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Man hatte die Siesta ziemlich lange ausgedehnt und dann schnell in einem kühlen Saal des Schlosses den Tee getrunken, dann gegen fünf Uhr brachte das Auto die Gäste außer den von Sensburg Gekommenen zur Bahn. Auch die Baronin Querini mußte unter irgend einem Vorwand für einige Tage verschwinden, da Espérance ihrer Verschwiegenheit nicht traute.
Wir wollen nun nicht versäumen, in dieser sich um Vergangenheit und Zukunft drehenden Erzählung, da wir nun schon einmal in Floridsburg sind, im Vorübergehen einer dort lebenden Persönlichkeit zu gedenken, die zwar nicht unmittelbar in unsere Geschichte eingreift, in der jedoch wie ein verwitterter Fels im Strom der Zeit die Vorvergangenheit fortfuhr, sich still zu überleben, wie vom Tode vergessen.
Schon zum Tee war die steinalte Gräfin Olga Stryensky aus ihren Zimmern hervorgekommen, eine Tante der Hausherrin. In dem gelben, wie zu einer Zitrone zusammengeschrumpften Mausgesicht gediehen noch einige behaarte Warzen. Der Besitz der Gräfin im äußersten Ungarn war im Krieg abwechselnd von den Heeren beider Verbände überflutet worden. Sofort hatte ihr Espérance eine Zuflucht gewährt, und nun war es kaum mehr möglich, die hohe Achtzigerin wieder zurückzuverpflanzen, die sich inzwischen an Floridsburg gewöhnt hatte und den stillen Anspruch erhob, hier zu sterben. In erster Ehe war sie mit einem Ungarn, in zweiter mit einem Polen verheiratet gewesen. Jener hatte sie, falls ihre Erinnerung zuverlässig war, vergöttert, der andere, wie man wissen wollte, geschlagen. Beides war nun über ein halbes Jahrhundert her, beeinflußte aber nicht unbedeutend ihre völkerpsychologischen Meinungen. Wir wollen hier lieber übergehen, was sie im allgemeinen gegen das polnische Volk vorzubringen pflegte, nur sagen, daß sich jede Vorstellung, die in dieser alten Seele von Edelmut, Vornehmheit, Güte lebte, irgendwie mit Ungarn verband. Dort hatte sie, von Herkunft ein armes süddeutsches Freifräulein, mit eher weltfremder, ja prüder Erziehung, an der Seite ihres ersten Gatten so glücklich gelebt, daß sie nicht die Zeit fand, seine Sprache zu lernen. Dennoch fühlte sie sich, als sie nach dem Tod des Polen auf ihren ersten Witwensitz zurückgekehrt war, durchaus als Magyarin. Diese eigentümliche Verwandlung ihres nationalen Fühlens hatte merkwürdigerweise nicht ihre glückliche ungarische Ehe selbst, sondern erst die wehmütige Erinnerung daran während der unglücklichen polnischen Ehe hervorgebracht. Jedenfalls war damit der Rahmen einer Traumwelt geschaffen, die sie nun während eines beträchtlichen Lebensrestes in Muße ausbauen konnte.
Espérance empfand sie übrigens als angenehme Hausgenossin. Sie war seelengut, kümmerte sich um nichts, was sie nichts anging und stellte auch keinerlei Ansprüche dank jener Innenwelt, die sie sich selbst geschaffen hatte. Meist erschien sie wohl zu den Mahlzeiten, aber auch dies nicht immer. So hatte sie z.B. das heutige Frühstück im Freien lieber gemieden, obwohl sie eigentlich der Geselligkeit nicht abhold war. In der Regel verschwand sie bald nach dem Essen in ihren bescheidenen, sogar schlecht heizbaren Zimmern, die sie sich aber selbst gewählt hatte und mit einem gewissen Eigensinn nicht mehr hergeben wollte, da in dem ganzen Schloß allein diese Räume einen Blick in die der Pußta entfernt ähnliche Ebene gewährten, während die übrigen Fremdenzimmer gegen den Park und das Gebirge lagen. Was aber ein rechter Magyar ist, kann nicht leben ohne den Blick in die weite Steppe.
