch ihn hatte die Geschichte der schönen Melusine schon als Kind mächtig ergriffen, später war er in seinen Zeichnungen und Radierungen mehrfach darauf zurückgekommen. Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, hatte er den Ritter als vorwitzigen Frevler dargestellt, im Dunkel vor dem Schlüsselloch kauernd, hinter dem Melusine ihr Geheimnis entschleierte. Nun schrieb jene Melusine aus dem Norden, daß der Ritter im Recht war, das Geheimnis seiner Frau nicht zu schonen: warf das nicht Ferdinands ehrfürchtige Auffassung um, die ihm das Wu-Wei zu bestätigen schien, daß es Heiligtümer gibt, die nicht betreten werden dürfen, um ihre Wirksamkeit nicht einzubüßen? Was aber bedeutete der Nachsatz: »Nun wissen Sie, warum ich nicht geheiratet habe?« Sie hatte sich offenbar die Erfahrung ihrer mythologischen Namensschwester, welche die Ehe mit einem menschlichen Ritter versuchte, zu Nutze gemacht. Wenn man heiratet, so verleiht man Rechte, das hatte jene sagenhafte Melusine vergessen, aber die irdische war klug, sie wußte es. Da lag die Quelle jener Kraft, mit der sie sich des Bolschewiken erwehrt hatte. Eine Frau, die Rittern Rechte gewährt, vermöchte das nicht, entweder hätte sie sich dem falschen Ritter vielleicht doch ergeben oder sich verzweifelt umbringen lassen. Melusine stellte sich auf eine ganz andere Ebene, von wo aus sie mit Rittern spielen konnte wie auf dem Schachbrett mit Bauern. Mochten sie auf ihrer Stufe recht haben, alles hing davon ab, sich nicht selbst auf diese Ebene zu stellen. Sicher haßte sie jenes Subjekt gar nicht einmal. Es hatte nach seiner Gesetzmäßigkeit gehandelt, wie ein Fuchs, der nach Beute schnappt. Kennt man aber einmal diese Raubtiernatur, so kann man die Beute auf ein Fuchseisen legen, und man fängt ihn. So grübelte der tiefsinnige Ferdinand über Melusine, während er die verschneiten Wege um Sensburg ging. Freilich, jenes Meisterstück weiblichen Obsiegens hatte ihre Kräfte erschöpft. Gab es dafür einen besseren Erholungsort, als Sensburg? Er sann weiter: Ist Melusine aus der Sphäre der »Ritterweibchen« herausgetreten, so hat er, Ferdinand, nie Ritterrechte beansprucht. Ihm ist das Geheimnis des Weibes stets heilig gewesen. Freilich war er bisher noch nicht an »das Weib«, sondern nur an die Weibchen geraten. Je mehr er deren Geheimnis ehrte, desto schamloser hatte es sich offenbart, nicht etwa als dämonischer Trieb, sondern als kleinliche Habsucht, Putzsucht, Verschwendung, Eitelkeit, Neid, Bosheit, und was ihm ärger als alles war: die abgrundtiefe Albernheit auch bei vorgeblich ernsteren, etwa beruflichen Zielen. Nein, das Spiel mußte auf Gegenseitigkeit beruhen. Der geistige Mann mit dem Weibchen, das ist eben so unmöglich, wie Melusine und der Ritter.
O Melusine mußte nach Sensburg kommen, und sie würde kommen, das war Schicksal. Als er sich erbot, sie in Berlin zu holen, ersuchte sie ihn jedoch dringend, davon abzustehen. Das Märchen Sensburg würde für sie zerstört, wenn sie sich in der Berliner Umgebung sähen, indessen sei sie jetzt entschlossen zu kommen, er möge sich demnächst auf ein Telegramm gefaßt machen.
Dieser Vorschlag gefiel Ferdinand ungemein. Er wäre sehr ungern in das kriegslaute Berlin gefahren, denn er fühlte wohl, daß er sich als Herr auf Sensburg mit dem ganzen Hintergrund seiner eigenen, ihr schon sympathischen Welt in Melusinens Augen besser ausnehmen würde, als in Berlin, wo er sich selber schattenhaft und unwirklich vorgekommen wäre.