Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XLIII

Die Entfernung der Kugel aus Erichs Wunde war gelungen. Als er nach der Operation zu sich kam, fühlte er sich unsäglich müde und wie von seinem ganzen früheren Leben abgeschnitten, aber sein Geist war wieder in dem Zustand hellsichtiger Klarheit, der ihn in der letzten Stunde vor Ferdinands Schuß überkommen hatte, nur war das Traumhafte einer nüchternen Gewißheit gewichen. Kein Groll erfüllte ihn gegen den Bruder, vielmehr sah er in dem Geschehenen ein wie selbstverständlich hinzunehmendes Schicksalswalten, dessen Werkzeug der unglückliche Ferdinand, gewesen war. Über die Liebe einer Frau hatte er einst seine politische Laufbahn gefunden. Als er diese durch eine letzte Tat zu krönen glaubte, und die innere Stimme: »Vorwärts!« rief, führte ihn der Weg ... ja wohin nur? Wo war er denn eigentlich jetzt?

Melusine war völlig verzweifelt. Sie beschuldigte sich selbst immer wieder, mittelbar Ferdinand zu seiner Tat angestiftet zu haben. Sie hätte die Gegensätze zwischen beiden Brüdern, die vor ihrem Erscheinen einander so gut ergänzten, zur Feindschaft aufgestachelt und sich dazu des schändlichsten Mittels bedient, wozu eben nur ein Weib fähig sei, nämlich zugelassen, daß Ferdinand glaubte, sie liebe ihn und wolle ihm bald für immer angehören. Kein Wunder, daß er dann außer sich geriet, als er sie in Erichs Zimmer überraschte.

Erich war unfähig viel zu reden, schüttelte bei solchen Bekenntnissen immer nur den Kopf und sagte leise:

»Nein, nein, Melusine, so ist es nicht, wenigstens ist es nicht alles.«

Sie legte oft schluchzend den Kopf neben ihm auf das Kissen des Bettes, und allmählich befreite sich ihr Inneres von den unbeschreiblichen Lasten, die sie zeitlebens getragen hatte.

Sie sei überhaupt bis jetzt kein Mensch gewesen. Was in ihr menschliches war, das habe sie diesem Moloch Musik geopfert. Der Rest war kindische Hilflosigkeit, zugedeckt von dummem, ganz dummem Trotz. Sie hätte es für etwas Großes und Edles gehalten, keinem Mann anzugehören, das war ihr frauenzimmerlich erschienen, und in diesem Kampf sei sie weniger als eine Frau gewesen, ein albernes widerspänstiges Kind. Wenn ihr Gott einen ganz guten Verstand gegeben habe, so hätte sie ihn ihr Leben lang dazu mißbraucht, unnatürlichen Widersinn zu verteidigen. Als sie dann Erich sah, hätte sie ihn sofort geliebt, aber ihre Seele war ein gekrümmter Hohlspiegel und mußte dieses Gefühl, zu Haß verzehrt, zurückspiegeln. Aus dem, was an ihm übermenschlich groß sei, habe sie ein unmenschliches Ungeheuer gemacht. Gegen dieses Wahngebilde wollte sie dann Ferdinand zu seiner Tat anstacheln. Eine Verbrecherin sei sie, nicht besser, als ein Bolschewist, und so habe sie Ferdinand ins Unglück gestürzt und Erichs Lebenswerk vernichtet.

Nur allmählich fand Erich Erwiderungen auf solche Selbstanklagen.

»Du bist nicht die erste, die sich gegen das unmenschliche Ungeheuer empört hat, aber dann hast du es auch erlöst,« flüsterte er eines Abends.

Melusine bebte mit allen Nerven, und nun sprach er zum erstenmal wieder in zusammenhängender Rede.

»Kennst du die Geschichte vom Bär und dem Nußzweiglein, Melusine? Es ist das einzige Märchen, das ich aus meiner Kindheit behalten habe, und immer war mir, als ob es mich ganz besonders anginge. Ein Kaufmann muß im Wald, wo er für sein Lieblingstöchterchen ein Nußzweiglein abgepflückt hat, dem Bär, dem der Wald gehört, versprechen, ihm dafür das Wesen zu schenken, das ihm zu Hause zuerst entgegen kommen wird. Er glaubt, es werde sein Hund sein, aber es ist die Lieblingstochter. So wird die Zarte die Braut des garstigen Bären, nachdem dieser die andern, rauheren Töchter des Kaufmanns verschmäht hat. In seiner Höhle graust es sie nun furchtbar. Sie muß zwischen allerlei Kröten und Schlangen hindurch, aber mutig schreitet sie vorwärts; nachdem sie tapfer das Ende erreicht, kommt ihr der Bär entgegen, aber er ist jetzt kein Ungeheuer mehr, sondern ein von ihr entzauberter Königssohn, der sie liebt.«

Melusine war von diesem Bekenntnis beseligt, aber ihr Gewissen quälte sie doch immer wieder. Bedeutete es ihm denn nichts, daß sie seinen ganzen Plan zerstört hatte? War er denn ein Heiliger geworden?