In diesen engen Gemächern hatte sich nun Gräfin Stryensky mit Reliquien ihrer ersten Ehe umstellt, von denen sie ein gut Teil bei ihrer Flucht zu retten gewußt; so den Brautkranz, ein Photographiealbum, die Jagdpistolen, eine Zigarrentasche und die letzte Schnurrbartbinde des Verewigten mit blassen Spuren ungarischer Bartwichse. Im Winter legte sie gern etwas von seinem hinterlassen Tabak in die Ofenröhre; der vertraute Geruch schien ihr wie eine übersinnliche Liebkosung aus dem Jenseits, auch sorgten offenbar Feenhände dafür, daß der edle Rest sich niemals ganz erschöpfte.
Tante Olga Stryensky hatte den greisen Koloman mit zu Espérance gebracht. Er war der alte Kammerdiener ihres ersten Gatten gewesen und nach dem Tod des Polen wieder in ihre Dienste getreten. Er kam Espérance sehr gelegen, da im Krieg die jungen Männer ihres Haushalts eingezogen wurden. Zudem war Kolaman die Zuverlässigkeit selbst. Er wußte den Liebhaberwert sehr zu schätzen, den ihm seine alte Herrin gab, die täglich mit ihm über den Toten sprach und seine Meinung darüber hören wollte, was jener wohl hier- oder dazu sagen würde; und je älter Koloman wurde, desto bereitwilliger folgte er ihrer geradezu schöpferischen Phantasie, die aus ihm allmählich ein Sinnbild der Treue machte. Auch er war nun überzeugt, jene kurzen Dienstjahre bei dem Verblichenen, deren er sich, die Wahrheit zu gestehen, im Einzelnen kaum entsann, seien der Höhepunkt und das größte Glück seines Lebens gewesen, der Rest nur ein stilles Trauern um den Heimgegangenen, wobei es ihm übrigens recht wohl erging. Auch Koloman wünschte Floridsburg nicht mehr zu verlassen, obgleich in Gestalt der jüngeren Dienstboten, besonders des ihm in die Seele verhaßten Chauffeurs, auch hier die so schlechte, neue Zeit einzudringen begann.
Eine besondere Freude hatte Espérance Tante Olga gemacht, als sie ihr zum Namenstag ein Grammophon geschenkt mit Platten teils schwermütiger, teils wilder magyarischer Lieder und Tänze. Eine alte Musikdose, die den Rakoczimarsch und den Czardas » Ugyan rozsam szeretsz-e még?« spielen konnte, war allmählich, aber schließlich gänzlich verstummt. Die Zofe der Gräfin hatte es Espérancens Zofe und diese wiederum ihrer Herrin erzählt, sie habe die alte Dame schon mehrfach dabei überrascht – das erste Mal ohne ihren Augen zu trauen – wie sie, über dem Lärm des tobenden Grammophons das Anklopfen überhörend, Czardasschritte versucht habe. Nun war das Rätsel gelöst, durch welchen Zauber sich Tante Olga zeitlebens ihre mädchenhafte Schlankheit bewahrte. Sie hatte offenbar früher schon zu den Klängen der Musikdose getanzt, doch vermochte diese das Anklopfen an die Tür nicht zu übertönen, und so war der geheime Sport verborgen geblieben.
In ihrer Kleidung war Tante Olga würdig und sorgsam. Zu hohen Festtagen legte sie eine szekler Goldhaube und hochrote Saffianstiefel mit Goldschnüren an, die tradionellen Abzeichen der echten magyarischen Edelfrau.
Sie war übrigens dankbar für jedes Wort, das man an sie richtete. Lobte man aber gar Ungarn, wozu Espérance ihre Gäste recht eifrig anzuhalten pflegte, dann leuchteten die alten Augen auf.
Den heutigen Abend hatte sie mit Ungeduld erwartet, denn, wenn sie sich außer für das Land Ungarn, für noch etwas erwärmen konnte, so waren es Personen von königlichem Geblüt. Als sie zum Tee erschien, machte sie vor Prinz Amadeus eine vollendete Hofverbeugung, die ihre czardasgewohnten Glieder seit einigen Tagen vor dem Spiegel etwas geübt hatten, und wollte durchaus, daß er vor ihr die Tür durchschritt, was er aber als Dr. Schenk unerbittlich ablehnte. Als sie ihn nach seinen berühmten Sammlungen fragte, erzählte er ihr verbindlich, daß er gerade daran denke, ein Bild eines jungen ungarischen Malers zu kaufen. Voll Ungeduld wollte sie den Namen wissen, aber dem unseligen Prinzen fiel im Augenblick nicht anders ungarisches ein, als der Name der Stadt Kapos Varosz. »Ja, Kapos Varosz,« wiederholte die Gräfin Olga, »das ist eine gute alte Familie.«
Als sie erfuhr, daß gegen sechs Uhr die Militärs erwartet wurden und dann bis zum Souper verhandelt werden solle, geriet sie in eine gewisse Unruhe. Sie flüsterte schließlich erregt mit Espérance, und diese nahm Erich Holthoff auf die Seite:
»An Sie muß man sich doch heute als Hofmarschall wenden. Haben Sie denn in Ihrem Programm auch die Zeit vorgesehen, wann sich der Prinz umzieht? Wir Frauen müssen das doch rechtzeitig wissen, damit wir uns danach richten können.«
»Umzieht?« lächelte Holthoff.
»Aber Ihre Koffer sind doch hoffentlich aus dem verunglückten Automobil hergeschafft worden?«
»Das wohl, aber was glauben Sie, was zum Umziehen darin ist? Wenn Sie uns anders haben wollen, als wir jetzt sind, können wir höchstens in gamsledernen Hosen und mit nackten Knien kommen. Gebirgskleidung haben wir auf alle Fälle bei uns, da wir bei gutem Wetter morgen früh mit Fräulein von Kaden auf den Niederkofl wollen, sie war noch nie im Hochgebirg.
»Gut, daß Sie mir das sagen. Dann können wir natürlich auch nicht in Abendtoilette erscheinen.«
»Aber ein bißchen hübsch machen dürfen Sie sich schon. Sie wissen, wie gern er das hat. Tante Olga soll ruhig ihre Szekler Goldhaube aufsetzen.«
Espérance machte dieser gleich Mitteilung von dem Gespräch. Über das zitronengelbe kleine Antlitz verbreitete sich der Schatten schwerer Enttäuschung. Gräfin Olga besaß nämlich, seit einem Jahrzehnt unbenutzt, ein in Paris bei demselben Künstler, wie das der Kaiserin Augusta, gearbeitetes emaillertes Dékolleté, wie es alte Damen anzulegen pflegten, die höfisches Zeremoniell zu ewiger Jugend verpflichtete. Gräfin Stryensky hatte es noch einmal einige Jahre vor dem Krieg in Schönbrunn getragen und dann als Erinnerung an ihre unwiderruflich allerletzte Jugend ihren Reliquien eingeordnet. Da sollte sich nun heute eine Gelegenheit bieten, es doch noch einmal zu Ehren des Prinzen Amadeus hervorzuholen. Dieser Traum war nun vernichtet. Zum erstenmal fühlte Tante Olga, welche Werte eigentlich durch die Revolution endgültig zerstört waren, verschwand in ihren Zimmern und ließ sich zum Souper entschuldigen. Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen, einen königlichen Prinzen und seinen Minister in gamsledernen Hosen und mit nackten Knieen soupieren zu sehen. Koloman gab ihr vollkommen recht.