Nein, sagte er, indem er ihr Haar streichelte, ein Heiliger sei er nicht und wolle er nicht sein, aber ihm sei zu Mut, als wäre er einen Augenblick schon bei den Toten gewesen und könne daher nun ein wenig den Sinn von allem Geschehenen verstehen. Sie und Ferdinand hätten sein Werk nicht zerstört. Wenn das Königtum in Harringen heute geschichtlich noch möglich wäre, dann würde ihn Ferdinands Kugel nicht getroffen haben. Vielleicht solle es keine gekrönten Könige mehr in der Welt geben, damit der Mensch das Königtum in sich selbst entdeckte. Seit ein Mädchen in ihm das Ungeheuer erlöst habe, wüßte er gar nicht, warum er noch einem Prinzen die Krone aufsetzen solle und nicht lieber seiner Retterin, die das vollbracht habe.

Er blickte sie fragend an, und sie sank an seine Brust, aber noch dauerte es eine Weile, bis sie das alles verstand. Es hätte doch auch alles gut gehen können, ohne ihre dumme Frauenzimmerlichkeit, die sie sich nicht verzeihen wollte.

Nichts tat ihr wohler, als wenn er ganz ruhig, ja in kühler Betrachtung über die Ereignisse sprach. Er betonte immer wieder, wenn ein Plan im Einklang ist mit dem Weltgeschehen, dann sei es ganz unglaublich, wie viele Dummheiten im Einzelnen gemacht werden könnten, er gelinge im Ganzen doch. Sein Plan war besser vorbereitet gewesen als alles was Caesar und Napoleon taten, und die äußeren Verhältnisse schienen ihm so sehr entgegenzukommen, daß, rein nach Ursache und Wirkung betrachtet, ein Mißlingen so gut wie unmöglich war. Eben darum mußte die Kugel aus einer ganz anderen Richtung kommen. Trotzdem habe er persönlich nichts zu bereuen. Er hatte so handeln müssen. Sein eigenstes Wesen hätte ihn gedrängt, diesen zum Scheitern bestimmten letzten Versuch zu wagen, und die Möglichkeit des Scheiterns habe er von Anfang an geahnt. Längst glaube er nicht mehr an den Wert des Erfolgs. Für unser Leben könne der Mißerfolg wertvoller sein. Oft offenbare sich der Sinn davon erst sehr spät und unklar, in diesem Fall aber läge er doch ganz offen vor ihnen beiden. Er lächelte ihr zu. Melusine sah ihn überwältigt an, während er ihren Arm an sich drückte.

»Die großen Dinge kommen über uns, Melusine. Wir können nichts anders tun, als ihre Zeichen zu verstehen und sie auszuführen. Ich wünsche mir nichts mehr, sondern ich taste mich von Augenblick zu Augenblick weiter durch das neue Glück. Frage mich nicht, wie das kommt, ich weiß es nicht, ich weiß weniger als ein Kind. Wenn ich zurückblicke auf den Mann Erich Holthoff, dann ist mir, als habe da ein Kind den Erwachsenen spielen wollen. Du hast mir ein Geheimnis offenbart, das ich mein ganzes Leben nur geahnt habe. Früher war meine Liebe nur ein großmütiges Geben aus meinem Reichtum, dich aber liebe ich aus einer inneren Not. Das alles hätte ich nie erfahren ohne Ferdinands Tat. Er hat eine Bresche in die Festung geschossen, in der ich in den letzten Jahrzehnten gelebt.«

Melusine hörte ihm mit namenloser Erschütterung zu.

»Ja, man fühlt, daß du bei den Toten gewesen bist,« sagte sie mit einem Gefühl unheimlichen Schauerns.

Sie war den ganzen Tag über mit Erich beschäftigt, aber in ihren unruhigen Nächten quälte sie dauernd der Gedanke an den gefangenen Ferdinand, sein schreckliches Schicksal, an dem sie sich die Schuld gab. Als in den nächsten Tagen Prinz Amadeus, der in einem nahen Gasthof Quartier nahm, den Kranken besuchte, verabredeten sie die Einheitlichkeit ihrer Zeugenaussage, von der wir bereits berichtet haben. Der Termin des Prozesses in Rolfsburg rückte heran. Melusine war in namenloser Unruhe. Von der Tatsache, daß Ferdinand ihren Revolver auf dem Korridor gefunden hatte, war bei ihrem Verhör nicht die Rede gewesen. Darin aber lag ein für ihn sehr entlastender Umstand. Sie erklärte daher entschieden, als Zeugin bei der Verhandlung erscheinen zu wollen. Erich erschrak einen Augenblick, aber er durfte Ferdinand dieses Vorteils nicht berauben. Sie betonte, daß sie als Ausländerin ja nicht im Verdacht stehe, an seinen Plänen teilgenommen zu haben, überhaupt als Frau und Künstlerin nicht gefährdet sei. So reiste sie denn an dem entscheidenden Tag, ihre innere Erregung kaum verbergend, nach Rolfsburg.


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